Du weißt genau, was ich meine!
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Reverse Engineering an der Holderness-Küste
(Nachbauen ...)
Will Self, Schriftsteller mittleren Alters, mit Liebe zum Wandern und zu Schelmengeschichten, fühlt zunehmende Affinität zum Werk Sebalds.
Was aber passiert, wenn er seine Sensibilität (dicht gefolgt von seinem Leib) auf ein sebaldsches Abenteuer entlang der kollabierenden Holderness-Küste schickt?
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Wenn wir unser Wissen über den Menschen Sebald auf die Lektüre seiner vier Bücher allein gründen wollten, wären wir nicht viel schlauer.
Wir finden einen bien-pensant bestimmten Alters, umherwandernd, aber mit Abneigung gegen die morbiden Extravaganzen des Reisens Ende des 20. Jahrhunderts. Ein einsamer Mann, der aber enge Freundschaften pflegt, eine emotionale Persönlichkeit voller Verdrängung (in den vier Gegenwartsromanen finden sich ganze zwei voyeuristische Schilderungen von Sex) - und so weiter.
Mit anderen Worten, so wie Sebalds quasi-fiktionale "Charaktere" zu uns sprechen, indem sie ihre Worte an das Innerste seines Alter Egos richten, so erscheint dieses Alter Ego selbst eher als Echo einer Person und nicht als reales Wesen.
Es erinnert an Tennysons "Maud": And Echo there, whatever is asked her, answers 'Death'.
Es half, dass ich Sebalds Alter Ego durch eine Landschaft begleiten durfte, die mir seit meiner frühen Kindheit bekannt ist: Suffolks Nordküste. Und noch mehr half, dass ich dort zu genau der Zeit in melancholischer Einsamkeit lebte, als Sebald unterwegs war, um die Brokat-Prosa seiner Ringe des Saturn zu weben. Das Facettenauge des Kernreaktors Sizewell B, die seltsam labyrinthische Wüste aus Heidekraut und Farn der Dunwich Heide - die niedrigen und abbröckelnden Klippen Richtung Benacre, wo sein alter Alter Ego fast durchdreht, als zwei Leichen sich als Paar entpuppen, die Liebe machen - das alles sind Plätze, wo auch ich war.
Dann half schließlich, dass ich einen Bezug zum Holocaust hatte, definiert über Emigration, Vertreibung und Verneinung: meine Mutter, sowohl ihr eigenes Judentum und als auch Briefe ihrer Verwandten verleugnend, die in die Vereinigten Staaten geschickt werden sollten, um während des Kriegs um Geld zu betteln; Briefe, die, wie sie später erfuhr, die Nazis sie gezwungen hatten, zu schreiben. Dann gab es noch die alte Polin am Ende des Blocks, die ihre Ligusterhecken mehr und mehr wuchern ließ, weil sie glaubte, wie meine Mutter behauptete, dass dann die motirisierten Todesengel-Kolonnen der Nazis daran vorbeiziehen würden.
Vielleicht beruhte meine Neugier auf Sebald auf diesem Gefühl der direkten Verbindung, und darauf, was das Genre seiner Werke ausmachte, was die Kritiker verwirrte, was mich wiederum ungeduldig machte. Denn all das sind schlichte und einfache Schelmenromane: Eben Reisen als Grundlage von Geschichten, und die Ausschmückungen - persönliche, anekdotische, historische - stammen daher, er nennt sie Begegnungen von unterwegs. In den Ringen des Saturn ist das ganz deutlich, aber es gilt ebenso für die anderen Bücher, und wenn wir deren Aufbau chronologisch betrachten, sieht man, dass die Schwindel.Gefühle mit ihren Schmerzensspuren durch Europa - ob heute oder damals oder noch weiter zurück - paradigmatsich sind für jeden Sebald-Text. The rest are rewrites.
