Kunst



Peter Weiss
(Campo Santo S. 130ff)

Der Hausierer

Das Bild "Der Hausierer", das Peter Weiss im Jahr 1940 fertiggestellte, zeigt eine aus dem Mittelgrund sich erhebende düstere Industrielandschaft, vor der ein kleiner Zirkus sich angesiedelt hat, der der ganzen Szenerie ein eigentümlich allegorisches Gepräge verleiht. Am vordersten Bildrand hält, den Rücken halb noch dem Beschauer zugekehrt und den Blick, wie zum Abschied, über die Schulter gerichtet, ein junger Mann mit einer Art Bauchladen und einem Wanderstab, vielleicht schon weit her gekommen und offensichtlich im Begriff, einen abschüssigen Weg hinunter und auf ein Zelt zuzugehen, dessen Öffnung die hellste und dunkelste Stelle des Bildes zugleich markiert. Die weißfarbene Fläche der Zeltbahn, von einer untergehenden Sonne beleuchtet, umgibt die im Inneren herrschende völlige Finsternis, einen schwarzen Raum, so scheint es, zu dem es die heimatlose Figur, die hier am Beginn ihrer Laufbahn steht, unweigerlich hinzieht. Das Bedürfnis, dort einzukehren, wo diejenigen behaust sind, die sich nicht mehr im Licht und am Leben befinden, erhält in dieser Selbstdarstellung einen bedingungslos auf das eigene Ende gerichteten Ausdruck.



Das große Welttheater

So häufen sich bereits in den Bildwerken, die Weiss in den ersten Jahren seines Exils entwirft aufgrund eines moralischen Impulses und nicht aufgrund einer wie immer gearteten ästhetischen Extravaganz die Abschilderungen der grauenhaftesten Vergehen, bisweilen einmündend in Szenarien eines allumfassenden Unterganges einer in der Barbarei auf ihren Begriff gebrachten Zivilisation.





"Das große Welttheater" aus dem Jahr 1937, das in seiner durchaus pathologischen Chromatik und ins Kosmische ausgreifenden Disposition unmittelbar an die Alexanderschlacht Altdorfers erinnert, führt ein wahres Pandämonium vor der Transgression vor einem mit kenternden Schiffen bestückten und vom Widerschein einer Feuersbrunst ausgeleuchteten Hintergrund.

Die Idee der Katastrophe, die Weiss in derlei Panoramen entwickelt, eröffnet freilich keine eschatologische Perspektive; sie ist vielmehr die Designation einer in den Zustand der Permanenz übergegangenen Zerstörung. Was hier und jetzt zutage liegt, das ist bereits jene Unterwelt jenseits aller Natur, eine aus Industrieanlagen und Maschinen, Schornsteinen, Silos, Viadukten, Mauerflächen, Labyrinthen, blattlosen Bäumen und billigen Jahrmarktsattraktionen zusammengesetzte surreale Gegend, in welcher die Protagonisten als völlig autistische, geschichtslose Seelen ihr kaum mehr lebendiges Wesen treiben.




Gartenkonzert



Die Figuren des 1938 gemalten "Gartenkonzerts", mit ihren gesenkten Lidern, der junge Cembalospieler mit dem blinden Blick gehören zu den Vorboten eines allenfalls in der Schmerzempfindung sich noch rührenden Lebens, einer rückhaltlosen Identifizierung mit den Verachteten, Verhöhnten, Verkrüppelten, Verdämmernden, mit denen, die heulend in Verstecken sitzen, die alles aufgegeben und nichts hinterlassen haben.





