Uwe Schütte


Schüler Sebalds und profunder Kenner von Leben und Werk seines zur Unzeit verstorbenen Doktorvaters - von ihm stammt die erste Sebald-Monographie.



In packender Sprache geschrieben, fern von germanistischem Fach-Chinenisch - das auch Sebald verhasst war - behandelt Uwe Schütte kompakt und dennoch umfassend Werk und Leben. Das Buch bietet die vollständige Analyse der Werke W. G. Sebalds und liefert viele biografische Informationen.

Spät, aber nicht zu spät, legt er uns auch

vor und bringt Licht in einen unbeleuchteten Winkel von Sebalds Werk.
Wie das Elementargedicht "Nach der Natur" noch immer ein Schattendasein führt, so ist Sebalds Lyrik bis zu den "Figurationen", erschienen 2014 bei Edition Isele, ein großer weißer Fleck auf der Weltkarte der Literatur gewesen, den Sebalds famulus nun in alle Himmelsrichtungen durchkreuzt. Von seiner Expedition, die ihm Frau und Sohn im Sommer 2013 zugestanden haben, bringt uns Schütte unveröffentlichte Schätze sowie wunderbare und neugierig machende Funde mit ...

Taking a closer look at the poems, which I had so far only considered to be appendixes to the prose texts, I discovered that they have considerable merits independent of the prose books.

Versäumt

wie Kafkas Aufsatz
über Goethes entsetzliches
Wesen




Kongeniale Ergänzung von Schüttes Sebald-Monografie ist dieses 2014 erschienene 600-Seiten-Werk, auf das alle Sebaldianer gewartet haben: Eine Würdigung der pathografischen Literaturkritik, die, worauf Schütte sowohl in seinem trefflichen Essay zu Sebalds "Negern" wie auch anderswo immer wieder hinweist, überzeugte Sebaldianer als unliebsamen Aspekt ausblenden. Und deswegen mit Sebalds Texten genau das passierte, was er immer an der Germanistik beanstandet hat. ... Immer wieder taucht in Sebalds Werk Inkommensurables auf, das gelegentlich auch für Verwunderung oder Irritation sorgt ... Und dies mit einer Unbeirrbarkeit, die von fast schon provozierender Insistenz ist.
All diese Punkte holt Schütte hervor, erläutert sie, wägt ab und kommt - getragen von einem breiten Wissen und umfänglichen Recherchen - zu neuen, überzeugenden Ergebnissen. Beispielhaft im hervorragend - von jedermann - gut lesbaren Stil geschrieben, bringt er Offenbarungen und Erkenntnisse zu Sebalds literturkritischem Werk, das ebenso lesenswert ist - auch das zeigt das Buch, wie sein literarisches.

Die Grundfragen unseres Daseins, dessen unzählige Facetten Sebald mit seinem Gesamtkunstwerk so faszinierend darstellt, bringt er in seinem Essay zum Scomber scombrus auf den Punkt:
Wahrscheinlich sind die Zusammenhänge zwischen dem Leben und Sterben der Menschen und Makrelen weitaus komplizierter, als wir erahnen (Campo Santo S. 212).
Schütte resümiert in "Interventionen.":
Die Frage bleibt offen. Denn irgendwann kann auch die Kunst nicht mehr weiterhelfen. Und wir uns sowieso nicht. ...
Vielleicht ist das ohnehin besser so. Finis.

Im Mittelpunkt steht Sebalds Literaturkritik, von der streitbaren Magisterarbeit über Sternheim bis zum polemischen Essay zum Versagen der deutschen Literatur vor dem Luftkrieg. All das wird zur intellektuellen Biografie des aus dem bayerischen Voralpenkaff ins provinzielle East Anglia entlaufenen nobelpreisverdächtigten Querdenkers ...
Schütte hat das Ziel erreicht, das er im PS und Bibliografischen Hinweis darlegt und sich setzt:
Die weitgefächerte essayistische Kehrseite der erzählerischen Literatur in ihrem ganzen Umfang, in ihrer ganzen Bedeutung kenntlich zu machen, hat sich diese ausgedehnte Studie zum Ziel gesetzt. Damit nicht nur die eigentliche Grundlage der literarischen Prosa erkennbar wird, sondern ebenso als notwendige und schon so lange überfällige und nun hiermit vorliegende Intervention zum Verständnis der intellektuellen Biografie und zur Konturierung des schriftstellerischen Profils von W. G. Sebald.

Schütte breitet das größtenteils kaum bekannte Fundament aus, auf dem das Werk Sebalds ruht, des wohl anerkanntesten und zugleich umstrittensten deutschen Schriftstellers des späten 20. Jahrhunderts, und bietet erstmals einen so tiefschürfenden wie umfassenden Überblick über die Literaturkritik Sebalds, in den er unzählige unveröffentlichte Archivdokumente einbezieht und uns die intellektuelle Biografie eines aus der bayerisch-alemannischen in die ost-anglikanische Provinz entlaufenen Germanisten-Genies aufzeigt: Max, der im kritischen Widerspruch zu seiner Wissenschaft selbst zum Schriftsteller wird.