Ich greife mir selbst vor, denn das ist eine Schlussfolgerung, die ich schon gezogen hatte, bevor ich Schwindel.Gefühle las. Ein Verwandtschaftsgefühl zu Sebalds Alter Ego wuchs, es gründete sich zum Teil auf meine eigenen immer zahlreicher werdenden Schelmenstücke. Ich wanderte, ich fuhr, ich flog, ich wanderte wieder - dann schrieb ich es auf. Und mein zunehmendes sebaldschen Alter Ego: Ich kam in das Alter, in dem er begonnen hatte, seine Schelmenromane zu schreiben, ich war ein Mann mittleren Alters, mit leichtem Gepäck, kleinem Zubehör, und einer wachsender Abscheu vor Computern.
Und auf den Wanderungen fand ich es ebenfalls schwierig, die Kluft zwischen dem Auf- und Abwickeln meiner inneren Diskurse und den seltsam zwergenhaften Menschen zu überbrücken. As for the douceur de la vie, well, ich habe Pik, klar.
Meine Entscheidung, "Reverse Engineer", einen Text auf sebaldsche Art zu schreiben, stand fest: Ich hatte bereits eine ähnliche Sensibilität, alles, was ich tun musste, war, sie mit auf eine Wanderung zu nehmen und zu sehen, was da kommt. Oder noch einfacher, ich schicke sie einfach auf eine Wanderung, wie Sebald sein Alter Ego losschickte. Mit ihr konnte er Marie Henri Beyle über den St. Bernhard Pass begleiten, oder Großonkel Adelwarth und Cosmo Solomon auf ihrer Grand Tour oder Austerlitz' Mutter Agata in das furchtbare Ghetto Theresienstadt oder Austerlitz auf den Kindertransport. Aber sobald mir diese Idee gekommen war, begann ich mich unwohl zu fühlen. Wenn ich eine fiktive Reise beschreiben würde, womit ich mich beschäftigte, wer weiß, was passiert, wenn ich die dann tatsächlich unternahm? War das nicht die erhabenste Form, das Schicksal zu testen? Wie sagte nicht Austerlitz im Innersten von Sebalds Alter Ego: "Alle Momente unseres Lebens scheinen mir dann in einem einzigen Raum beisammen, ganz als exisitierten die zukünftigen Ereignisse bereits und harrten nur darauf, daß wir uns endlich in ihnen einfinden". Ich machte mich auf, diese Ereignisse aus ihrem Versteck zu holen.
Alles war viel aufregender, als ich zu hoffen gewagt hatte. Ich beschloss, drei Tage in East Yorkshire entlang der Holderness-Küste von Nord nach Süd, von Flamborough Head bis Spurn Head zu wandern. Diese schnellst erodierende Küste Europas verliert jedes Jahr bis zu drei Meter ihrer lehmigen Klippen; seit der römischen Invasion sind Dutzende von Dörfern und eine Reihe bedeutender Städten ins Vegessen des Meeres, "German Ocean" genannt, versunken. "Away with me in post to Ravenspurgh", schreit Northumberland im zweiten Akt, Szene Eins von Richard II. - aber Ravenspurgh ist heute verschwunden. Was könnte sebaldscher sein, als dieser Land-Versinkens-Akt, diese Vernichtung einer Küstenlinie? Und ist es nicht noch seltsamer, wie wenig darüber im englischen Bewusstsein vorhanden ist; das Einzige, an was ich mich erinnern kann, ist Michael Barratt im BBC-Fernsehen Nationwide, als ich ein Kind war. Er im Fernsehstudio, mit seiner 1970er Kappe, ein schmelzender Eiscreme-Haar-Klecks tropft über seine Stirn, die Live-Schaltung zu Skipsea an der Holderness-Küste steht, er interviewt einen Mann, der in einem halben Wintergarten steht und jammert: "I can't oonderstand it, I oonly poot those UPV windows in last year - and now look at them!" Was ist dieses kollektive Verleugnen in der Art Knuts anderes als ein Kokon, weil der englische Liliputaner die Verkleinerung seines einst mächtigen Reiches nicht verträgt, und zuschauen muss, wie seine Insel durch die Salamitaktik dahinschwindet.
