Musik



Austerlitz und Musik



Und während wir noch mit einer gewissen Ergriffenheit, wie ich mich entsinne, sagte Austerlitz, hinaufschauten an dieses künstliche, an seinem unteren Rand beinahe mit den Händen zu greifende Firmament, kam nacheinander die gesamte Schaustellertruppe herein, der Zauberkünstler und seine sehr schöne Frau und ihre drei schwarzgelockten, nicht weniger schönen Kinder, das letzte von ihnen mit einer Laterne und in Begleitung einer schneeweißen Gans. Ein jeder dieser Zirkusleute hatte ein Instrument dabei. Wenn mir recht ist, sagte Austerlitz, so war es eine Querpfeife, eine etwas verbeulte Tuba, eine Trommel, ein Bandoneon und eine Geige, und allesamt waren sie orientalisch gekleidet, in lange pelzgesäumte Mäntel und die Männer mit einem hellgrünen Turban auf dem Kopf. Auf einen Wink hin, den sie einander gaben, hoben sie an zu spielen in einer verhaltenen und doch zugleich durchdringenden Weise, die mich, trotzdem oder vielleicht weil ich mein Leben lang so gut wie unberührt geblieben bin von jeder Musik, von dem ersten Takt an zutiefst bewegte. Was die fünf Gaukler an jenem Samstagnachmittag in dem Zirkuszelt hinter der Gare d'Austerlitz spielten für ihr winziges, weiß Gott woher gekommenes Publikum, das wüßte ich nicht zu sagen, sagte Austerlitz, doch schien es mir, sagte er, als wehte es aus einer großen Ferne herüber, aus dem Osten dachte ich mir, aus dem Kaukasus oder aus der Türkei. Ich weiß auch nicht, an was mich die Klänge erinnerten, welche die Musikanten, von denen gewiß keiner die Notenschrift kannte, miteinander hervorbrachten. Manchmal ist es mir gewesen, als hörte ich ein längst vergessenes walisisches Kirchenlied aus ihrem Spielen heraus, dann wieder, ganz leise und doch zum Schwindligwerden, die Drehung eines Walzers, ein Ländlermotiv oder das Schleppende eines Trauermarschs, wo die im letzten Geleit Gehenden bei jedem Schritt den Fuß, eh sie ihn aufsetzen, ein wenig einhalten in der Luft. Was in mir selber vorging, als ich dieser von den Zirkusleuten mit ihren etwas verstimmten Instrumenten sozusagen aus dem Nichts hervorgezauberten, ganz und gar fremdländischen Nachtmusik lauschte, das verstehe ich immer noch nicht, sagte Austerlitz, ebensowenig wie ich seinerzeit hätte sagen können, ob mir die Brust zusammengedrängt wurde vor Schmerzen oder sich zum erstenmal in meinem Leben ausweitete vor Glück. Weshalb gewisse Klangfarben, Verschattungen in der Tonart und Synkopen einen dermaßen ergreifen, das wird ein von Grund auf unmusikalischer Mensch, wie ich es bin, sagte Austerlitz, niemals verstehen, aber heute, in der Rückschau, kommt mir vor, als sei das Geheimnis, von dem ich damals angerührt wurde, aufgehoben gewesen in dem Bild der schneeweißen Gans, die reglos und unverwandt, solange sie spielten, zwischen den musizierenden Schaustellern stand. Mit etwas vorgerecktem Hals und gesenkten Lidern horchte sie in den von dem gemalten Himmelszelt überspannten Raum hinein, bis die letzten Töne verschwebt waren, als kennte sie ihr eigenes Los und auch das derjenigen, in deren Gesellschaft sie sich befand.