Wieder ein echter "Schütte".
Sebaldianer, die Sekundärliteratur interessiert, kennen das: Die überwiegende Mehrheit dort dreht sich immer um dieselben Schlagwörter Trauma, Holocaust, Intermedialität, Erinnerung, Melancholie.
Uwe Schütte interveniert, legt den Schwerpunkt auf die Entstehungsgesichte der Texte Sebalds und rückt seine Entwicklung zum literarischen Autor in neues Licht. Als Herausgeber versammelt er Autoren, die auch Leser jenseits eingeweihter Germanistenkreise fesseln. Da ist Sven Meyer ("Koninzidenzpoetik"), Schütte selbst (zur Szenenreihe über Kant ), Peter Schmucker (zu Chateaubriand - den Betreiber der Website freut Anm. 13 auf S. 147! ), Kay Wolfinger (zu Sebalds Allgäuer wahrer Heimat), Christoph Steker (zu Sebalds Pflanzen - siehe auch hier ), Ulrich Dronske (Spiegelungen Döblins in Die Ausgewanderten) usw. usw ...
Für des Englischen Mächtige versammelt Schütte - er selbst lehrt seit vielen Jahren im Brexitland - eine Reihe von Beiträgen internationaler Gelehrter.
Den Band schließen persönliche Erinnerungen an Sebald.
Exemplarisch: Kay Wolfinger hat sich umgehört im Allgäu und Leute getroffen, die unseren Autor "Sebe" nennen, hat in Schülerzeitungsbeiträgen geforscht und erste Anzeichen entdeckt für sein Unwohlsein darüber, in Deutschland zu leben.

Florian Radvan:
Zurück zum Lehrer W.G. Sebald. In einen seiner Prosatexte hat er das Idealbild des Pädagogen eingeschrieben, nämlich in Paul Bereyter aus den vier langen Erzählungen in Die Ausgewanderten. Wie Bereyter war Sebald ein zurückhaltender, aber ungemein charismatischer und einflussreich Unterrichtender, „halb der Klasse, halb dem Draußen zugewandt“.

Ralf Jeutter:
Sebald was a unique man, the type one meets only once or twice in a lifetime, a man whose every action speaks of something expressing the whole of the man. Ironically, being so obsessed with the passing of time and death, Sebald himself had a timeless and unchanging quality to him. Once he turned grey 'overnight, literally', as he liked to say, he was always old. His heavy South German accent could have suggested that he had just left the Allgäu and arrived in England, if it wouldn't have been for the flawless and elegant English he spoke, always measured, thoughtful, unhurried. For reasons I could not explain he always reminded me of an old, barnacled barge, which had been, at some point, hurled out of deep water.


Hier Schüttes erstes Buch in Englisch - obwohl er seit 1992 überwiegend dort lebt und arbeitet, hat er dassselbe Gefühl wie sein großer Lehrer Sebald: I don't in the least feel at home in it. I use it but it sounds quite alien to me.

W. G. Sebald was a literary phenomenon: a German literary scholar working in England, who took up creative writing out of dissatisfaction with German post-war letters. Within only a few years, his unique prose books made him one of the most celebrated authors of the late twentieth-century. Sebald died prematurely, aged 57, after the publication of his most celebrated prose fiction Austerlitz. This accessible critical introduction, written by a leading expert, highlights Sebald’s double role as writer and academic. It discusses his oeuvre in the order in which his works were published in German in order to offer a deeper understanding of the original development of his literary writings. In addition to concise but incisive interpretations of the main publications, Schütte demonstrates how Sebald’s critical writings (most of which still await translation) fed into his literary texts and concludes his study with a perceptive assessment of Sebald as a cult author.



Schüttes - wohl des profundesten Kenners von Sebalds Wesen und Werk - 2019 erschienenes sechstes Buch über den großen Literaten und Schriftsteller:

Was es so absolut lesenswert macht, sind einmal die vielen vielen Details aus persönlichen Begegnungen mit Sebald und zum anderen die Aufzählung der unzähligen Fehlleistungen von Kritikern und Kollegen sowohl des englisch- wie deutschsprachigen Literaturbetriebs bei der Beurteilung Sebalds, die Schütte mit der gleichen Gnadenlosigkeit aufdeckt und schildert wie sein Meister mit Interventionen und Polemiken von Beginn des Germanistikstudiums an .
In den sieben Essays nähert sich Schütte den Themenkreisen Heimat, Bäume und Tiere, Großvater, Universität, Feuer und Nachruhm an. Die vielen Originalzitate in Englisch sind nach Inhalt und Tonart für den deutschen Leser häufig unglaublich ...
Alles in allem für Sebaldianer ein Genuss!

Am 25.8.2019 schreibt die taz:

Im angelsächsischen Raum dominiert das Narrativ vom „guten Deutschen“ W. G. Sebald, der nach England auswanderte und sich der historischen Schuld seiner Landsleute qua einfühlsamer Erinnerungsprosa stellte. Etwas anders ist es in Deutschland. Viele ärgern sich über Sebalds wiederholte Polemik gegen einheimische Autorenprominenz.

