Sebald
Stationen





Geburt







St. Georg am Friedhof von Wertach



Kindheit

Ich sehe uns noch in der Vorweihnachtszeit des neunundvierziger Jahrs in unserer Stube über dem Engelwirt in Wertach sitzen. Die Schwester ist damals acht, ich selber bin fünf gewesen, und beide hatten wir uns noch nicht recht an den Vater gewöhnt, der seit seiner Rückkehr aus der französischen Kriegsgefangenschaft im Februar 1947 wochentags in der Kreisstadt Sonthofen als Angestellter (wie er sich ausdrückte) beschäftigt und immer nur von Samstag- bis Sonntagmittag zu Hause war. Vor uns auf dem Stubentisch aufgeschlagen lag der neue Quelle-Katalog, der erste, den ich zu Gesicht bekommen hatte, mit seinem mir märchenhaft erscheinenden Warenangebot, aus dem dann im Verlauf des Abends und nach längeren Diskussionen, in denen der Vater seinen Vernunftstandpunkt durchsetzte, für die Kinder je ein paar Kamelhaarhausschuhe mit Blechschnallen ausgesucht wurde. Reißverschlüsse waren, glaube ich, zu jener Zeit noch ziemlich rar.

Immerhin wurde als Zugabe zu den Kamelhaarhausschuhen ein so genanntes Städtequartett bestellt, mit dem wir dann die Wintermonate hindurch oft gespielt haben, sei es, wenn der Vater zu Hause war, sei es mit einem anderen Gast. Hast du Oldenburg, hast du Wuppertal oder hast du Worms, haben wir etwa gefragt, und an solchen Namen, die ich noch nie gehört hatte zuvor, habe ich lesen gelernt. Ich entsinne mich, dass ich mir unter diesen Namen, die so ganz anders waren als Kranzegg, Jungholz und Unterjoch, auch später lang nichts vorstellen konnte als das, was auf den jeweiligen Spielkarten abgebildet war, also zum Beispiel Roland der Riese, die Porta Nigra, der Kölner Dom, das Krantor von Danzig oder die schönen Bürgerhäuser rings um einen Hauptplatz in Breslau.

Tatsächlich war in dem Städtequartett, wie aus meiner aus der Erinnerung geholten Aufstellung erhellt und worüber ich mir seinerzeit naturgemäß keine Gedanken machte, Deutschland noch ungeteilt, und nicht nur ungeteilt ist es gewesen, sondern auch unzerstört, denn die gleichmäßig dunkelbraunen Abbilder der Städte, die früh in mir die Idee erweckten von einem finsteren Vaterland, diese Bilder zeigten die deutschen Städte ausnahmslos so, wie sie vor dem Krieg gewesen waren: das verwinkelte Giebelwerk unter der Nürnberger Burg, die Fachwerkhäuser von Braunschweig, das Holstentor vor der Lübecker Altstadt, den Zwinger und die Brühlschen Terrassen.

Das Städtequartett stand aber nicht nur am Anfang meiner Laufbahn als Leser, sondern auch am Anfang der in mir bald nach meiner Einschulung zum Ausbruch gekommenen Erdkundemanie, eines in meiner weiteren Lebensentwicklung stets zwanghafter werdenden Topografismus, dem ich, über Atlanten und Faltblätter jeder Art gebeugt, endlose Stunden geopfert habe. Auch Stuttgart habe ich, inspiriert von dem Städtequartett, bald auf der Karte gesucht. Ich sah, dass es, verglichen mit den anderen deutschen Städten, nicht allzu weit entfernt war von uns. Aber was es für eine Reise dorthin wäre, das konnte ich mir nicht ausmalen, ebenso wenig wie es ausschauen mochte in dieser Stadt, denn jedesmal, wenn ich an Stuttgart dachte, sah ich bloß den auf einer der Spielkarten abgebildeten Stuttgarter Hauptbahnhof, jene von dem Baumeister Paul Bonatz, wie ich später erfuhr, vor dem Ersten Weltkrieg entworfene und bald darauf fertig gestellte Natursteinbastion, die in ihrem kantigen Brutalismus einiges schon vorwegnahm von dem, was später noch kommen sollte, vielleicht sogar, wenn ein derart absurder Gedankensprung erlaubt ist, die paar Zeilen, die ein, der ungelenken Schrift nach zu schließen, ungefähr fünfzehnjähriges englisches Schulmädchen von einem Ferienaufenthalt in Stuttgart an eine Mrs. J. Winn in Saltburn in der Grafschaft Yorkshire geschrieben hat auf der Rückseite einer Ansichtskarte, die mir Ende der sechziger Jahre in einem Brockenhaus der Heilsarmee in Manchester in die Hände gefallen ist und die, neben drei anderen Stuttgarter Hochbauten, den Bonatz-Bahnhof zeigt, seltsamerweise in genau der gleichen Perspektive, wie er dargestellt gewesen ist in unserem längst verloren gegangenen deutschen Städtequartett.

Betty, so hieß das in Stuttgart den Sommer verbringende Mädchen, schreibt unter dem Datum des 10. August 1939, also knapp drei Wochen vor dem so genannten Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – mein Vater lag zu diesem Zeitpunkt bereits mit seinem Kfz-Zug vor der polnischen Grenze in der Slowakei –, Betty schreibt, dass die Leute in Stuttgart sehr freundlich seien, that she had been out tramping, sunbathing and sightseeing, to a German birthday party, to the pictures and to a festival of the Hitler Youth.

