Peter Schmucker
Eine für Sebaldianer lesenswerte literaturwissenschaftliche Arbeit ist die Dissertation des 1946 in Nürnberg geborenen und seit 2013 emeritierten Professors für Anästhesie (wirklich medizinisch! nur 2 Jahre jünger als Sebald, und der dessen Rat folgte: siehe )
Grenzübertretungen - Aspekte der Intertextualität im Werk von W. G. Sebald
Die Arbeit befasst sich tiefschürfend mit Sebalds Poetik, den Grundmerkmalen der von ihm erzählten Welt und
der Intertextualität, besonders mit deren Funktion in seinem Werk, Aspekte, die eng zusammenhängen.
Alles Themen, zu denen viele viele Untersuchungen der Literaturwissenchaft bereits existieren. Wer sich aber in Schmuckers brillantes
umfangreiches Werk (459 Seiten) vertieft, wird Wiedersehen mit zahlreichen Confrères Sebalds feiern, sein Wohlgefühl
am Sebaldsound vertiefen und seinen Lesegenuss steigern.
Sehr empfehlenswert!
Uwe Schütte:
"Zehn Jahre nach seinem vorzeitigen Tod wälzt sich weiterhin ein Strom zumeist umfangreicher, wenngleich nicht unbedingt gewichtiger Monografien über das
Werk von W.G. Sebald in die Bibliotheken. Zu einem großen Teil sind es Dissertationen, die, heutigen Erwartungen an Qualifikationsarbeiten entsprechend, sich oftmals in einem Umfang von deutlich über 500 Seiten bewegen. Im Vergleich zu Sebalds eigener PhD thesis, einer 1980 erschienenen kontroversen Studie über Alfred Döblin mit einem Umfang von unter 140 Seiten, nehmen sich diese Dissertationen rein quantitativ – und man mag sich fragen ob nicht auch qualitativ – wie die Habilitationsschriften der Doktorväter bzw. - mütter aus. Diese hypertrophierende Tendenz, die Sebald im übrigen als eine Bestätigung seiner wiederholt an der literaturwissenschaftlichen Zunft geübten Kritik verstanden hätte, lässt einen wundern, ob Doktoranden in einigen Jahren Dissertationen im Bereich von 700-800 Seiten vorlegen müssen, um ihr Entrée in
die Germanistik zu machen.
Der Verfasser Peter Schmucker gehört zwar zu den frischgebackenen Germanisten, stellt freilich insofern ein fortgeschrittenes Semester dar, als er sein Studium gegen Ende einer medizinischen Karriere aufnahm, die ihn bis zur Leitung der Klinik für Anästhesiologie am Lübecker Universitätskrankenhaus führte. Mit Grenzübertretungen legt er eine Studie zur Intertextualität bei Sebald vor, die das neue Standardwerk zu diesem zentralen Aspekt der literarischen Texte darstellt. Seine dezidierte Untersuchung der
Intertextualität, der bereits eine der ersten zu Sebald vorgelegten Arbeiten galt, erfolgt dabei mit der Zielsetzung, Sebalds Poetik der Restitution genauer zu konturieren und insbesondere die in seinen Erzählwerken entworfene Diegese, d.h. die Gesetzmäßigkeiten und Regeln des literarischen Universums, zu bestimmen.
Neben diesem für die Sebald-Philologie innovativen Ansatz gehört die Studie zu den ersten Arbeiten, welche die grundlegende Bedeutung der umfangreichen literaturkritischen Schriften für das Verständnis des vergleichsweise schmalen erzählerischen Werks erkannt haben. Schmucker befragt dabei primär die Essays zur österreichischen Literatur (insbesondere die Aufsätze zu Kafka und Stifter, sowie die zumeist unbeachteten Schriften zu Hofmannsthal), nimmt aber auch literaturkritische Texte Sebalds zur deutschen und englischsprachigen Literatur in den Blick, die von den polemischen Angriffen auf Jurek Becker und Alfred Andersch bis zu Miniaturen und Feuilletons über Vladimir Nabokov oder Bruce Chatwin reichen.