So hat 2012 Fridolin Schleys Dissertation „Kataloge der Wahrheit“ versucht, dem 2001 verstorbenen Störenfried ein eigennütziges Verhalten feldstrategischer Art nachzuweisen. Nur scheinbar der Wahrheitsliebe verpflichtet, sei es dem in Norwich lehrenden Literaturwissenschaftler beim Abwerten kanonisierter Autoren in Wirklichkeit um Selbstinszenierung als akademischer Ketzer gegangen. Und später, in seiner Doppelrolle als Germanist und Schriftsteller, darum, durch Herabsetzung von Erzählern der Gruppe 47 die legitime Holocaustliteratur zu monopolisieren.
Ausgeweitet hat die Vorbehalte vor drei Jahren der Literaturwissenschaftler Mario Gotterbarm. Für ihn ist das Image vom sensiblen Erinnerungskünstler nicht nur deshalb falsch, weil Sebalds Literaturkritik den betroffenen Schriftstellern „hermeneutische Gewalt“ antat. Auch in den Erzählungen habe der vermeintliche Moralist Gewalt ausgeübt – indem er als impliziter Autor ins Leben jüdischer und nichtjüdischer Realpersonen einwanderte, ihr biografisches Material auf „unmoralische Art“ verbog.
Schweres Geschütz. Bei so viel Eifer findet man eine Stelle im neuen Essayband von Uwe Schütte zu Sebald besonders interessant: „Für eine Dissertation, so erklärte mir Sebald, sei es eine gute Strategie, sich einen Autor zu suchen, den man verachte; dies nämlich gebe Energie, sich der lustvollen Demontage von dessen Werk zu widmen.“ Wenn jemand diesen Rat beherzigt hat, dann die Verächter W. G. Sebalds. Klassischer Bumerangeffekt, der Getadelte verurteilte ja selbst gern pauschal.

Wie aber verhält sich Schütte zur heillos polarisierten Diskussion um seinen Doktorvater? Klug, weil er sowohl zum Abfälligen als auch zum Hagiografischen Abstand hält, lieber die Punkte herausmeißelt, die Gegner wie Verehrer übersehen. Den Unparteiischen gibt er nicht, begründeten Respekt für seinen Lehrer an der University of East Anglia zeigt er durchgehend. Und doch gleiten die sieben Essays nie ins Süßliche ab, sieht er Stärken und Schwächen eines Œuvres, das ihm, merkt man schnell, vertraut ist wie das eigene Wohnzimmer.


Nehmen wir die berüchtigte Abrechnung mit Alfred Andersch – 1993 warf Sebald dem Schriftsteller vor, sein Verhalten während der NS-Zeit beschönigt zu haben. Zu Recht betont Schütte, dass sie bei allem Unzutreffenden und Überzogenen einen wahren Kern enthielt, nur Sebald den Hang der 47er-Ikone erkannte, politisch und moralisch kompromittierendes Verhalten im NS später umzuschreiben. Bestätigen lässt sich das zumindest für die extrem selektive Selbstdarstellung in „Die Kirschen der Freiheit“ und das Widerstandsmärchen „Sansibar“. Sebalds Konkurrenzverhältnis zur Nachkriegsliteratur deutet Schütte vorteilhafter als die Gegner: In der Anklage gegen Schriftsteller, die ihm missfielen, ging der Herausforderer oft zu weit, doch legte er so Fehler offen, die anderen Literaturwissenschaftlern nie aufgefallen waren. Auf den Umgang mit Andersch und seine bis heute eingeschnappte Gemeinde passt der Befund.

Aber ihn aufs Bekritteln von Jurek Becker übertragen? Tut Sebald „Jakob der Lügner“ als „melodramatischen Genreroman“ ab, scheint mir das weniger von kompromissloser Wahrheitssuche zu zeugen als von Anmaßung, Preis eines normativen Literaturverständnisses. Abgesehen davon, dass die abschätzige Etikettierung den Plot des Erfolgswerks verzerrte, beurteilte der Kritiker es nach einem Dokumentarismusideal, das Becker gar nicht beansprucht hat.
Einen Ghetto-Überlebenden über den wahrhaft realistischen Ghetto-Roman belehren zu wollen, war keine gute Idee.

Andererseits überzeugt Schütte, wenn er die produktive Seite normativer Ästhetik hervorhebt. Was Sebald den meisten deutschen Nachkriegsautoren absprach, die angemessen drastische Wiedergabe des Bombenkriegs, lieferte er in „Luftkrieg und Literatur“ selbst,

durch eine furiose Beschreibung des Hamburger Feuersturms im Juli 1943. Fluchtpunkt seiner Unduldsamkeit war das Bessermachen, könnten Skeptiker einmal bedenken.

So antizyklisch wie die tendenzielle Ehrenrettung des Literaturkritikers wirkt Schüttes Biografismus. Er erprobt die vom Lehrer geschätzte, aber im literaturwissenschaftlichen Mainstream verpönte Methode, Literatur als Ausdruck der Lebensumstände des Autors zu verstehen. Sie auf Sebalds Werk anzuwenden erweist sich als ergiebig, es korrigiert vorschnelles Schubladisieren.

