1986

Lieber Gott

Lieber Gott

vor ein paar Stunden hab ich dich einfach so angeredet.
Ich war pinkeln stockbesoffen und den Kopf an die Kacheln des Pissoirs gelehnt
kaum mehr in der Lage meine Männlichkeit in den Griff zu kriegen
und da überkam mich plötzlich das Gefühl der Ewigkeit.
Du wirst dich in diesen Fällen nicht so auskennen
aber du musst mir das einfach glauben diese Stellung hilft einem eben
etwas von der Ewigkeit kennenzulernen.
Plötzlich hat man sein Gleichgewicht gefunden.
Hände am Hosenlatz
ein Bein leicht angewinkelt und man ist so froh,
nicht mehr umzufallen
dass man das nie mehr aufgeben will.
Jedenfalls kam mir da plötzlich dieses
"Lieber Gott"
über die Lippen und ich wunderte mich
dass ich dich auf einmal
so liebevoll angeredet habe.
Wir beide sind uns im Laufe der Jahre über manches klarer geworden.
Du willst mir nichts mehr vorschreiben
und ich will dir nichts mehr vormachen.
"Liebe Gott und tue, was du willst",
diesen Augustinus hat man mir früher immer verschwiegen.
Dafür haben sie uns ab und zu
kleine Hauchbilder in die Hand gedrückt mit schönen Engelmännern drauf
die gebrechliche Damen über Brücken geleiten.
Aber wenn ich mir das mal ohne Hass durch den Kopf gehen lasse -
so dumm kannst du gar nicht sein
wie dich die Jahrhunderte dargestellt haben.
Von deinem Standort aus überblickst du alles ja soviel besser -
wie sich Gesetze ändern
wie unmenschlich menschliche Ordnungen sind
wie sprunghaft die Schuld ist.

Lieber Gott
du kannst ja gar kein Rächer sein und schon gar kein Moralist.
Eigentlich hast du zuerst mal immer verdammt viel mit mir zu tun.
Und du kannst warten.
Ewigkeiten fließen durch dich hindurch und du wartest einfach.
Schreibst keine Romane,
hörst nicht mal Gustav Mahler an
drückst dich in der Straßenbahn nie an Mädchen
was Gott, wenn ich nicht wäre?
Hab ich recht
stirbt was an dir
wenn ich aufgebe?
Du nimmst mich doch böse und gut
grausam und mildtätig
Hauptsache ich bleib am Ball.
Ich würde gern mal mit dir
einen Nachmittag lang durchs Universum fliegen
aber lass mich wieder zurück.
Ich habe noch soviel zu erledigen hier unten
bin wohl noch nicht ganz fertig.
Will im August in die Toscana
habe noch eine Menge Musik zu machen
muss ein paar Leuten auf die Zehen treten
meine Leber hält auch noch einiges aus.
und lieben will ich,
lieber Gott,
lieben, bis mir das Fleisch von der Seele fällt.
Haben das deine Engel mal so gemacht?

Wahrscheinlich muss mich erst wieder die Ewigkeit streifen
in irgendeinem Pissoir
bis wir wieder mal miteinander plaudern.
Aber wir haben ja Zeit.
Werde bis dahin versuchen
schön chaotisch zu bleiben
Gesetze zu brechen
und der Macht aus dem Weg zu gehen
das ist mir Moral genug.
Und nur unter diesem Gesichtspunkt
sollten wirs weiter miteinander versuchen.
Will mich nicht messen mit dir.
Will auch nicht in die Knie sinken.
Drück mir die Daumen und schäm dich nicht,
vorbeizuschauen
wenn ich traurig bin.
Das habe ich nämlich schon lange rausgekriegt:
Ihr Götter könnt nicht weinen und
müsst durch unsere Tränen stark werden.
Lass mich nicht fallen,
lieber Gott.




Liebe Freunde, dieser Text aus dem Jahre 1986 - obwohl es offensichtlich das Gedicht eines doch viel jüngeren Mannes ist - beschreibt auch heute noch sehr treffend meine Einstellung zu Religion und Kirche, Spiritualität und Glaubensgeboten.

Eugen Drewermann schreibt so schön von Gott, der größer sei als sein Missbrauch.

Das hoffe ich auch...