Mönch und Krieger
Mein Lied »Irgendwann« schrieb ich 1989. Es ist ein sehr heiteres, ein lebensfrohes Lied, wie viele meiner Arbeiten als Liedermacher
in den 70ern und 80ern. Dieser Überschwang der Lebenslust, der Übermut der Selbstoffenbarung warfen aber schon
damals einen beträchtlichen Schatten. Eine Reihe schmerzhafter Erfahrungen hatte deutlich gemacht,
dass hinter dem extrovertierten Genussmenschen Wecker eine handfeste Depressionsneigung lauerte.
Davon legt ein Lied Zeugnis ab, das ich 2001 auf der CD Vaterland veröffentlicht habe.
Du spürst, sie will, dass man sich stellt,
vor allem dem, was nicht gefällt,
und du erkennst bald, deine Seele ist nur Leergut.
Wohin du flüchtest – du verbrennst,
wenn du sie nicht beim Namen nennst,
die Schwester deines Glücks – die Schwermut.
Eugen Drewermann nannte die Schwermut »die Schwester des Glücks« – eine Formulierung, die ich dann für mein Lied übernahm.
Wieder einmal wurde mir erst durch das Nachdenken über spontan entstandene, eigene Texte ein bisher unbewusst gebliebener
Seelenanteil deutlich. Bei »Mönch und Krieger« war es genauso. Erst nachdem ich die Formulierung aufgeschrieben
hatte, wurde mir nach und nach klar, dass beide Begriffe sehr präzise ein Spannungsfeld innerhalb meines
Charakters erfassen. Als »Dichotomie« bezeichnet man ja die Aufteilung eines Bereichs in zwei komplementäre Begriffe:
Jeder Begriff hat seine eigene Bedeutung. Und sie bilden trotz der Gegensätzlichkeit eine Einheit.
Dichotomien ziehen sich – im Rückblick – durch fast alles hindurch, was ich geschrieben habe. »Sei ein Heiliger, ein
Sünder, gib dir alles, werde ganz!«, heißt es in einem meiner neuen Lieder. Bezeichnenderweise steckt
in dessen Titel wie der ein Gegensatzpaar: »Wut und Zärtlichkeit«. Die Betonung liegt dabei immer beim »und«, nicht beim »oder«.
Gegensätzliche Kräfte sind in uns wirksam. Es kommt nun nicht darauf an, sich für einen der beiden Pole zu entscheiden –
auch nicht darauf, zur Mitte zu gelangen, also »durchschnittlich« zu werden –, vielmehr geht es darum,
beide Seiten zuzulassen und zu leben. Mir scheint das im Rückblick ein zentrales Thema meiner Person zu sein.
Bin ich also, wie der »Dumme Bub« in einem meiner älteren Lieder, schizophren? Oder besitze ich nur das,
was gelehrte Psychologen einmal »Ambivalenztoleranz« genannt haben: die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten –
auch bei sich selbst?
Um nun zum Mönch und zum Krieger zurückzukommen: Die eine Gestalt – der Krieger – scheint unangemessen für jemanden,
der sich in der Öffentlichkeit oft als überzeugter Pazifist bezeichnet hat; die andere Gestalt – der Mönch – mag nicht
wenigen als Selbstcharakterisierung meiner Person überraschend, ja absurd erscheinen. Trotzdem: Ich trage beide in mir.
Und beide sind in jüngerer Zeit wieder stärker in mein Bewusstsein getreten. Ja, vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen,
in der ich diese Zweit- und Drittpersönlichkeiten noch intensiver ausleben muss.
Manche Menschen nehmen die verschiedenen Aspekte ihrer Persönlichkeit ja derart intensiv wahr, dass sie sich mehrere
zusätzliche Namen geben. Etwa Fernando Pessoa, der Autor vom grandiosen Buch der Unruhe. Er veröffentlichte vornehmlich
unter den Heteronymen Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos. Oder Kurt Tucholsky, der als »Tiger, Panther & Co.«
Zeitschriftenkolumnen mit unterschiedlichen Namen aus unterschiedlichen Perspektiven schrieb. Oder mein Freund und
Koautor des »Aufrufs zur Revolte«, Prinz Chaos II., der über mindestens vier verschiedene Künstlernamen verfügt.