Der zentrale Punkt im Leben von W. G. Sebald, lernen wir, ist der Tod des geliebten Großvaters im April 1956. Nicht der Holocaust, wie viele meinen, sondern der nie überwundene Verlust von Großvater Josef Egelhofer, eine Art Ersatzvater für ihn, bildet das zur literarischen Trauerarbeit führende Trauma. Erhärtet wird das durch aussagekräftige Zitate besonders des späten Sebald.
Obendrein hat Schütte im Marbacher Archiv den unveröffentlichten Jugendroman aufgestöbert; Vorname des autobiografischen Protagonisten: Josef. Zeitlebens, so die These, bleibt Sebalds Schreiben rückgebunden an die „schreckliche Urszene“ von Egelhofers Sterben, da sie den Schriftsteller erst dazu bringt, sich mit den Verlust­erfahrungen anderer auseinanderzusetzen, der Opfer der Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert. Die paradoxe Haltung des 68ers zu seiner „Schuld“ an den Naziverbrechen entspricht der „Konstellation, die er am Totenbett des Großvaters empfand: schandhafte Schuld über den Tod, für den er doch keinerlei Verantwortung trug“. Plausibel werden die Auswirkungen der Urszene besonders durch die Stärke des Motivs Überlebensscham in „Die Ausgewanderten“.
Tonfall und Vokabular der Sprache Egelhofers fand Sebald in Texten von Autoren wie Adalbert Stifter und Gottfried Keller wieder – dies der Weg zur Schönheit gewollt altmodisch klingender Prosa. Noch folgenreicher, dass Egelhofer auf den gemeinsamen Wanderungen im Allgäu den Enkel in die Mysterien der Natur einführte und Ehrfurcht vor der Kreatur lehrte. Detailliert wie nie lernen wir Sebald als Baumliebhaber und Tierfreund kennen, privat wie literarisch. Wobei nicht nur deutlich wird, dass man der Naturethik in seinen Texten, zuvorderst in „Die Ringe des Saturn“, buchstäblich auf Schritt und Tritt begegnet. „Annäherungen“ unterstreicht, dass die mit ihr verbundene Zivilisationskritik neben dem konsensfähigen Lamento über Industrialisierung als Kahlschlag auch Kontroverses enthält.
Wenn Sebald Schlachthofsterben und Genozid verkettet, industriellen Heringsfang und Holocaust einander annähert, fabrikmäßige Ausrottung als gemeinsamen Nenner beschreibt, hat er – gelinde gesagt – mit Zustimmungsproblemen zu rechnen. Wiewohl Schütte betont, dass die einschlägigen Äußerungen den herzlosen Umgang mit Tieren verurteilen sollen, nicht den Genozid am europäischen Judentum in der Menschheitsgeschichte relativieren, ist es ihm klar: Bereits mit dem Assoziieren, der Verortung des Holocausts in einer umfassenderen Naturgeschichte der Zerstörung, schert dieser Autor aus einem linksliberalen Konsens aus.

Grundgefühl Heimatlosigkeit

Eindringlich schildert Schütte das Leben eines Unzugehörigen, der sich weder in Deutschland noch in England ganz zu Hause fühlte. Obgleich Sebald die Fundamentaldifferenz zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Exil erzähltechnisch meistens beachtete, in „Austerlitz“ verknüpfte er seine Biografie mit der des Folteropfers Jean Améry zu kurzschlüssig, eben weil ihm das Grundgefühl des emigrierten Nazigegners, die Heimatlosigkeit, nicht unbekannt war.
Weitere Einwände: Wie Sebald mit halbfiktionalen Erzählfiguren zu arbeiten, in denen Biografien verschiedener Realpersonen verschmelzen, ist literarisch prinzipiell erlaubt, durchaus nicht unmoralisch. Nur war im Fall von „Austerlitz“ die Abhängigkeit des Protagonisten vom Lebensweg einer bestimmten Person, der Jüdin Susi Bechhöfer, zu stark.

Dass der Autor „die dramaturgisch notwendigen Wiederbegegnungen zwischen dem Erzähler und der Titelfigur als sinnhafte Zufälle verkauft“, macht Schütte auch nicht glücklich. Das Werk hält er für schwächer als die vorherige Erzähl-essays, gemessen am Gros der Gegenwartsliteratur aber immer noch für großartig.
Gespickt ist Schüttes gewandt geschriebenes Buch mit sehr persönlichen Erinnerungen an einen hilfsbereiten und uneitlen Professor – eine ganz andere Darstellung als in der FAZ vor drei Jahren. An einen Querkopf, der am neoliberalen Universitätsregime verzweifelte. Was er 1992 seinem Vertrauten über die Qualität eines Enzensberger-Auftritts zuflüsterte, lesen Sie besser selbst. Nur so viel: Näher als mit den „Annäherungen“ werden wir W. G. ­Sebald wohl nie kommen.





