Zerstöret das Letzte
die Erinnerung nicht
Stoff für Holocaust-Leugner?
Hintergrund Dr. Henry Selwyn
(Die Ausgewanderten)
Sebalds Biografin Carole Angier ('Speak, Silence' )
verfolgt die Spuren Selwyns, wird fündig und stößt auf das, was sie immer wieder bei den Vorbildern seiner Fiktionen entdecken sollte:
Sie alle sind wütend. Die Kraft von Sebalds Geschichten, ihre Treue zu den Modellen und vor allem der Realitätsanspruch, den die Fotografien implizieren,
verschlimmern das noch ...
Ende 2014 besucht Angier Prior's Gate, das anders heißt und nicht in Hingham, sondern in Wymondham in der Vicar Street liegt, wie Schütte schon 2020
in seiner umfassenden Biografie Sebalds schreibt (S. 175), der auch die Tochter Selwyns zitiert, die empört ist, dass ihr Vater Gegenstand einer
literarischen Erzählung geworden sei.
Angier findet den großen Eichentisch aus Dr. Selwyns Zeiten wieder, den Salon der kretischen Diashow mit seinem großen Kamin und Spiegel,
den Gemüsegarten, den Tennisplatz an der großen Zeder. Christine: "Es war keineswegs eine Wildnis, meine Schwiegereltern hatten immer Gärtner gehabt,
und es war ein sehr zivilisierter Ort."
Keines der Fotos zeigt den wirklichen Garten. Christine: "Ich habe die alten Dienstbotenglocken an der Wand gelassen, ich habe es nicht
übers Herz gebracht, sie zu entfernen. Das Dienstmädchen meiner Schwiegereltern, das Sebald Elaine nannte, war fast genau so, wie Sebald sie beschrieben hat,
ein guter Stoff für Satire."
Angier: "Das verrückte Badezimmer, das Sebald beschrieben hat, auf gusseisernen Säulen - das war doch sicher eine Fantasie?"
"Er hat übertrieben, wie immer - es gab keinen Steg, nur einen kleinen Absatz. Aber sonst war das Bad genau so, wie er es gesagt hat. Es wurde hinzugefügt,
als die Wohnung gebaut wurde, weil es in der Nähe kein Innenbad gab. Es war ein verrücktes Bauwerk, aber es hat fast 70 Jahre gehalten."
Sebalds Vermieter sah nicht nur englisch aus, er war auch durch und durch englisch. Er war in Cheshire geboren, nicht in Litauen, und hatte
keinen einzigen jüdischen Knochen in seinem Körper.
Der wahre Name des Vermieters war Philip Rhoades Buckton, sein Vater war Geistlicher; Rhoades wurde 1901 geboren (also 9 Jahre jünger als Dr. Henry Selwyn),
war Ende 60, als Sebald ihn kennenlernte. 1946 kauft Dr. Buckton Abbotsford und praktiziert dort über 20 Jahre lang als beliebter Arzt.
Er und Mädi lebten nicht das prunkvolle Leben, das Sebald den Selwyns gab, sondern ein zivilisiertes.
Keiner in seiner Familie sieht in Rhoades die Melancholie, die Sebald in Dr. Selwyn beschreibt.
Sein Freund Ted Ellis, eine bekannte Persönlichkeit aus Norfolk, hat Sebald sehr getreu in Edwin Elliott verwandelt. Er und Rhoades unternahmen zwei
gemeinsame Botanik- und Entomologiereisen nach Kreta.
Dr. Buckton und seine Frau, ebenso wie Dr. Selwyn und seine Frau, entfernten sich langsam voneinander.
Niemand weiß, warum Rhoades Buckton sich erschossen hat. Er hat keine Nachricht hinterlassen und sich nie bei jemandem beschwert.
Tessa, eine Enkelin, erinnert sich sehr genau. Ein Freund rief an und sagte: "Hast du dieses neue Buch gesehen? Es handelt von deinem Großvater!"
Tessa stürzte los und kaufte 'Die Ausgewanderten' und war entsetzt. Ihr Großvater, Mädi, Eileen, sie alle waren unverwechselbar -
aber, so schien es ihr, auf eine schreckliche Art beschrieben. Die Ehe ihres Großvaters ging in die Brüche, er hatte in seiner Jugend eine höchst merkwürdige
Beziehung zu einem älteren Mann gehabt...
"Er wurde als elender alter Knacker dargestellt und seine Frau als Schlampe", sagte Tessa, "ihr schöner Garten
als verfallene Wildnis, ihr Haus als Symbol der Ausbeutung. Ihr Großvater war der freundlichste, großzügigste Mann, den sie je gekannt hatte,
Sebald war zu Gast in seinem Haus, und was tat er? Er hat herumgeschnüffelt, sich Notizen gemacht und nie ein Wort gesagt."
Rhoades war geistreich und witzig, ganz anders als der düstere Dr. Selwyn.
Sebalds Haupterfindung, das Element des Jüdischen, hat mehr mit Mädi als Rhoades zu tun: eine ihrer Großmütter war
Halbjüdin, was Mädi selbst zu einer Achteljüdin machte. Sie hat das nie erwähnt, und als Tessa sie einmal danach fragte, tat sie so, als wüsste sie es nicht.
Sie hätte herzlich über die Vorstellung gelacht, dass jemand ihren Mann für einen Juden aus Grodno hielt.
Sie lebt noch, als 'Die Ausgewanderten' 1996 erscheint, und Tessa zeigt es ihr eines Tages. Mädi blättert eine Weile in dem Buch, dann gibt
sie es mit einem abweisenden Winken zurück. "Das bin nicht ich".
2010 fragt Tessa den Schriftsteller Will Self, woher er die Information habe, dass Dr. Selwyn auf einem "echten jüdischen Emigranten" basiere.
Self verweist auf ein Interview Sebalds mit Angier, wo Sebald behauptet, dass das Modell für Dr. Selwyn ein echter jüdischer Emigrant ist, der ihm wirklich erzählte,
dass er aus Grodno stamme .
Für Angier ist klar, dass Sebald wollte, dass die Leser seine Geschichte glauben, und habe sie hierzu benutzt. Niemand habe uns so sehr vor Augen führen wollen,
was geschehen war wie Sebald. Und nun wolle sie zeigen, wie er in seinem Eifer den Leugnern des Holocausts geradezu den Boden bereitet hat.
Anders die Quintessenz Schüttes:
"Das Ende wirkt unausweichlich angesichts dessen, was wir über Selwyns Schicksal wissen, doch bleiben letztlich mehr Fragen offen, als durch den Text
beantwortet werden. Eine geradezu ins Auge stechende Lücke repräsentieren die Kriegserfahrungen Selwyns, der zwar den Ersten Weltkrieg miterlebte, darüber
aber kein Wort verliert, ebenso wie er über das Spätere nur hinwegwischt mit der Bemerkung: ,,Die Jahre des zweiten Kriegs und die nachfolgenden Jahrzehnte
waren für mich eine blinde und böse Zeit, über die ich, selbst wenn ich wollte, nichts zu erzählen vermöchte.“
Dass solche Lücken vom Erzähler nicht durch Spekulationen oder Mutmaßungen gefüllt werden, repräisentiert eine für Sebald typische narrative Strategie,
besonders in Die Ausgewanderten: Die Rekonstruktionen der einzelnen Schicksale spüren einen traumatischen Punkt auf, machen die Verletzung der
Personen sichtbar, aber eben nicht völlig begreifbar, so dass der Leser sie als ,erledigt‘ ablegen könnte."
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siehe auch
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