Diese Texte werden zunächst als Relaisstationen zwischen den literarischen Texten der literarischen Wahlverwandten Sebalds und seinen erzählerischen Texten begriffen, weil sie zu rekonstruieren erlauben, aus welchen Bausteinen er seine literarische Welt zusammensetzt. Desweiteren werden die literaturkritischen Texte dazu verwendet, Sebalds nie systematisch ausgebreitete Poetik auszuarbeiten, welche Schmucker deutet als einen Versuch, die Kontingenz isolierter Erinnerungsbruchstücke in eine narrative Ordnung zu überführen. Unter dem Leitbegriff der ‚poetischen Paraphrase’ nähert sich Schmucker dann Sebalds Ideengeber Benjamin, um aufzuzeigen, wie dessen Geschichtsphilosophie im erzählerischen Werk umgesetzt wird. Den fulminanten Schlußabschnitt bildet eine detaillierte Diskussion des Einflusses der Schriften des spekulativen Theologen Franz von Baader auf das gnostizistische Weltbild, das in den Texten von Sebald evoziert wird.
Dieses Schlußkapitel gehört ohne Zweifel zu den interessantesten Beiträgen zum Verständnis von Sebald; die oftmals immense Bedeutung scheinbar marginaler oder randständiger Autoren für Sebald ist noch nicht wirklich erkannt worden. Wie produktiv es ist etwa den Einfluß von Giorgio Bassani zu taxieren, hat Ben Hutchinson exemplarisch vorgeführt, vergleichbare Untersuchungen zu weiteren wichtigen Stichwortgebern Sebalds wie Stanislaw Lem oder Jorge Luis Borges stehen noch aus; auf die immense Bedeutung von Rudolf Bilz werde ich in einer bald erscheinenden Studie zu Sebalds Literaturkritik eingehen.
Aus der exzentrischen Perspektive des Theologen aus dem 18. Jahrhundert eröffnen sich überraschende Einsichten, auch wenn Schmucker im Eifer des Gefechts die Affinitäten Sebalds zum Gnostizismus etwas überbetont. Das Motiv der Sexualitätsfeindlichkeit beispielsweise, das als unverkennbares Indiz für Gnostizismus angeführt wird, übernahm Sebald wohl wesentlich von Thomas Bernhard, während der Gedanke menschlicher Schuldbeladenheit durch Nahrungsaufnahme eindeutig auf Canetti zurückweist. Nichtsdestotrotz ist es Schmucker als erstem gelungen, das theologische Unterfutter jener häretischen Ontologie aufzudecken, die, in der Diktion Sebalds als ‚Naturgeschichte der Zerstörung’ firmiert. In ihrer rücksichtlos negativen Ausrichtung stellt Sebalds gnostisches Geschichtsbild eine veritable Provokation für jenen Teil seiner
Leserschaft dar, der nicht wahrhaben möchte, daß „nämlich die Geschichte jedes einzelnen, die jedes Gemeinwesens und die der ganzen Welt nicht auf einem stets weiter und schöner sich aufschwingenden Bogen [verläuft], sondern auf einer Bahn, die, nachdem der Meridian erreicht ist, hinunterführt in die Dunkelheit.“
Durchaus Aufschlußreiches zu Sebalds düsterem Geschichtsbild als eines auf abschüssiger Bahn verlaufenden Verfallsprozesses vermag Schmucker auch in dem für jede Sebald-Arbeit quasi unvermeidlichen Kapitel zu Benjamin herauszustellen. Ihm geht es neben dem bereits Allbekannten jedoch verdienstvollerweise mehr um die Abweichungen von Benjamins Philosophie, etwa indem Schmucker aufzeigt wie bei Sebald ein säkularer Gnostizismus der Moderne an die Stelle messianischer Erlösungshoffnung tritt. Anhand von Stichpunkten wie Vulkanismus oder Weltenbrand geht Schmucker auch dem für Sebald zentralen Motiv des Feuers in jener Ausführlichkeit wie Verästelung nach, die für ein vertieftes Verständnis nötig ist, von bisherigen Studien aber nicht ausreichend geleistet wurden.
Mehr noch, hat Schmucker jenen Begriff bei Sebald identifiziert, ohne den sein pessimistisches Denken sich nicht erschließt, nämlich das naturwissenschaftliche Konzept der Entropie, welches sich als grundlegend erweist für die Anlage von Sebalds Erzählkosmos. Sebalds Weltsicht wie seine Diegese basiert mithin auf einem quasi szientifischen Verständnis der Existenz als eines entropischen Systems, in dem gemäß des Zweiten Satzes der Thermodynamik jeder Ordnungsversuch zwangsläufig zu größerer Unordnung
anderweitig führen muß, weshalb jeder Ansatz zur Stabilisierung der Kontingenz den Untergang im ‚Wärmetod’ nur befördert.