Da saß ich nun in meinem Zimmer in London und sammelte die Materialien, die ich brauchte, um eine virtuelle Wandertour an der Holderness-Küste zu machen, und erlebte, ohne darum gebeten zu haben, eine Verringerung meines Selbst, als meine Psyche die Fremdkörper von der Außenhaut abschüttelte, und plötzlich zu einer Muschel wurde, poliert vom Gezeitenstrom der Menschenmenge, der über London nach Kings Cross flutete, um zum Zug nach York zu kommen. Natürlich - oder vielmehr unnatürlich - artikulierte sich dieser Prozess dann als Amnesie: "When I came to consider the matter, the truth was that my memory had been fraying at the edges for some time; the grey waters of Lethe undercutting its soft cliffs, so that my bungaloid recollections - which, no matter how tasteless, had the virtue of being owned outright, not mortgaged - tumbled on to the beach below."
Eine Amnesie dazu, die mit schrecklicher Verwirrung verbunden war: "Rounding the corner by Wellington's house at Number One, London, I would find myself in uncharted waters, with pigeons and gulls wheeling insultingly overhead. That middle-aged Italian couple - he with sprinkling of salt-and-pepper beard, she sporting a youthful cropped T-shirt and with a bum like a bum bag - would it be too strange to ask them if I might consult the map they held open between them? For I no longer knew my way around this city."
Und dann war da die Fotografie, die ich vor der Schule meines Sohnes in der Gosse fand, noch am Anfang meines Experiments: "It was a black and white scrap, the top right-hand corner, suggesting that the whole thing had been torn in half, then in half again. I seized upon it - as if it might be a clue of a special kind. Not that it portrayed anything at all remarkable: only most of the head of a fleshy-faced white man in his mid-thirties; a man who had a scraggy beard that hung to the bottom of his chin, and whose bare scalp was outflanking on both sides his attempt at a quiff. He looked amiable enough - or harmless until proved psychopathic by the legwork the clue seemed to demand."
Ich könnte fortfahren - wozu... Jeder, der Sebalds fiktives Alter Ego auf seinen Reisen begleitet hat, weiß, was mich erwartete. Es genügt zu sagen, dass das Reverse Engineering gewirkt hat und es während der Wanderung entlang an der Holderness-Küste und den zerfallenden Klippen mein eigenes fiktives Alter Ego durch die Zeit geschickt hat, mein Körper war da, er fand die Straßen von Bridlington - wo sich normalerweise im Juli die Urlauber tummeln - selstsamerweise leer. Und zu alledem machte ich, als ich Meile um Meile dahinstapfte, die unheimliche Erfahrung, die diese Ereignisse auslösten, dass mein Alter Ego mich verlassen hatte, wie psychische Fußangeln, die auf mich warteten. Und da ist der Jäger Gracchus, nicht wiederbelebt aus Sebalds Schwindel.Gefühle, sondern für sich sprechend durch den Bauchredner Franz Kafka: Ich bin immer auf der großen Treppe, die hinaufführt. Auf dieser unendlich weiten Freitreppe treibe ich mich herum, bald oben, bald unten, bald rechts, bald links, immer in Bewegung.
Immer bin ich in Bewegung. Nehme ich aber den größten Aufschwung und leuchtet mir schon oben das Tor, erwache ich auf meinem alten, in irgendeinem irdischen Gewässer öde steckenden Kahn.