Selbstbildnisse



Artikulationsskrupel angesichts der tiefsten Verstörung sind bereits in den Selbstbildnissen aus der bleiernen Zeit des Exils thematisiert. Eine Gouache aus dem Jahr 1946 zeigt ein von schwerer Melancholie verhangenes Antlitz, während ein etwa gleichzeitig entstandenes, in kalten Blautönen gehaltenes Porträt bestimmt ist von einer in sich versammelten, geradezu ungeheuren intellektuellen Resilienz. Ein auf Wahrheits- und Rechtsfindung bedachter Forscherblick ist hier unmittelbar und in völliger Unverwandtheit aus dem Bild heraus auf das gerichtet, was es zu registrieren gilt. Gemeinsam aber ist den beiden Bildnissen die Art, wie der Maler die eigene Physiognomie weniger in der realistischen Treue zum Detail als in einer flächenhaften Darstellung erfaßt, der bereits jener gewisse Zug in einen monumentalen Heroismus eignet, der das literarische Spätwerk des Peter Weiss charakterisieren sollte. In der Transformation des verletzten Subjekts in eine andere, intransigente Person konstituiert sich zum einen der Wille zum Widerstand, während sich andrerseits etwas vollzieht, das sich beschreiben ließe als die Assimilation der Kälte des Systems, von dem das Subjekt sich bedroht weiß. Die Angst, zerschnitten und verstümmelt zu werden, wandelt sich derart zum generativen Moment einer Strategie, mit der Weiss selber sich anhält, untersuchende Einschnitte vorzunehmen an leibhaftigen Instanzen einer oppressiven Wirklichkeit.



Anatomie



Zu den frühesten Alpträumen des Peter Weiss gehört die Vorstellung, geschlachtet zu werden. Die zwei Männer mit den Messern, die, wie er in Abschied von den Eltern berichtet, aus einem dunklen Torgang heraus auf ihn zukommen - im Hintergrund auf einem Reisighaufen liegt das Schwein, an dem sie eben ihr Werk verrichtet haben - sind die Sendboten einer Übermacht, der das Kind schon sich ausgeliefert fühlt und deren Agenten es in sämtlichen Autoritätsfiguren, insbesondere aber in den Ärzten erkennt, die ja ganz offensichtlich ein professionelles Interesse daran haben, in seinen Körper einzudringen. Zweifellos liegt diesem gesamten Themenkomplex die panische Angst vor einem Strafvollzug zugrunde, der den Leib des schuldigen Subjekts bis über den Tod hinaus durch weitere zerstörerische Maßnahmen verfolgt. Es gehört zu den zentralen Einsichten im Werk des Peter Weiss, daß er dieses Verfahren nicht nur als eines der Rechtsmittel von Gesellschaften diagnostiziert, die aus ihren Hinrichtungen noch öffentliche Festakte machten, wovon etwa die von de Sade beschriebene Exekution Damiens ein Beispiel wäre, sondern daß auf diese gründlichste Form der Bestrafung, die in der Zerschneidung und Aushöhlung des menschlichen Körpers besteht und aus diesem im wörtlichen Sinn einen Detritus macht, auch und gerade in "aufgeklärten Zivilisationen" nicht verzichtet wird. Daß sie nunmehr unter einem anderen Vorzeichen, etwa im Dienst der medizinischen Wissenschaft, geschieht, ändert wenig an dem Sachverhalt selbst.