Um aber bei Benjamin zu bleiben: Im Hinblick auf die Literaturkritik Sebalds hat Schmucker den Begriff der ‚rettenden Kritik’ als Leitkategorie benutzt, um Sebalds besonderes Faible für marginale, non-kanonische und ‚mindere’ Autoren wie Robert Walser oder den Psychiatriepatienten Ernst Herbeck zu verstehen.
Insbesondere über Letzteren vermag Schmuckers Analyse Aufschlußreiches beizusteuern: Herbeck taucht ja bei Sebald sowohl als Gegenstand der Literaturkritik wie als faktuale Erzählfigur auf; ein Musterbeispiel also für die Sebald’sche Kontextverschiebung. Schmucker nun führt vor, wie sich die von Sebald in den essayistischen Texten zu Herbeck entwickelten Kategorien zur Würdigung der literarischen Qualität des Außenseiters auch als wesentliche Präzepte und Leitlinien seiner eigenen Literatur erweisen.
Was Schmucker nicht genügend akzentuiert an der ‚rettenden Kritik’ ist deren ambivalente Natur; angesichts der von Benjamin ebenso hervorgehobenen destruktiven Seite eignet sich der Begriff trefflich, um die lange Reihe polemischer Attacken gegen Autoren wie Sternheim, Döblin, Broch, Becker, Andersch, etc. als Kehrseite eines empathischen, ja geradezu identifikatorischen Umgangs mit Autoren wie Hebel, Herbeck oder Robert Walser zu erklären.
Allerdings schlägt Schmucker einen sehr interessanten Bogen, indem er im Anschluß an Benjamins Aufsatz zu den Wahlverwandtschaften – wo dieser angesichts der als Binnengeschichte eingeschalteten Novelle über eine Rettung vorm Ertrinkungstod, die im offenkundigen Gegensatz zum Ertrinken von Charlottes Kind steht, die Rettung zum eigentlichen Thema des Romans erklärt – anhand von Austerlitz das Motiv der Rettung im literarischen Werks Sebalds verfolgt. Der Akt der Errettung nämlich, so zeigt Schmucker, steht bei Sebald in offenkundiger Nähe zur Poetik der Restitution, welche „auf die Schaffung eines Raumes zur Restitution der Opfer der Geschichte im Artefakt [zielt].“
Insgesamt darf Schmucker attestiert werden, daß seine souveräne Arbeit an wiederholten close readings zentraler Abschnitte der literarischen Texte musterhaft vorführt, wie sich Sebald einer Verrätselungsstrategie bedient, die primär durch flexiblen Einsatz von Intertextualität die Lektüre intentional erschwert, damit der Rezeptionsprozeß zu einer mühevollen, den Leser in die Kunstproduktion involvierenden Anstrengung avanciert, die flankiert wird von den verschiedenen ‚Stolpersteinen’ die Sebald in seine Texte einbaut – regionale oder veraltete Ausdrücke beispielsweise, aber auch tabuisierte Ausdrücke wie „Neger“. Der persistente Gebrauch dieses problematischen Worts wird übrigens von Schmucker nicht wie in anderen Arbeiten als aberrante Idiosynkrasie unterschlagen, sondern u.a. eingeordnet in Sebalds Katabasis-Metaphorik. Der Begriff taucht auch in dem detaillierten Index auf, der neben einem Personenregister ein differenziertes Begriffsregister als willkommenes
Navigationsinstrument für das Buch liefert.
Dank dieser nützlichen Arbeitshilfe unterscheidet sich Schmuckers Studie zwar positiv von der überwiegenden Mehrzahl deutschsprachiger Qualifikationsarbeiten, doch wird dies leider konterkariert von dem offenkundig durch die Verlagsrichtlinien erzwungenen Fehlen einfacher Siglen zum Nachweis der Primärzitate sowie dem leserunfreundlichen, nur mit Autorenamen und Erscheinungsjahr operierenden Anmerkungsapparat, der unnötigerweise ein beständiges Nachblättern in der Bibliografie erfordert, um die Quellen zu identifizieren. Bedauerlich auch der exorbitante Preis des Buches, der die Studie für Privatpersonen im Grunde unerschwinglich macht und auch nicht wenige Bibliotheken abschrecken dürfte. Peter Schmuckers Grenzübertretungen legt eine für die weitere Sebald-Forschung fortan unabdingbare Grundlage.
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