. wgsebald.de Bereyter Hintergrund
Bereyter
Manche Nebelflecken
löset kein Auge auf




Hintergrund Paul Bereyter
(Die Ausgewanderten)

1935 verabschiedet der Reichstag die Nürnberger Gesetze, Höhepunkt vieler judenfeindlicher Gesetze seit Hitlers Machtübernahme, angefangen mit dem ersten von April 1933, das von Beamten verlangt, ihre arische Abstammung nachzuweisen, um nicht fristlos entlassen zu werden - ausgeweitet in den nächsten Jahren auf Anwälte, Ärzte und Lehrer. Damit beginnt für den 23jährigen Armin Müller das Exil.
Armins Vater Magnus ist in Immenstadt geboren, nicht wie Theo Bereyter in Gunzenhausen in Franken, das Sebald wegen des dortigen Palmsonntagpogroms von 1934, der ersten kommunalen Gewalttat gegen Juden in Deutschland, auswählt. Magnus stirbt nicht an "Wut und Angst" wie Theo, sondern lebt bis 1978, als er mit 96 stirbt. Armins Mutter Babette stirbt 1955.
Pauls Vater Theo ist Halbjude, denn sein Vater, Jude, heiratet seine christliche Magd, die Mutter Armins Babette ist ebenfalls Halbjüdin, weil ihr Vater Heinrich Hirsch Jude und ihre Mutter Maria - 30 Jahre jünger als Heinrich - katholisch war.
Sebald verlegt Armin Müllers jüdischen Großelternteil von der mütterlichen auf die väterliche Seite.
Sebald erzählt seiner Biografin Carole Angier ('Speak, Silence' ), dass viele Aspekte von Paul Bereyter aus Ludwig Wittgensteins Zeit als Schulmeister stammen. Die Zahl der entlehnten Details ist erstaunlich. Die Lieder, die Paul unterrichtet, stammen von Wittgenstein, ebenso wie seine Angewohnheit, auf sein Taschentuch zu beißen, wenn er sich über die Dummheit der Schüler ärgert; und den Kadaver eines Fuchses auf seinem Küchenherd zu kochen, um das Skelett zum Unterricht mitzubringen. Die gequälte Hassliebe zu seinen Schülern, die ihm immer wieder als "verächtliche und abstoßende Kreaturen" erscheinen, die in ihm "eine grundlose Gewalt" auslösen. Pauls Begabung für Musik und Mathematik, die das zentrale Interesse von Wittgensteins philosophischem Leben sind.
Der beste Witz von allen - Pauls Füllung des Weihwasserbeckens mit seiner Gartengießkanne - ist aber wahrscheinlich eine böse Sebald-Erfindung.
Für Helen Holländer und Lucy Landau findet Angier - wie Kay Wolfinger - keine Hinweise. Letzterer ist zum Schluss gekommen, dass es sich um eine Erfindung Sebalds handelt. Sebald hat mit Angier über Lucy gesprochen, als ob sie real wäre. Sie hatte ihn gefragt, ob eines seiner Modelle jemals Einwände gegen ihre Verwendung gehabt hätte. Wenn jemand Einwände hatte, veröffentlichte er es nicht. Und fügte hinzu: "Im Fall der Dame in Yverdon war es etwas komplizierter. Es dauerte lange, bis ich sie davon überzeugen konnte, dass das, was ich vorhatte, tatsächlich in Ordnung war."
Armin Müller war fast immer verheiratet. Seine erste Frau stirbt 1967; 1972 heiratete er ein zweites Mal, sein Frau überlebt ihn. Er hatte auch keine Trostlosigkeit an sich. Alle, die ihn kannten, sagen, er war fröhlich, gesellig, ein großartiger Erzähler von Witzen und Komponist humorvoller Verse, die er bei Faschingsfeiern unter lautem Beifall vortrug.
In der Schule war er ein wunderbarer Kollege, freundlich, zuverlässig. Besondere Freunde hatte er nicht, niemanden, der ihm nahe stand. Zu seinem Suizid sagt seine 2. Frau: "Er konnte sich ein Leben ohne Bücher nicht vorstellen".
Sebald glaubte, dass es etwas anderes war: dass Armin Muller endlich von der Ungerechtigkeit überwältigt worden sei. Er hatte 10 Tage im Deutschen Literaturarchiv (DLA) verbracht, um das Leben mehrerer Schriftsteller zu recherchieren: Sebald gibt die Seiten aus den Notizbüchern Müllers wider.

Als der Krieg ausbricht und Armin Müller zur Armee einberufen wird, ist er auf Heimatbesuch. Die Familie ist stolz und glücklich auf dem Porträt mit ihrem deutschen Soldaten. Magnus schaut streng drein. Roberts leichte geistige Behinderung ist offensichtlich. Babette lächelt. Der nachdenklichste ist Armin.
Zurück zu Lucy Landau.
Angier äußert eine Vermutung. Eine Ludmilla Moser, Buchhändlerin in Immenstadt, sei Armins enge Freundin gewesen und habe für Bücher gelebt, wie Armin. Ihr Name Ludmilla sei immer zu Lu abgekürzt worden. Echo von Lucy?
Carole Angier schreibt:
"Lucys Liebe zu Paul ist bei Sebald die zärtlichste Liebe einer Frau zu einem Mann; in der Tat fast die einzige, abgesehen von Charlotte Ives' Liebe zu Chateaubriand in Die Ringe des Saturn und der Liebe von Marie de Verneuil zu Austerlitz. In der allgemeinen Wüste und Dunkelheit von Sebalds Behandlung der heterosexuellen Liebe ist die zwischen Paul Bereyter und Lucy Landau die beste Ausnahme. Sie befreit zwar Paul noch immer nicht von seiner Vergangenheit und hält seinen Drang zum Tod nicht auf. Aber sie erhellt die Traurigkeit seines Lebens, so wie die Liebe zwischen Ambros und Cosmo die von Ambros Adelwarth erhellt, der dadurch aber auch nicht gerettet wird. Das scheint für Max die größte Hoffnung zu sein, die er sich für eine Liebe dieser oder jener Art vorstellen kann.
Aus dieser Höhe, sagt Lucy Landau, sieht das Land um den Genfer See aus wie die Landschaft für eine Modelleisenbahn. 12 Jahre später kehrt das Bild zurück, in Form von Pauls eigener Modelleisenbahn, die auf seinem Tisch ausgebreitet ist."
Sebald: "Die Eisenbahn spielt eine sehr, sehr wichtige Rolle, wie man weiß, im ganzen Prozess der Deportation... Und das greife ich an der Stelle auf, wenn ich über die Besessenheit meines Grundschullehrers von der Eisenbahn spreche."



siehe auch Bereyter