Auf dem Anatomiebild, das Weiss im Jahr 1946 gemalt hat, liegt ein anscheinend kopfloser Leichnam auf dem Seziertisch. Die ihm entnommenen Organteile sind bereits in allerhand kubischen und zylindrischen Gefäßen aufbewahrt, um ihrer weiteren Bestimmung zugeführt zu werden. Am Gesichtsausdruck der drei männlichen Gestalten, die in kontemplativer Haltung neben dem Opfer der vollendeten Prozedur Platz genommen haben, läßt sich der Ernst der Stunde ablesen. Hier handelte es sich nicht mehr um das öffentliche Schauspiel der Zerstörung eines für schuldig befundenen Körpers, in dem die Gesellschaft ihres Rechts habhaft zu werden vermeinte, während Casanova einer mit ihm das Divertissement verfolgenden Dame unter die Röcke griff. Das Ritual, das an dem Opfer der Weiss'schen Darstellung vollzogen wurde, verdankt sich einer neuartigeren Inspiration, die, im Sinn allgemeiner Ordnungswaltung, hinauswill auf die möglichst vollständige Identifizierung und Rubrizierung aller einzelnen Teile einer in zunehmendem Maß als subversiv denunzierten Körperlichkeit. Wen die drei eigenartigen Totenwächter repräsentieren, das ist allerdings nicht ohne weiteres auszumachen. Sind es, wie die Bildeinteilung vermuten läßt, die ihren auffallend sauberen Händen eine so prominente Position zuweist, die Prosektoren selbst, die hier Rast halten; sind es, wie die antikische Kostümierung suggeriert, priesterliche Auguren, oder, wie zumindest das sokratische Haupt einer der drei Gestalten es nahelegt, Philosophen, die aus Liebe zur Wahrheit diesen Leib zergliederten? Offenkundig ist jedenfalls, daß diese Obduktion, wie die Verhaltenheit der drei Männer und die blinde Indifferenz ihrer den anatomisierten Körper gar nicht wahrnehmenden Augen bedeutet, nicht mehr im Dienst einer rachsüchtigen Jurisdiktion, sondern einer anderen "Idee", eines neutralen Wissenschaftsprinzips durchgeführt wurde und gerechtfertigt ist durch den Zweck oder Wert, den eine neue professionelle Einstellung für sich aus dem Leidwesen der Kreatur extrapoliert. An einem anderen Anatomiebild, jenem bekannten, das Rembrandt van Rijn



in der Frühzeit der bürgerlichen Epoche gemalt hat, ist ja auch bereits auffällig, wie keiner der Chirurgen, die die Demonstration des Dr. Nicolaas Tulp verfolgen, auf den Leichnam des armen Leydener Strauchdiebs Aris Kindt hinsieht, der hier unter dem Messer liegt; wie sie vielmehr alle ihren Blick auf den aufgeschlagenen anatomischen Atlas gerichtet halten, um nicht doch vom Faszinosum ihres Geschäfts überwältigt zu werden. Das Rembrandtsche Bildnis von der Zurichtung eines schon einmal gehenkten Körpers in einem höheren Interesse ist ein erschütternder Kommentar zur besonderen Art der Wissenschaft, der unser Fortschritt sich verdankt. Was das weitaus primitivere Anatomiebild des Peter Weiss betrifft, so bleibt unentschieden, ob der Maler sich dem von ihm dargestellten Verfahren selbst unterworfen wähnte, oder ob er nicht auch, wie Descartes, der bekanntermaßen ein passionierter Amateurchirurg und aller historischen Wahrscheinlichkeit nach mehrmals Zeuge des Tulpschen Anatomieunterrichts gewesen ist, in der Zergliederung der Körper, die er in seinem Werk immer wieder vornimmt, das Geheimnis der menschlichen Maschine entdecken zu können vermeinte.






Obduktion

Ein um zwei Jahre früher entstandenes Obduktionsbild, das einen einesteils sehr viel humaneren, andernteils sehr viel grauenhafteren Anatomen zeigt, der sich, das Messer in der Rechten und in der Linken ein herausgeschnittenes Organ, mit dem Ausdruck völliger Untröstlichkeit über den vor ihm geöffneten menschlichen Körper beugt, läßt ein gewisses morbides und identifikatorisches Interesse an der Sache bei Peter Weiss nicht ganz ausgeschlossen erscheinen. Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang noch jene Passagen der Ästhetik des Widerstands, in denen Weiss mit weit intensiverem Engagement als in den politischen Abteilungen seines Werks die Geschichte des Malers Theodore Gericault beschreibt, der sich, so die


