...ich höre relativ selten Musik. Ich habe also weder einen Plattenspieler noch ein Tonband noch sonstige Geräte zu Hause.
Und deshalb hat sie für mich einen relativ hohen epiphanischen Wert, wenn ich sie mal höre.
Das ist meistens unvorhergesehen, also wie hier jetzt, sozusagen, im Studio, oder wenn ich im Auto sitze und
das Autoradio andrehe und zufällig etwas kommt, was mir sehr nahegeht. Und ich habe dann tatsächlich ein, glaube ich,
relativ intensives Hörgefuhl aus dem einfachen Grunde, dass ich es so selten höre.
Und wenn man sich das mal überlegt, dann ist das ja auch ein sehr neues Phänomen, daß
die Musik ständig und zu jeder Zeit verfügbar ist und die tägliche Tapete des täglichen Lebens darstellt,
sozusagen. Ich stelle mir vor, wie schwierig es zum Beispiel noch um die Jahrhundertwende gewesen sein muss, nicht?
Also, man hat dann vielleicht eine Brahms-Oper oder ein Brahms-Klavierkonzert vielleicht einmal in seinem Leben gehört,
wenn es gerade in Wien aufgeführt worden ist ...
"The Long Road", Die lange Straße, der lange Weg aus dem Film "Cal". Mark Knopfler,
ein Gitarrist der sogenannten Rockmusik, wird es spielen, er hat es auch komponiert. Und Sie,
Herr Sebald, wollten es hören. Warum? Warum - ja, das ist eine etwas komplizierte oder auch gar nicht komplizierte Geschichte.
Ich habe ja ziemlich spät mit dem literarischen Schreiben angefangen; ich habe zunächst eigentlich nur
literaturkritische Monographien und Essays verfaßt. Und dann Mitte der 8oer Jahre stellte sich aus mir nicht ganz begreiflichen
Gründen das Bedürfnis ein, auch selbst sogenannte Primärwerke irgendwie zu verfassen.
Und das begann damit, daß ich also eine Reihe oder besser gesagt drei sehr lange Gedichte geschrieben habe,
von denen sich das erste mit dem Maler Grünewald befaßt, das zweite mit der Alaska-Expedition Berings und das
dritte mit einer Art Naturgeschichte der Nachkriegszeit. Und beim Schreiben des Grünewald-Gedichts ...
ich glaube, ich habe das etwa kurz vor Ostern 1985 geschrieben, war allein zu Hause und habe mich mehrere Tage
eigentlich nur damit beschäftigt (und Nächte hindurch auch). Und als ich damit fertig war, rief mich ein Bekannter
an und sagte: Willst Du nicht mit ins Kino gehen? Und dann habe ich gesagt: Na ja, trifft sich ganz gut,
ich habe gerade einen sehr langen Schlauch hinter mir; gehen wir.
Und ich wußte nicht, um was für einen Film es sich handelt; und es war dieser Film aus dem irischen Bürgerkrieg,
Cal, ein sehr, sehr eindringlicher, einem sehr nahegehender Film. Und irgendwo in diesem Film,
ich glaube, gegen das Ende zu, besucht der junge Held dieses Films ein abgelegenes Farmhaus
in der nordirischen Provinz und geht in den oberen Stock hinauf. Und auf dem Treppenabsatz hängt
in diesem Film der Isenheimer Altar.
Franz Schubert, Klaviersonate B-Dur, "Andante sostenuto"
Schubert ist natürlich der Unergründlichste für mich von allen.
Es gibt bei Schubert diese seltsame Chromatik, die mich an etwas erinnert,
an das ich gar nicht zurückdenken kann, so weit ist das hinter mir.
Es hat wahrscheinlich irgend etwas mit alpenländischen Tonfolgen zu tun oder volksmusikhaften
Tonfolgen und Halbtonschritten, bei denen man also das Gefühl hat, das ganze Welten aufgehen,
von denen man vorher nichts gewußt hat. Und das ist in diesem langsamen Satz — und ich mag vor allem,
meiner Grunddisposition entsprechend, die langsamen Sätze in der Musik -, in diesem langsamen Satz,
den Schubert kurz vor seinem Ende komponiert hat, deutlicher als in fast allen seinen anderen Musikstücken.
Mit ganzer Hingabe & einem weit in die Ferne gerichteten Blick spielten die korsischen Gaukler,
genau wie die von Bohumil Hrabal einmal auf die wunderbarste
Weise beschriebenen Böhmerwaldmusikanten, die dereinst durch die mährischen Städtchen zogen
in der Sommerszeit. Die Akkorde & Töne, die sie aneinanderreihten, hatten eigenartige Farben, halb aus Afrika,
schien es mir, & halb aus dem Alpenland. Manchmal glaubte ich, ein Kirchenlied zu hören oder
die Drehung eines Walzers, dann wieder die schleppenden Takte eines Trauermarsches,
wo die im letzten Geleit Gehenden bei jedem Schritt den Fuß, eh sie ihn aufsetzen, kaum
merklich einhalten in der Luft.
Jedenfalls war es, als klänge diese seltsame Serenade zu uns herüber aus einer um vieles
langsameren Welt & als bringe sie einen Trost, von dem fast niemand mehr weiß.