Mit dem Bulldozer durch die Literaturgeschichte
W. G. Sebald als Literaturkritiker und Germanist
von Uwe Schütte



Für nicht wenige Literaturkundige, zumal im angloamerikanischen Bereich, besteht kaum ein Zweifel: W.G. Sebald wird als einer der wichtigsten, womöglich sogar als der bedeutendste Schriftsteller deutscher Sprache im späten 20. Jahrhundert in die Literaturgeschichte eingehen. Das mag nun eintreffen oder auch nicht. Ein deutlicher Indikator dafür ist, neben den zahlreichen Epigonen, sein Status als literarischer Referenz- und Vergleichspunkt. Das also, was einmal Kafka und später oftmals Thomas Bernhard war. Heute gilt Sebald als Maß, an dem Autoren gemessen werden. Und zwar sowohl weltweit als auch unabhängig davon, ob der betreffende Autor Sebald überhaupt gelesen hat.
Hinzu kommt der erstaunlich große Leserkreis außerhalb der professionellen Zirkel von Literaturinteressierten. Darunter wiederum finden sich nicht wenige, die von einer nachgerade fanatischen Anhängerschaft ergriffen sind, wie man das bislang nur von den kollektiv dechiffrierenden Adepten Arno Schmidts kannte. Trifft man als jemand, der wie ich mit Sebald persönlich bekannt war, auf solche Sebald-Gefolgsleute, kommt man sich geradezu wie einer der Apostel vor, um den sich wissbegierige Frühchristen ehrfürchtig scharen.
Der stets bescheidene Meister selbst wäre darüber sicherlich mehr als erstaunt gewesen, denn sein Geschreibsel - wie Sebald seine Texte gerne abwertete - war ihm zunächst vor allem Flucht aus dem geistesabstumpfenden Universitätsalltag. Worum es ihm stets ging - sowohl im literaturkritischen wie literarischen Modus - war anzuschreiben gegen eine deutsche Nachkriegsliteratur, die ihm in vielfacher Hinsicht suspekt und ungenügend erschien. An den deutschen Autoren, die grob gesprochen ins Umfeld der Gruppe 47 gehören, hat er sich sein ganzes intellektuelles Leben lang abgearbeitet. Dass er es dann tatsächlich schaffte, die teils auch tief verachteten Schriftsteller sogar zu überflügeln mit seinen eigenen Büchern, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Er wollte es immer nur anders, besser machen.



Dass der Schriftsteller Sebald im eigentlichen Hauptberuf Germanist war, stellte nie ein Geheimnis dar. Als solchen wahrgenommen hat ihn die germanistische Fachwissenschaft viele Jahre lang freilich kaum. Der mit 22 Jahren nach England entlaufene Auslandsgermanist vermochte sich aus peripherer Position in Deutschland kaum Gehör zu verschaffen. Deswegen wählte er Provokation wie Konfrontation als Weg: Exemplarisch zu beobachten war das, als 1992 seine Polemik gegen Alfred Andersch hohe Wellen schlug. Ende der Neunziger folgte die von ihm initiierte, weitreichende Debatte über Luftkrieg und Literatur, welche nicht ohne Folgen blieb für unser Verständnis der von Sebald beharrlich monierten Versäumnisse der Nachkriegsliteratur. Die erst posthum erfolgte Publikation seiner Streitschrift gegen den Holocaust-Überlebenden Jurek Becker wiederum erstaunte nicht nur jene, die den Verfasser von Austerlitz und Die Ausgewanderten für ihre Zwecke als Holocaust-Autor zu vereinnahmen suchten.
Erst in letzter Zeit begann man ernsthaft, Sebalds literarische Texte in Verbindung mit den literaturkritischen Schriften zu lesen. Das repräsentiert immerhin einen Schritt in die richtige Richtung. Der eigentliche Erkenntnisfortschritt steht aber noch aus: Nämlich vollends anzuerkennen, dass Sebald sein ganzes Leben lang und in erster Linie ein passionierter Verfasser literaturkritischer Schriften war, weshalb die literarischen Texte vor diesem Hintergrund eher als Sekundärwerk erscheinen, in dem er Erkenntnisse umsetzte und Fragestellungen exponierte, die ihn schon seit Jahrzehnten in seinen akademischen Qualifikationsarbeiten wie essayistischen Publikationen umgetrieben hatten.



So erweist sich die von 1970 bis 1973 entstandene Doktorarbeit über Alfred Döblin als wahre Fundgrube dafür, wie man es als Schriftsteller - nach Meinung des Nachwuchsgermanisten - gerade nicht machen sollte. Am prominentesten zeigt sich das in der Darstellung von überbordender Gewalt. Döblin schildert fürchterliche Grausamkeiten im Detail, weil er hoffte, dadurch eine abschreckende Wirkung auszuüben; Sebald aber erachtete dies für höchst verwerflich, weil eine solche Strategie auf die Dauer abstumpft und letztendlich der Glorifizierung von Gewalt - wenn auch unwillentlich - Vorschub liefert. Folglich zog er den Umkehrschluss, dass ein maßloser Gewaltexzess wie der Holocaust eben nicht direkt, sondern nur im Hintergrund, als Anspielung oder in Andeutung, literarisch behandelt werden kann. Sebalds vielgerühmte „tangentielle“ Weise, über das Grauen des 20. Jahrhunderts zu schreiben, hat seine Wurzeln hier und nirgendwo anders.