Wenn man selbst Schwindel.Gefühle bekommt, lest die Interviews mit Sebald im Band The Emergence of Memory, es war das gleiche Gefühl des absichtlich konstruierten déjà vu, das ich erlebte, als ich durch den nachgebenden Löss der Holderness-Küste stapfte. Sebald spricht von seiner eigenen Methode in räumlichen Begriffen: "If you are travelling along the road and things come in from the sides to offer themselves, then you're going in the right direction. If nothing comes, you are barking up the wrong tree." Und nachmals: "We're living exactly on the borderline between the natural world . . . and that other world which is generated by our brain cells. And so clearly that fault line runs through our physical and emotional makeup . . . where these tectonic plates rub against each other [are] the sources of pain."
Ich war nicht überrascht, die Leugnung Sebalds nur eines Fleckchens von douceur de la vie in seinem Werk zu finden: "The old-fashionedness of the . . . narrative tone is . . . nothing to do with nostalgia for a better age . . . but simply something that . . . heightens the awareness of that which we have managed to engineer in this century." Aber als ich dann auf eine andere Bemerkung Sebalds stieß - "This notion of the autonomous individual who is in charge of his or her fate is one that I couldn't really subscribe to" - schrie ich laut auf:
Du weißt genau, was ich meine!
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The Guardian 7. Februar 2009
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Will Self zur Wahl Ende 2014 in Großbritannien:
Die britische konservative Oberschicht wird durch die neue Regierung definitiv wieder aufleben und an Selbstbewusstsein gewinnen, all diese alten Eliten, alten Eton-Schüler, alten Oxford-Absolventen. Ich habe selbst in Oxford studiert, ich weiß, was das für Leute sind. Es sind absolute Snobs, die unter sich nach wie vor in diesem absolut antiquierten, feinen Akzent sprechen. Diese Leute sind antieuropäisch, antiegalitär und pflegen einen unterschwelligen Rassismus. All das wird jetzt wieder hochkommen.
Und zu der Unabhängkeitsabstimmung der Schotten im September 2014:
Die Kampagne hätte viel mutiger argumentieren müssen: Ja, wir werden komplett mit diesem Wirtschaftssystem brechen, weniger Konsumwaren, keine billigen Kredite, und vielleicht müsst Ihr eine Zeit lang das alte Spinnrad rausholen - aber das ist der Preis einer wahrhaft demokratischen, unabhängigen, solidarischen Gesellschaft. Aber das haben sie total versemmelt.
Und ein Bericht von Alexandra Masters:
W.G. Sebald wurde als einer der bedeutendsten europäischen Schriftsteller gepriesen. Seine psychogeografischen Werke, die häufig mit denen von Nabokov, Kafka und Proust verglichen werden, wurden von der Kritik hoch gelobt. Bei dieser Veranstaltung des englischen PEN waren Will Self, Romanautor und Psychogeograf, und Amanda Hopkinson, Gründerin des PEN-Komitees für Schriftsteller in Übersetzung, zu Gast, um über das Leben und das Werk dieses literarischen Genies zu sprechen, das auf dem Höhepunkt seiner Karriere im Alter von 57 Jahren bei einem Autounfall starb.
Obwohl er "Max" Sebald, wie er es vorzog, genannt zu werden, nie getroffen hatte und ihm sogar "Melancholie, Misanthropie und Manipulation" vorwarf, erklärte Self, wie er eine "unausweichlich aufkeimende Affinität" zu dem Schriftsteller entwickelte. So wie Sebalds selbst auferlegtes Exil aus Bayern sein Bewusstsein für die Dislokation schärfte (ein Thema, das sich durch viele seiner Werke zieht, insbesondere durch Die Auswanderer), so empfand Self, Halbjude, dass seine eigene Beziehung zum Holocaust von Emigration und Vertreibung geprägt war. Darüber hinaus verband der zunehmend misanthropische Self sich mit Sebalds fiktivem Alter Ego, das feststellte, dass es die Menschheit umso weniger zu lieben schien, je mehr es einzelne Männer und Frauen verehrte. Und so wie Sebalds Luddismus von einer Abscheu vor neuen Technologien genährt ist, gestand Self eine "wachsende Abscheu vor Computern" ein. Zufälligerweise hatte Self auch in Suffolk gelebt, wo Sebalds Die Ringe des Saturn spielt - "Sebalds Alter Ego könnte an mir vorbeigegangen sein!" - und als Wanderer und "wahrer Flaneur" hat er viel Zeit dem schelmehaften Schreiben gewidmet.