Für mich selbst habe ich entschieden, zu meinem Namen zu stehen – ohne anderen natürlich das Recht abzusprechen,
den ihren zu ändern. An dem Grundsatz »Sei ein Heiliger, ein Sünder, gib dir alles, werde ganz« ist mir besonders wichtig,
dass ich in all diesen Extremen immer ich bleibe. Da gibt es keinen »Dr. Jekyll«, bei dem von Zeit zu Zeit »Mr. Hyde« durchbricht.
Und obwohl ich diesen Mr. Hyde-Aspekt in mir natürlich kenne, habe ich in einem langen, teilweise schmerzhaften
Erkenntnisprozess durchlaufen müssen: Das ist gar kein anderer, das bin auch ich. Ich bin kein Psychiater, aber ich
kann mir vorstellen, dass bestimmte Neurosen auch daher rühren, dass man das Andere, Bedrohliche, das man an sich
wahrnimmt, nicht als ein Eigenes akzeptieren will, dass man es abdrängen möchte, nach dem Motto:
»Dieses Schreckliche, das kann ja nicht mehr ich sein, das muss ein anderer sein, dem ich einen anderen Namen gebe.«
Im Jahr 1989 also, als ich mit Wolfgang Dauner und dem Programm »Stilles Glück, trautes Heim« auf Tournee war, habe ich,
zuerst eher unbewusst, begonnen, diese Zerrissenheit in mir, diese »Dichotomien«, zu erkennen. In der Formulierung
»Mönch und Krieger« habe ich mit diesen Persönlichkeitsanteilen kokettiert, sie jedoch noch nicht vollständig akzeptiert.
Viel später, im Jahr 2011, wurde mir dann der Titel eines neuen Liedes, einer CD und einer Tournee praktisch in den Schoß gelegt:
»Wut und Zärtlichkeit«. Ich sprach öffentlich über meine Zerrissenheit, über meine Sehnsucht nach einer liebevolleren,
zärtlicheren Welt und über den wachsenden Zorn über die politischen Verhältnisse. Eine Hörerin schrieb mir damals
auf Facebook: »Aber Konstantin, Wut und Zärtlichkeit, das gehört doch zusammen.«
Heute glaube ich, dass ich mit »Wut und Zärtlichkeit« etwas ganz Ähnliches meinte wie mit
»Mönch und Krieger«. Vielleicht sogar im Kern das selbe. Der Unterschied ist nur: Jetzt konnte ich ganz bewusst
beide Pole in mir zulassen.
Der Mönch und der Krieger, einträchtig in einer einzigen Person vereint – das erscheint wie eine Utopie. Ebenso
utopisch mag es anmuten, sich eine Welt zu denken, in der spirituelle Versenkung ebenso ihren Platz hat wie der
aktive Einsatz für eine gerechtere Welt. Vielleicht ist die Versöhnung von Gegensätzen ja das Utopische schlechthin,
scheinbar am weitesten entfernt von jeglicher Realisierbarkeit im Jetzt. Warum, so werde ich oft gefragt, strecke
ich mich so gern nach dem vermeintlich Unmöglichen aus, anstatt das Mögliche in kleinen Schritten zu tun?
Nun, abgesehen davon, dass ich gegen Verbesserungen in kleinen Schritten absolut nichts einzuwenden habe,
liegt die Antwort auf diese Frage sicher wieder im speziellen Zuschnitt meiner Persönlichkeit.
Das Herzstück dieses Buches, so glaube ich, ist mein lebenslanges Suchen nach dem Wunderbaren,
die Sehnsucht nach der Rückkehr in meine geistige Heimat. Es fällt mir schwer, diese Heimat genau zu
definieren, wohl aber habe ich sie in meinen Liedern immer wieder umkreist und – wie ich hoffe – erahnbar gemacht.