Insbesondere bei dem Stück, das die Musiker als Zugabe noch spielten, schien mir das so.
Es war wie ein Abgesang auf das ganze Leben & erinnerte mich bis in ihre Einzelheiten
an den Andante sostenuto überschriebenen Satz der Klaviersonate in B-Dur, die der im Himmelpfortgrund
geborene Franz Schubert kurz vor seinem Ende mit der ihm damals eignen schlafwandlerischen
Sicherheit geschrieben hat.
Es ist mir nach wie vor unvorstellbar, daß die korsischen Zirkusleute
diese in ihrer Getragenheit unvergleichliche Musik selber noch einmal erfunden haben sollten;
wahrscheinlich, so dachte ich mir, hatten sie sie irgendwann einmal gehört &,
was man gut verstehen kann, nie mehr vergessen.
Sie verfolgen einen ja bis in den Schlaf, die Baßtöne, die gleich zu Beginn aus
dem Untergrund aufsteigen wie Blasen aus einem dunklen Weiher, der Wolkenschatten,
der mit dem Wechseln der Tonart auf einmal vorüberzieht, der einzelne Klang des Totenglöckchens,
das seitab geläutet wird, die immer höher gehenden, nach Rettung suchenden Griffe der rechten Hand
& dann dieser winzige Schritt von x auf y, ein Fehltritt beinahe (über den Rand des Abgrunds hinaus)
& doch so wahr & genau, daß man wie der arme Heinrich im Märchen die eisernen Bande
von seinem Herzen springen hört. Mir war es an jenem Abend nicht nur, als weitete sich mir
zum erstenmal seit langem die Brust wieder aus, sondern als wachse mein Schädel von
innen bis an das Firmament, als löste er sich mitsamt meinem nutzlosen,
Grad für Grad transparenter werdenden Körper weit draußen zwischen den ausgestreuten
Lichtern allmählich auf.
Was die Musikanten selber verspürten beim Spielen der ihnen von weiß Gott woher zugewehten Wiener Musik,
kann ich nicht sagen, aber ich weiß, daß ich nicht der einzige im Publikum gewesen bin,
dem die Seele aufging, denn mehr als einer der mit ihren Kindern still lauschenden
Frauen traten unversehens glänzende Tränen in die Augen, die ich sie verstohlen abwischen sah,
Tränen weniger wohl des Glücks als der Trauer über unser eigentlich nur aus falschen Bechnungen
& Einbußen bestehendes Leben.
Unerklärlich aber wird einem von grundauf unmusikalischen Menschen,
wie ich es bin, immer bleiben, was einen an gewissen Klängen derart ergreift.
Quellen: Sebald 1996 im Gespräch mit Walther Krause, W. G. Sebald "Auf ungeheuer dünnem Eis", Gespräche 1971 bis 2001,
her. Torsten Hoffmann Frankfurt/M. 2011
Aufzeichnungen aus Korsika. Zur Natur- & Menschenkunde, aus dem Nachlass her. U.v.Bülow S. 185ff
Schuberts letztes Instrumentalwerk von 1828, posthum 1838 veröffentlicht, die monumentale Sonate in B-Dur:
Lyrisches Singen ihr Grundton, nicht dramatische Kontraste oder motivisch-thematische Arbeit.
In Verwandtschaft zu Sebalds Schreiben Musik in freiem fabulierenden Fließen,
Umkreisen und Weiterspinnen eines Hauptgedankens, entspannte, kontemplative Tonsprache...
Das abgründige „Andante sostenuto“ in cis-moll einerseits schwermütiger Pessimismus,
aber gebettet in zarte lichte Melodik: ein versöhnlicher, friedvoller Ton hält Einzug.
Unverhoffte harmonische Lichtwechsel.
Der unbeirrbar gleichmäßigen Begleitung des Beginns folgt eine feierlich-erregte Sechzehntelbewegung
im Mittelteil, der Satz schließt mit harmonischen Chromatisierungen von großem Zauber ...
Wen verwundert es, dass die Nachwelt diesen Satz Schuberts als sein Vermächtnis betrachtet.
Alfred Einstein: „Abschied und Verklärung, Höhepunkt und Apotheose von Schuberts instrumentaler Lyrik."
Es spielt Richard Pohl, geboren 1983 in Ostrava/Tschechien
Cal, britisches Filmdrama von 1984. Im nordirischen Provinzort Ulster sind die Katholiken in der Minderheit.
Ohne viel von Politik zu verstehen, schließt sich der einsame Cal der IRA an.
Der 19-Jährige bekommt einen Job als Fahrer. Nach dem Mord an einem britischen Polizisten steuert er den Fluchtwagen.
Und nach der Aktion verliebt er sich in die einige Jahre ältere Witwe, Beginn einer Liebe, die so hoffnunglos
ist wie die Aussicht auf Frieden in Nordirland … (engl.)
Mark Freuder Knopfler, geboren Glasgow 1949, britischer Musiker,
Kopf und Gründer von Dire Straits, mit welcher Band er weltweite Bekanntheit erlangt, einer der besten E-Gitarristen der Welt.
Knopfler
schreibt die Musik für mehrere Filme, darunter Cal;
aus dem gleichnamigen Album stammt "The Long Road".