Aus dieser Affinität heraus und inspiriert von der Schelmenhaftigkeit des Schriftstellers, begab sich Self auf eine der Sebaldschen Wanderungen, sowohl virtuell als auch buchstäblich: "Ich dachte, dass irgendwo zwischen diesen beiden Orten Sebalds Welt lag. Doch nach seiner dreieinhalbtägigen Reise von Flamborough an der Ostküste von Yorkshire nach Spurn Head war Self in einem "schrecklichen Zustand" und "völlig überrumpelt" von Sebald. Die Leute reden über den Einfluss eines Schriftstellers. Als ich die Wanderung machte, spürte ich Sebald auf meinen Schultern; ich fühlte mich so besessen von Sebald, dass ich Sebaldsche Töne sprach... Ich mag meinen literarischen Stil nicht so sehr, aber ich habe ihn vermisst! Zum Glück hat sich Self inzwischen wieder erholt. Er war jedoch nicht davon überzeugt, dass es eine neue Generation von Post-Sebaldianern geben könnte, "wie Post-Wordsworthianer, die im Lake District wandern", wie Hopkinson meinte. Während Sebald mit psychogeografischen Schriftstellern wie Iain Sinclair marschierte, war Self der Meinung, dass ersterer "mehr am Ambulanten interessiert war, um die Mensch-Maschine-Matrix loszuwerden - die vorgeschriebene mechanisierte Art, von Kreditkarten zu leben, um auf die Malediven zu eilen und sie untergehen zu lassen". Er schloss: 'Ich würde sagen, Sebald ist einzigartig, aber ich glaube nicht, dass es in dieser Hinsicht eine Sebald-Schule geben wird."
Es war nicht nur seine ungewöhnliche Methodik, die Sebald von anderen mitteleuropäischen Autoren abhob, sondern auch sein selbst auferlegtes Exil in der englischsprachigen Welt. Wie Hopkinson erklärte, schrieb er auf Deutsch, aber seine Sprache war anachronistisch, "so dass sie selbst für Deutsche ein wenig seltsam, geheimnisvoll und nicht so umgangssprachlich wie englische Übersetzungen klang. Sebald freute sich darüber: Es war ihm gelungen, sowohl im Englischen durch die Übersetzung als auch im Deutschen durch seinen Atavismus Entfremdung zu erzeugen.
Diese Vorstellung von Entfremdung spiegelt sich in dem "überwältigenden Gefühl der Dislokation" wider, wie es ein Zuhörer formulierte, das einen Großteil von Sebalds Werk durchdringt. Und, wie Self anmerkte, befand sich Sebald auf persönlicher Ebene in einer inkongruenten Situation als Bayer, der fast ausschließlich über den Holocaust schrieb, ohne irgendwelche "mea culpa-Erklärungen". Self sträubte sich jedoch ein wenig gegen die Bezeichnung "moralischer Schriftsteller", die Sebald oft zugeschrieben wird: "Seine Sicht des Holocausts war ein Abgrund in der Geschichte; in Sebalds Welt ist die Zeit vor dem Holocaust entscheidend für eine Art von Moral. Als gewöhnlicher moralischer Schriftsteller denke ich, dass seine Ziele viel größer sind.'