Das meiste, was ich geschrieben habe, hat wenig mit der Rolle zu tun, die ich als Person in der Gesellschaft ausfülle,
jedoch viel mit der eigentlichen Quelle, aus der ich schöpfe. Es ist diese Quelle, in der ich mich geborgen und mit der
ich mich verbunden fühle. Sie ist es, die ich immer aufs Neue suche: in meinem Leben und in meinen Liedern.
Und um von vornherein wenigstens in einem Punkt keine Missverständnisse aufkeimen zu lassen: Ich bin kein studierter
Philosoph, auch wenn ich es ein paar Semester lang mal versucht habe. Ich bin kein Wissenschaftler und schon gar kein
in irgendeiner Weise Erleuchteter. Wenn ich in diesem Buch über Erkenntnisse und gewisse Lebensweisheiten,
über Spiritualität, Politik und menschliche Abgründe sinniere, dann schreibe ich nur über Erfahrungen,
die ich selbst gemacht habe. Sie sind nicht aus zweiter Hand und erheben keinen Anspruch auf allgemeine
Gültigkeit. Etwas anderes würde ich mir gar nicht erlauben.
Manche Lehren konnte ich aus meinen Erfahrungen für mein Leben ziehen, andere Erkenntnisse hätte ich viel konsequenter
in die Tat umsetzen müssen. In gewissen Bereichen meines Lebens war ich leider nie besonders willensstark und
oft gefährdet. Daran hat sich bis heute nicht allzu viel geändert. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb –
halte ich das Selbstreflektieren gemeinsam mit dem Zweifel für die vielleicht wichtigste menschliche Fähigkeit.
Und wenn ich den einen oder anderen damit zum Nachdenken über sich selbst anregen kann, dann hat
dieses Buch seinen Zweck erfüllt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mein Unbewusstes oft genau das
ausgeklammert hat, was ich mir unbedingt hätte bewusst machen sollen. Es bedurfte dann oft gewisser
Einschläge des Schicksals zum richtigen Zeitpunkt, um mich dazu zu zwingen, genau an diesen Punkten deutlicher hinzusehen.
Vielleicht gelingt es diesem Text ja, für einige ein Ratgeber zu sein, so wie viele meiner Erlebnisse und
Schicksalsschläge zum Ratgeber für mich selbst wurden. Und vielleicht ist es ja für manche, die meine Lieder
kennen, interessant, einiges über die Hintergründe und Entstehungsgeschichten meiner Gedichte und Songs zu erfahren.
Ich möchte meinen Leserinnen und Lesern zum Schluss einen Satz von C. G. Jung mit auf den Weg geben,
den er im Alter von 82 Jahren in sein Tagebuch schrieb. Er gilt ohne Einschränkungen auch für mich:
»Im Grund genommen sind mir nur die Ereignisse meines Lebens erzählenswert, bei denen die unvergängliche Welt
in die vergängliche einbrach. Neben den inneren Ereignissen verblassen die anderen Erinnerungen, Reisen, Menschen und
Umgebung. Aber die Begegnungen mit der anderen Wirklichkeit, der Zusammenprall mit dem Unbewussten haben sich
meinem Gedächtnis unverlierbar eingegraben. Da war immer Fülle und Reichtum, und alles andere trat dahinter zurück.«
Konstantins ergreifende Lieder für mich sind "Oma"
und "Für meinen Vater"
Gegen meinen Berufsstand scheint er grundsätzlich eingenommen:
"Der Herr Richter" und "Sehr verehrter Herr Richter"
Schauerlich: Heute aktuell wie 1989 oder 1993 oder 2001: Sie nennen sich neu und entsteigen doch alle
dem alten Morast, dem bekannten: "Sturmbannführer Meier"
oder "Die Ballade von Amadeu Antonia Kiow" oder
"Gespräch mit Willy"
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