In seiner bis Ende der 1960er-Jahre mehrfach überarbeiteten Magisterarbeit über den deutsch-jüdischen Dramatiker Carl Sternheim wiederum findet sich jenes provokative Modell, das direkt bis zu den Polemiken gegen Andersch, Becker et. al. reicht, nämlich starrsinnig gegen die vorherrschende Lehrmeinung anzukämpfen (und dies stets besonders vehement, wenn es sich um jüdischstämmige Autoren handelt): Sternheim war für Sebald nicht der progressive Kritiker der wilhelminischen Gesellschaft, als welcher er weiland galt, sondern ein gescheiterer Opportunist, der sich dem chauvinistisch-antisemitischen Zeitgeist anpasste. Döblin wiederum erschien ihm wegen seiner Bekehrung zum Christentum als Verräter am revolutionären Geist des Judentums und aufgrund der gewaltverherrlichenden Texte als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Jurek Becker nun attestiert Sebald ein aus der Verfolgung resultierendes „Erinnerungsembargo“, das die Person Becker zwar als traumatisiertes Opfer des Faschismus ausweist, den Autor Becker aber bei der literarischen (Erinnerungs-)Arbeit behindert. In seinem Getto-Roman Jakob der Lügner vermochte er, aus Sebalds Sichtweise, folglich nur Holocaust-Kitsch zu produzieren. Andersch schließlich taugt nicht zur Identifikationsfigur, da er sich aufgrund seiner moralischen wie politischen Vergehen im Dritten Reich als kompromittierter Heuchler und eitler Karrierist entpuppte. Ähnlich verhält es sich für Sebald last not least bei solch führenden Autoren im Umfeld der Gruppe 47 wie Günter Grass, Günter Eich oder Hans Werner Richter, die aufgrund ähnlicher Kompromittiertheit am aufklärerischen Anspruch versagen, den Sebald an die Nachkriegsliteratur herantrug, nämlich den Nachgeborenen und Unbeteiligten ein wahrhaftiges Bild des im Nationalsozialismus Geschehenen zu liefern.

Literaturwissenschaft hat Sebald angesichts solch dezidiert einseitiger Positionen nie betrieben. Nicht nur in den beiden Qualifikationsarbeiten haut er mit dem Hammer der Polemik stets feste druff, er unterschlägt oder verdreht Zitate und erfindet - wo nötig - auch mal eine Fußnote etc. Grundsätzlich kennt er nur zwei Zugänge zur Literatur: entweder radikal antagonistisch oder extrem empathisch, affektgeladene Ablehnung oder totale Identifikation. Insofern fährt er - Walter Benjamins Der destruktive Charakter lässt hier grüßen - wie ein Bulldozer durch die Literaturgeschichte, um die falschen Idole der Germanistik aus dem Weg zu räumen und Platz für Neues zu schaffen, das aus dem Kanon verbannt ist: die lyrischen Notate des schizophrenen Anstaltspatienten Ernst Herbeck etwa (dem er dann ein literarisches Denkmal setzte in Schwindel. Gefühle.) oder der écriture brut des Autodidakten und Multitalents Herbert Achternbusch.



Gegen seine Disziplin hegte Sebald fast nur Vorurteile und teilte lebenslang pauschale Verdammungen aus. Das beginnt schon als Doktorand, indem er ab den frühen 1970er-Jahren für das Journal of European Studies, die akademische Hauszeitschrift der University of East Anglia, mehrere Dutzend Besprechungen von germanistischen Fachpublikationen verfasste, die allesamt und ausnahmslos als Totalverrisse ausfielen. Die betroffenen Germanisten dienten offenkundig als Prügelknaben, an denen er seine ausgeprägte Abneigung gegen die Disziplin abreagierte, der er zugleich unbedingt angehören wollte. Offenkundig hatte Sebald sich Handkes Princetoner „Schriftstellerbeschimpfung“ der Gruppe 47 zum Vorbild genommen für seine Gcrmanistenschelte, ohne die kaum eine seiner literaturkritischen Schriften auskommt.
Sebalds freischärlerisches Gebaren löste - neben erbittertem Widerspruch und berechtigten Richtigstellungen - zugleich nicht selten bis zu Begeisterung reichende Zustimmung aus. In den 1990er-Jahren erreichten ihn wiederholt zustimmende Zuschriften von teils durchaus prominenten Fachvertretern, die sich allerdings öffentlich nicht in gleicher Weise äußerten. Es waren also keineswegs nur querulantische Privat- sondern vielmehr Minderheitenmeinungen, die Sebald aussprach, welche ansonsten im Feld der Literarurwissenschaft nicht unbedingt zu hören waren.
Sebalds Verfahren einer gegen den Strich der Germanistik gebürsteten Literaturkritik verfolgte insofern eine kritisch-kriegerische Dialektik, nämlich zu einem asymmetrischen Kampf herauszufordern, bei dessen erster Konfrontation der Angreifer zwar zunächst eine Niederlage in Kauf nehmen muss, der angerichtete Tumult aber für so viel Selbstwiderspruch sorgt als auch Selbstentblößung unter den Gralshütern hervorruft, dass letztendlich aufgrund der über Fachkreise hinausreichenden Publicity sich weitere Kombattanten hinzugesellen und die Attacke dergestalt eine Eigendynamik gewinnt, die auf lange Frist jenen falschen Konsens zerstört, den Sebald ausgezogen war zu bekämpfen.