Interpretation des Autors, gleichfalls "in der Leichenkammer ... in das Studium der erloschenen Haut" versenkte, weil "er eingreifen wollte in das System der Unterdrückung und Destruktivität". Dem politischen Motiv, das Weiss hier, wie überall in der Ästhetik des Widerstands, in den Vordergrund rückt, widerspricht freilich der für die Kunstwirkung letzten Endes maßgebliche Beweggrund, daß nämlich an der zitternden Grenze, wo das Transzendieren einsetzt, das Körperliche am stärksten skulptiert und in seiner 'Natur' am besten erkennbar ist. Aus einer solchen vom Erkenntniswillen bewegten Affinität zum Toten, die ja auch eine libidinöse Besetzung des traktierten Objekts impliziert, ergibt sich der Verdacht, daß die Handlung des Malens in einem Fall wie dem Gericaults, als ein Exempel jener extremistischen Kunstübung, der auch Weiss sich verschreibt, letzten Grundes gleichbedeutend ist mit dem Versuch des von der Wirklichkeit des menschlichen Lebens entsetzten Subjekts, durch sukzessive Zerstörungen selber sich abzutöten. Der schwärzlichen Masse des Werks Theodore Gericaults, in die der Ich-Erzähler der Ästhetik des Widerstands sich hineinversetzt, weil sie ihm jene Schicht zu repräsentieren scheint, in der "die Unerträglichkeit des Lebens ihre Wurzeln hat", entspräche, unter diesem Aspekt, der Text der Ästhetik, dieses wahrhaft katastrophalen Romanwerks, in dem Peter Weiss das, wie er wußte, wenige ihm noch verbleibende Leben mit einer erschütternden Systematik zugrunde gerichtet hat.



Illustration (Abschied von den Eltern)

Weiss hat sich 1963 notiert, er könne von vielen seiner Arbeiten sagen, sie stammten schon aus der Kinderzeit, eine Bemerkung, die sicher auch auf die in der Folge noch geschriebenen Werke zutrifft und die einen Hinweis enthält auf die Ätiologie des Zwangs, unter dem seine literarische Produktion sich vollzieht. Mit Abschied von den Eltern hat er innerhalb seines Werkzusammenhangs relativ früh schon eine exemplarische Untersuchung vorgelegt, in der er die vergessenen und verdrängten Leiden und Leidenschaften seiner Kindheit rekapituliert, die die Psychoanalyse ihm zutage fördern half. Das ikonographische Äquivalent davon ist das Bildnis eines versonnenen Knaben im Matrosenanzug, der in einer der dem Text beigegebenen wundersamen Collagen vor einem aus Fabrikhallen und Sakralbauten zusammengesetzten architektonischen Prospekt mit einem kleinen Spaten ein Stück Ödland umgräbt. Die archäologische Erforschung der Kindheit beginnt bezeichnenderweise mit der Erinnerung an den Tod des Vaters.












Der Hausierer, 1940, Öl auf Leinwand 77,5 * 56,5cm
Das große Welttheater, 1937, Öl auf Holz 120 * 170 cm
Albrecht Altdorfer: Alexanderschlacht , 1529 Öltempera auf Lindentafel, 158 x 120 cm
Das Gartenkonzert, 1938, Foto des teilweise vernichteten Ölgemäldes
Das Gartenkonzert (Fragment), 1938, Öl auf Holz 51* 27,3cm
Selbstbildnis, 1946, Gouache 34 * 19 cm
Selbstbildnis, ca. 1946, Öl auf Holz 23 * 20 cm
Anatomie, 1946, Tempera auf Papier 33,5 * 52 cm
Rembrandt van Rijn: Die Anatomie des Dr. Tulp, 1632, Öl auf Leinwand 169,5 cm × 216,5 cm
Obdukution, 1944, Öl auf Leinwand 100 * 128,5 cm
Theodore Gericault: Das Floß der Medusa, 1818/19
Theodore Gericault: La monoman de l'envie, Die Irre, um 1822
Theodore Gericault: Der Page Mazeppa, um 1820
Collage VI "Abschied von den Eltern", 1962, 25 * 45 cm
Collage IIII "Abschied von den Eltern", 1962, 24 * 34 cm