Mir hat es geträumt, Herr, ich sei ...
Die Schilderung des Fluges von seinem Haus in Poringland nach München,
um dort in der Alten Pinakothek die Alexanderschlacht anzuschauen, vermittelt uns
den Eindruck, als spräche Sebald von einer Position jenseits des Lebens oder
auf der Schwelle zwischen Leben und Tod zu uns.
Auch die Beschreibung des Fluges und Schlachtbildes hält er außerirdisch und
jenseitig, wie die Schlusspassagen der vorausgehenden, Grünewald und Steller gewidmeten
Gedichtteile, die jeweils die Vision enthalten, in der das irdische Leben
des Künstlers und Naturalisten in einen jenseitigen Bereich schreitet.
„Mir hat es geträumt, Herr“ - der dritte Teil des Elementargedichts hebt als Gebet an,
der Betende berichtet seine Traumvision aus einer anderen Welt mit
parataktischen Parallelkonstruktionen, rhythmischen Wortwiederholungen und Kadenzen,
die an die Psalmen der Bibel erinnern.
Trotz der biblischen Ankläge, trotz der Tatsache, dass der
Betende in dem Moment, als er von der Schilderung seines Fluges zur
Beschreibung des Altdorefergemäldes übergeht, ein Bild der Offenbarung des Johannes entlehnt
(das zweifach geschliffene Schwert), blendet Sebald die jüdisch-christliche Tradition
zugunsten einer radikal anderern Jenseitsvision aus:
Das Ich des Gedichts, das sich im Auffinden,
Konstruieren und Evaluieren von Bildern aller Art auszeichnet, eine Figur, die in und über Bilder
mit längst verstorbenen Künstlern kommunizieren und so in die
Vergangenheit wie in die Zukunft reisen kann, entpuppt sich in dieser
Schlusspassage als Schamane, erinnert an Mircea Eliade vor allem in den Religionen
und Riten Nordasiens und Nordamerikas als Seelenführer fungiert und mit
einer vielfältigen Flug- und Vogelbildlichkeit assoziiert ist.
Die Traumvision lässt sich in vier Segmente unterteilen:
- nächtlicher Flug von East Anglia nach München;
- Beschreibung der Schlachtszene Altdorfers;
- traditionelle, ideologische Deutung des Schlachtenausgangs als
„Sieg des Westens über die asiatischen Horden“, ergänzt um die Anekdote,
die den Einsatz von Kunstwerken zur Illustration ideologischer
Programme beleuchtet;
- erneuter Flug, die Gesamtkomposition des Bildes würdigend,
was ermöglicht, die ideologische Komponente der menschlichen
Geschichte wechselnder Machtverhältnisse einer sie relativierenden,
überwältigenden Naturschönheit von kosmischen Dimensionen gegenüberzustellen.
Der Betende, der über Sebalds Haus in
East Anglia aufsteigt, mühelos hoch in den Lüften wie ein Rochen unter
Wasser durch die hereinbrechende Nacht gleitet, den Kanal überquert und
der unheimlich beleuchteten Industrielandschaft rheinaufwärts nach Süden
folgt, formuliert das Flugerlebnis als eine Art Metamorphose in ein anderes, flugbegabtes
Wesen. Der Flug erscheint paradox als die
Verkörperlichung von Levitation, als körperliche Erfahrung der vom
menschlichen Körper getrennten Seele. Der Blick zur Erde streift über eine
verschmutzte Industrielandschaft, beschrieben als monströses, amorphes, im
Sterben und Verrotten noch sich fortzeugendes Geschöpf.
Die Sinneswahrnehmungen verstärken den
Eindruck einer ekstatischen, entkörperlichten Erfahrung, der zeitliche
Bezugsrahmen scheint zu expandieren als auch zu kollabieren. Die
Reise endet nicht mit der Ankunft des Reisenden in der Pinakothek,
sondern indem er in einer Überempfindlichkeit, die ihm
anzuzeigt, dass er „dem End schon so nah“ ist. Reiseziel und Ende der Zeit
fallen ineins, woraufhin, Himmel und Erde von einem zweifach geschliffenen Schwert
geteilt werden, der Raum hell erleuchtet wird und in großartiger Vogelperspektive
der Blick Altdorfers sich auf die Schlachtenlandschaft öffnet.
Zunächst liest Sebald das Gemälde im Sinne der Inschrift und der Banner,
anschließend relativiert er die Lektüre durch zwei Anekdoten.
Die erste aus der Schulzeit:
Als glücklich
Beschrieb der kluge Kaplan,
der einen Öldruck des Schlachtbilds
neben der Tafel aufgehängt hatte,
diesen Ausgang der Dinge. Er sei,
sagte er, eine Demonstration
der notwendigen Vernichtung aller
aus dem Osten heraufkommenden Horden
und also ein Beitrag zur Geschichte des Heils.