Mustergültig beobachten lässt sich das Aufgehen dieser Partisanen-Strategie am Beispiel der Affäre Andersch. Nach anfänglicher Verurteilung Sebalds zum Buhmann setzte ein Umdenkprozess ein, in dessen Verlauf u.a. vorherige Anhänger Anderschs auf die Gegenseite überliefen, dessen Familie zu Behauptungen fragwürdigen Wahrheitsgehaltes griff, ein führender bundesrepublikanischer Intellektueller sich zu Schutzbehauptungen verstieg, die seit Jahrzehnten nachweisbar falsch waren, vor allem aber durch Recherchen unabhängiger Dritter immer mehr biografisches Beweismaterial ans Licht kam, das die Sebaldsche Pauschalerledigung der linksliberalen Ikone zugleich konturierte und differenzierte, insgesamt aber nachträglich konfirmierte. (Eine ähnliche Einflussgeschichte ließe sich natürlich auch für die von ihm entfesselte Debatte um Luftkrieg und Literatur skizzieren.)
Selbstredend sind es seine querköpfigen Interventionen in das unkritische Affirmationsgeschäft der Germanistik, welche im deutschsprachigen Raum jenen ungebremsten Aufstieg zum Weltruhm behindern, den Sebald in der anglophonen Welt (und weit über sie hinaus) längst schon absolviert hat. Nicht zuletzt jedoch dank der enthusiastischen Aufnahme Sebalds unter dem gegenwärtigen germanistischen Nachwuchs werden die bestehenden Widerstände, etwa von Seiten einflussreicher Bestsellerautoren oder mächtiger Feuilletonisten, seine Aszendenz zum Literaturstar auch im deutschsprachigen Raum auf Dauer nicht aufhalten können.
Unbestreitbar jedoch existiert eine fast irreduzible Inkohärenz zwischen den gegensätzlichen Seiten Sebalds, die sich spiegelt in der teils verklärenden, teils ächtenden Rezeption sowie im Nebeneinander von Repräsentanz und Außenseitertum. Sebald lässt sich einfach nicht in ein Schema F einpassen. Einerseits das feinfühlige Eingedenken, andererseits das wütende Polemisieren. Oder die geradezu messianische Stilisierung zum unverhofften Wiederhersteller der deutsch-jüdischen Kultursymbiose durch Bücher wie Die Ausgewanderten und Austerlitz, während zugleich einem rassisch Verfolgten des Faschismus die Fähigkeit abgesprochen wird, über den Holocaust auf angemessene Weise zu schreiben. Und mehr noch, in potenziell revisionistischer Manier, wird von Sebald das Augenmerk gerichtet auf die durch alliierte Bombardierung erzeugten Feuerstürme in den deutschen Städten, in denen die Zivilbevölkerung erst massenhaft aufgrund von Sauerstoffmangel erstickte und die Körper dann durch die ungeheure Hitze verkohlt bzw. eingeäschert wurden. (Dass es sich um ein - zumal ebenfalls industriell erzeugtes - Parallelphänomen zu den Vorgängen in den Konzentrationslagern handelt, braucht dabei ja nicht erst explizit ausgesprochen zu werden.)



Angesichts der gespannten Haltung von Sebald zur verabscheuten deutschen Nachkriegsliteratur ist es kaum erstaunlich, dass ein Großteil seiner literaturkritischen Arbeit solchen Autoren gewidmet war, die man zur österreichischen bzw. alemannischen Literatur rechnen kann. Dabei galt sein Augenmerk insbesondere Generationsgenossen, die wie er aus der Provinz stammten und einen sozial unterprivilegierten Hintergrund hatten, kurz gesagt also den Autoren der Grazer Gruppe und der Anti-Heimatliteratur. Versammelt wurden die Resultate dieser Auseinandersetzung mit Schriftstellern aus der österreichischen Peripherie in zwei Essaybänden, die 1985 bzw. 1991 erschienen. Neben Aufsätzen, die für die meisten Sebald-Leser durchaus verzichtbar sind, finden sich dort einige Essays, in denen Sebald die Grenze zwischen essayistischer und poetischer Schreibweise überschreitet. So etwa in dem wunderbaren Text über Gerhard Roths Romanwerk Landläufiger Tod, den gewagten Hypothesen zu Stifters Sexualität oder den bestechenden Überlegungen zum Messianismus in Peter Handkes Wiederholung.
Was sich hier vorbereitet, findet dann seine endgültige Vollendung im 1998 erschienenen Essayband Logis in einem Landhaus, wo Sebald so wie niemand sonst über Schriftsteller schreibt, nämlich als empfindsamer Kollege, der Geistesverwandten wie Christian Friedrich Hebbel, Gottfried Keller und Robert Walser über Raum und Zeit hinweg die Hand brüderlich auf die Schulter legt, in Logis in einem Landhaus findet die poetische Literaturkritik Sebalds in einer Weise zu sich, die den Band - entgegen der vorherrschenden Kategorisierung - zu einem Teil des literarischen Werks macht. Was vorgeprägt war in den biografischen Vignetten, die in Ringe des Saturn eingestreut zu finden sind, tritt in den Schriftstellerporträts des Essaybandes in sein Recht: Eine Form poetischer Literaturkritik, die in Literatur umkippt. Und als sanfter Erforscher unglückseliger Lebensläufe gibt Sebald eine ungleich bessere Figur ab als in der Rolle des wütenden Anklägers und Richters. Liebesdienst, Ehrerweisung, Selbsterkundung und Plädoyer im Sinne einer „rettenden Kritik“ (Benjamin) sind die Texte des Essaybandes, in dem er seinen poetischen Tribut zollt „an die vorangegangenen Kollegen in Form einiger ausgedehnter und sonst keinen besonderen Anspruch erhebenden Marginalien.“