Für jemanden, der so sehr aus der Bahn geworfen wurde, war es bemerkenswert, dass Sebald ein so gutes Auge für lokale Gegebenheiten hatte, von Mittelwales über Wien bis Manchester. Sein Gespür für Orte ist unglaublich. Er ist in einer Welt zu Hause, in der er nicht zu Hause ist", schwärmte Self. Besonders beeindruckt zeigte er sich von Sebalds Fähigkeit, "ein zugleich solipsistisches Ich" zu schaffen, das "das seltene Kunststück vollbringt, ein triumphales synoptisches Auge zu sein". So beeindruckend dies auch klang, war es vielleicht nicht überraschend, dass die Zuhörer Self baten, dies näher zu erläutern. Um das synoptische Auge zu veranschaulichen, bot er die Metapher eines Gemäldes aus der Frührenaissance an, in dem verschiedene Perspektiven dem natürlichen Sehen trotzen, um gleichermaßen scharf zu werden. Sebald ist so", erklärte er. Er schafft eine Fülle von Ideen, die kein anderer Schriftsteller auf einmal festhalten und scharf fokussieren könnte". Gleichzeitig habe er "diesen abgeschotteten Sinn für das Ich", bemerkte Self, der oft eine "Art von feiger Melancholie mit sich bringe... eine Sensibilität, die in ihrem Solipsismus schwelgt".
Doch trotz all seiner Errungenschaften fand Self, dass dieses Gefühl, "mit Sebalds solipsistischem Ich zu kommunizieren, während man durch seine synoptischen Augen blickt", ein unausweichliches Bewusstsein dafür schuf, dass man manipuliert wurde - genau wie Spielbergs berühmte Einstellung in Der weiße Hai, bei der die Kamera nach vorne fährt, während sie herauszoomt, um den Schauspieler in den Schrecken eines Haiangriffs zu ziehen.
Er betonte auch den unbequemen Unterschied zwischen einem Leser und einem Kritiker von Sebalds Werk. Als Leser, so Self, sei er in der Lage, den Unglauben zu suspendieren und könne im Gegenzug Sebalds literarische Tugenden leicht feiern: "Ich war begeistert... man ist bei ihm in seinem fiktiven Alter Ego... man glaubt an ihn - das ist eine Leistung. Wenn er im vierten Kapitel von einer Ziege spricht, die dann Flügel hat und zum Ziegengott von East London wird, dann ist das gut! Als Schriftsteller und Kritiker war er jedoch nicht in der Lage, dies zu tun. Darüber hinaus wies Self den Einwand eines Zuhörers zurück, dass er sich als Leser gerne an der Nase herumführen lasse, und erklärte, dass er Belletristik aktiv meide. Ich bin nicht in der Lage, Belletristik zu lesen und zu genießen, wie jemand anderes Dostojewski oder Alex Garland genießen würde. Dekonstruieren: das bin ich.'
Er fuhr fort: "Wenn man ein Schriftsteller ist und andere Schriftsteller liest, gibt es einen begrenzten Vorrat an literarischen Tropen, und wenn man sie in der Hand eines anderen Schriftstellers sieht, erfüllt mich das mit fast viszeralen Emotionen; manchmal wird mir schlecht. Es scheint, dass Self in dieser Ablehnung noch mehr Gemeinsamkeiten mit Sebald gefunden hat: Ein Zuhörer, der einst Sebalds Student an der UEA war, erklärte, dass er früher auch aktiv Belletristik gemieden habe, obwohl er es auf die Spitze trieb, indem er Fachzeitschriften und sogar Telefonbücher las.
Damit waren wir am Ende dieser fesselnden und komplexen Reise in das Leben und den Geist eines außergewöhnlichen Schriftstellers angelangt. Als Self über Sebalds Beschäftigung mit dem Verkehr sprach und seine Worte zitierte, kam eine zusätzliche Schärfe und eindringliche Voraussicht zum Tragen: 'Seit einiger Zeit bin ich davon überzeugt, dass aus diesem Lärm das Leben geboren wird, das nach uns kommen und unsere allmähliche Zerstörung bedeuten wird.'
Mit herzlichem Dank an Will Self und Amanda Hopkinson, die ihr Wissen und ihre Einsichten mit uns geteilt haben, und an das stets lebendige Publikum für seine Beiträge.
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