Die zweite aus der Kafka-Lektüre:
Seither hab ich bei einem andern
Lehrer gelesen, wir hätten den Tod vor uns,
so etwa wie im Schulzimmer an der Wand
ein Bild der Alexanderschlacht.
Die imperialistische Deutung wird in der ersten Anekdote vom rassistischen
Religionslehrer aufgegriffen und als Einengung des Bildes kritisiert durch
Hervorhebung der Tatsache, dass es sich bei dieser Art von Bildbetrachtung
um eine Reduktion des Gemäldes auf eine Illustration handelt. Hier geht es
nicht um das gewaltige Ölgemälde, sondern nur mehr um einen neben der
Tafel aufgehängten Öldruck. Die andere Anekdote bedient sich
der Alexanderschlacht wiederum als Illustration, doch diesmal werden der
mediale Charakter der Reproduktion und die Beliebigkeit dieser Art von
Bildbetrachtung hervorgehoben: Was für den Kaplan einen „Beitrag zur
Geschichte des Heils“ illustriert, veranschaulicht für einen anderen Lehrer, nämlich den
Schriftstellerkkollegen Kafka, die Konfrontation mit dem Tod.
Gegen diese Bildlektüren, die beide das Bild auf eine Illustration einer
übergeordneten Wahrheit reduzieren, wird die Bildbetrachtung
- und das Gesamtgedicht - zum Abschluss gebracht, zurückkommend auf
die Vogelperspektive des Gemäldes Altdorfers:
Ich weiß jetzt, wie mit dem Aug
eines Kranichs überblickt man
sein weites Gebiet, wahrhaftig
ein asiatisches Schauspiel,
und lernt langsam an der Winzigkeit
der Figuren und der unbegreiflichen
Schönheit der Natur, die sie überwölbt,
jene Seite des Lebens zu sehen,
die man vorher nicht sah. Wir blicken
über die Schlacht hin und sehen,
von Norden nach Süden schauend,
sehn wir ein Lager mit weißen
persischen Zelten im Abendglanz liegen
und eine Stadt an der Küste.
Dieser zweite Blick erkennt, was Altdorfers Bild
vor anderen Darstellungen von Alexanders Sieg über Darius auszeichnet:
Kann das Gemälde einerseits hinsichtlich der enormen Fülle kleinster
Detaildarstellungen – die beiden Protagonisten verlieren sich beinahe im
Meer ihrer Truppen – als eine wahre tour de force der Miniaturmalerei
gesehen werden, beeindruckt andererseits der weit reichende Blick über
diesen Teil der Erde. Altdorfer hatte eine
schematische Landkarte der mediterranen Welt zum vorbild und in eine
kosmische Landschaftsdarstellung transformiert: ein Blick, der sich bis zum
Niltal und zum Roten Meer erstreckt und den Himmel zwischen Mond und
untergehender Sonne einschließt. Auch wenn das ideologische
Darstellungsanliegen, das Altdorfer mit dieser Perspektive verknüpfte, im
Aufweis der globalen Bedeutung dieses Sieges gelegen haben mag, bewirkt
diese exaltierte Vogelperspektive zugleich eine radikale
Relativierung allen menschlichen Unternehmens; sogar heroische Leistungen
verblassen ins Unbedeutende hinsichtlich der Größe und Schönheit der
Natur.
Das Gedicht endet mit dem Ausblick, der als Alternative
zur schreckenerregenden Apokalypse als Vision einer die
Dunkelheit verdrängenden Helligkeit inszeniert wird, aber nicht als
Ankündigung dieser Hoffnung, sondern bewusste Fiktion:
Das Nildelta ist zu erkennen,
die Halbinsel Sinai, das rote Meer
und weiter noch in der Ferne
das im schwindenden Licht sich
auftürmende Schnee- und Eisgebirge
des fremden, unerforschten und
afrikanischen Kontinents.
In seinem erneuten Flug als Schamane, begleitet vom Kranich,
wird der Reisende Vermittler zwischen radikal getrennten
Welten. Er verweist nicht auf etwas anderes, sondern stellt Wunder und Hoffnung,
das Staunen und den Flug in der erneuten Rückkehr zum Bild wieder als Original her.
Der Dichter produziert zuletzt ein Kunstwerk im Prozess des Erinnerns und Entdeckens
nicht ideologisch vorprogrammierter Einsichten, anhand derer er Szenen des
Grauens, der Zerstörung und der Grausamkeit wahrzunehmen vermag, ohne
sie zu beschönigen, aber auch ohne sie als notwendig und unvermeidbar in
eine deterministische Geschichtserzählung einzuordnen; er setzt sie vielmehr
neben Szenen voll sinnlicher Schönheit.
nach Dorothea von Mücke
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