Quelle: Volltext 4/2014 Wien 2014





Daniel Kehlmann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Okt. 2005:



Der Betriebsschaden
Kafka hat nicht in Klagenfurt gelesen, Thomas Mann hat es nicht getan, auch Joseph Roth nicht. Der Ernstfall, einen Autor von weltliterarischem Rang ganz ohne Stützung durch eine schon etablierte Wertordnung beurteilen und sich selbst danach an diesem Urteil messen lassen zu müssen, blieb der Jury Jahr für Jahr erspart. Außer eben im Jahr 1990: Mann, Kafka und Roth waren nicht in Klagenfurt, Sebald aber schon. Eine Herausforderung, vor der der Literaturbetrieb auf ganzer Linie versagte.
Im Jahr 1990 nämlich nahm der größte deutsche Schriftsteller dieser Jahre, W. G. Sebald, allerdings noch unbekannt, am Bewerb teil. Er bekam keinen Preis.
Ludwig Roman Fleischer aus Wien, Preisträger, las einen Text mit dem Titel "Rakontimer". Pieke Biermann, Preisträgerin, las den Text "Das Gesetz des Auges". Der Text der Preisträgerin Ingeborg Harms, betitelt "Auf den breiten Nacken einer Sumpfschildkröte". Gegen sie alle und einige andere unterlag Sebald, wie übrigens auch der junge Reinhard Jirgl, in einer Stichwahl nach der anderen.
Nun, und warum nicht? Was beweist schon späterer Ruhm? Vielleicht las Sebald einen mißratenen Text, und die Niederlage geschah ihm ganz recht! Allerdings nicht. Sebald las die Geschichte des Lehrers Paul Bereyter, also die zweite Erzählung des Buches "Die Ausgewanderten", das ihm wenig später Weltruhm und die Bewunderung von Lesern wie J. M. Coetzee, Joseph Brodsky, Charles Simic und Gabriel García Márquez eintragen sollte. "Is literary greatness still possible?" fragte Susan Sontag in einem viel zitierten Artikel. "One of the few answers available to English-speaking readers is the work of W. G. Sebald."
Ja, merkte denn wirklich niemand, dass Deutschlands größter Schriftsteller hier einen seiner besten Texte vortrug? Man kann nicht rekonstruieren, ob Sebald auch Fürsprecher hatte; die Diskussion der Jury (Hellmuth Karasek, Nils Jensen, Andreas Isenschmid, Volker Hage, Heinz Schwarzinger, Marlis Gerhardt, Peter von Matt, Helga Schubert, Peter Demetz, Werner Liersch und Carl Corino) über Sebald ist nicht aufbewahrt.
Und so reiste der Autor des subtilsten und sprachmächtigsten Buchs über die Schrecken deutscher Vergangenheit und die Unmöglichkeit, als Vertriebener wieder zurückzufinden, preislos und geschlagen heim nach Norwich. Wer hätte geahnt, dass wenig später die große Welt in Gestalt der "New York Times" und mehrerer Nobelpreisträger eingreifen und alles durcheinanderbringen würde?
Und die deutschen Medien? "Die Urteile waren fair", schrieb Sabine Neubert in der "Zeit". Ein gewisser Heimo Schwilk rügte im "Rheinischen Merkur" besonders den Professor aus England: "Ganz im Gegensatz zu dem zehn Jahre jüngeren Österreicher Ludwig Roman Fleischer fand der in Großbritannien lebende poeta doctus nicht zu einem angemessenen Ton, um den stillen Schrecken eines nationalsozialistischen Berufsverbots heraufzubeschwören."



Wikipedia zu "Neger"
Der Ausdruck Neger (von französisch nègre, spanisch negro, lateinisch niger „schwarz“) ist eine im 17. Jahrhundert in die deutsche Sprache eingeführte Bezeichnung für Menschen dunkler Hautfarbe. Der aktuelle Duden weist darauf hin, dass die Bezeichnung im öffentlichen Sprachgebrauch als stark diskriminierend gelte und deshalb meist vermieden werde; er verweist auf Farbige oder Schwarze als Alternativen. Für in Deutschland lebende Menschen dunkler Hautfarbe wurde die Bezeichnung Afrodeutsche vorgeschlagen, die 2006 auch in den Duden aufgenommen wurde.
Das Wort Neger fand zunächst nur begrenzt Verwendung; mit dem Aufkommen der eng mit der Geschichte von Kolonialismus, Sklaverei und Rassentrennung verbundenen Rassentheorien und der (seit langem überholten) Vorstellung einer „negriden Rasse“ bürgerte es sich ab dem 18. Jahrhundert in der Umgangs-, Literatur- und der Wissenschaftssprache ein. Neger gilt heute allgemein als Schimpfwort, als abwertende Bezeichnung für ethnische Gruppen (Ethnophaulismus); einige Kritiker halten das Vermeiden des Wortes für übertriebene politische Korrektheit oder Moralismus. -->