Als ich diese Karte, sowohl des Bahnhofsbilds als auch der rückseitigen Botschaft wegen, auf einer meiner langen Stadtwanderungen durch Manchester erstand, war ich selber noch nie in Stuttgart gewesen. Man ist ja, als ich in der Nachkriegszeit im Allgäu am Heranwachsen war, nicht weit herumgekommen, und wenn man, im angehenden Wirtschaftswunder, doch ab und zu einen Ausflug machte, so ist man mit dem Omnibus nach Tirol gefahren, nach Vorarlberg oder höchstenfalls in die innere Schweiz. Für Exkursionen nach Stuttgart oder in andere der immer noch schandbar ausschauenden Städte gab es keinen Bedarf, und so kam es, dass mir mein Vaterland, bis ich es mit einundzwanzig Jahren verließ, ein weit gehend unbekanntes, irgendwie abgelegenes und nicht ganz geheures Territorium geblieben ist.

...



Wozu also Literatur? Soll es werden auch mir, fragte Hölderlin sich, wie den tausenden, die in den Tagen ihres Frühlings doch auch ahnend und liebend gelebt, aber am trunkenen Tag von den rächenden Parzen ergriffen, ohne Klang und Gesang heimlich hinuntergeführt, dort im allzu nüchternen Reich, dort büßen im Dunkeln, wo bei trügerischem Schein irres Gewimmel sich treibt, wo die langsame Zeit bei Frost und Dürre sie zählen, nur in Seufzern der Mensch noch die Unsterblichen preist? Der synoptische Blick, der in diesen Zeilen über die Grenze des Todes schweift, ist verschattet und illuminiert doch zugleich das Andenken derer, denen das größte Unrecht widerfuhr. Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution.

W. G. Sebald

(zur Eröffnung des ersten Literaturhauses in Baden-Württemberg - ein paar Wochen vor seinem Tod)




Schule

Sebald und Jan Peter Tripp besuchen das Oberstdorfer Gymnasium bis zum Abitur.
Zu den 33 Miniaturen, an denen Sebald bis kurz vor seinem Tod schreibt, fügt Tripp seine Augenpaare hinzu: Unerzählt
Nach einem Spendenaufruf erwirbt die Initiative Villa Jauss e.V 2008 die Bilder aus der einzig noch verkäuflichen Mappe und überlässt sie dem Gymnasium der beiden Künstler als Dauerleihgabe, um sie für das Allgäu und künftige Generationen von Schülern und Lehrern zu bewahren.





Studium


Universität Freiburg/Br.



Manchester



Heirat


Sonthofen, 1967 mit Ute



Beruf




University of East Anglia, Norwich (UEA)





Wohnung


The Old Rectory, Poringland





Tochter


Anna






Englische Wallfahrt




Auf dem Sofa
einschlafend
hör ich aus der Ferne
die Gänse im Radio
die Schnäbel wetzen
zum Verlesen des Urteils

Der Meltau wächst
im Garten die Lähmung
breitet sich aus
eine lange Reihe
winziger Schrecken
ich spüre das Blut
unter den Wurzeln
der Zähne

Beim Aufwachen
winkt mir
der Herztod
von der anderen Seite
des Abgrunds


Etwas im Ohr



Tod

W.G. Sebald, the profoundly elegiac and distinctive author of 'Austerlitz' and other novels and one of the most acclaimed of contemporary writers, was killed yesterday in an automobile accident in Norfolk, England, near his home in Norwich in East Anglia. He was 57 (New York Times). Sebald habe seine Tochter heimfahren wollen und sei, möglicherweise nach einem Herzinfarkt, in den Gegenverkehr gerast. Seine Tochter Anna sei schwer verletzt. A spokeswoman for Norfolk Police said Mr Sebald was in collision with a lorry while negotiating a sweeping left-hand bend.







Grab St. Andrew’s Churchyard, Framingham Earl



Sebald-Gedenkstätte an der UEA Norwich/England



Nachleben

Wednesday, September 24, 2008
Spectres from the past

Auf dem Rückflug gestern machte mein Herz eine kleine Extrasystole, als ich bemerkte, dass ich neben dem Germanisten und Schriftsteller Max Sebald saß. Der große Mann auf dem Fenstersitz war mir am Gate gar nicht aufgefallen. Er schien ein routinierter Reisender zu sein, der nicht viel Aufhebens machte. Vor sich auf den langen Oberschenkeln lagen schon zwei Examensarbeiten; Ringbindung.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, endlich in dem neuerworbenen Wälzer über die Zerstörung Dresdens weiterzulesen, der mich schon am Gate gefesselt und das Wasser in die Augen gedrückt hatte. Aber ich konnte nicht neben Sebald sitzen, und in einem Buch über den Luftkrieg lesen, das wäre einfach too much.
Das glaubt mir wieder keiner, denke ich. Hier sitze ich, in Gedanken ganz 1945, in Suffolk, Bomber country, und dann in Dresden; bei der riesigen Bomberflotte, wie sie ihren Tanz am Himmel beginnt, sich über dem Kanal sammelt; bin ein Teil des Blech-Konfetti, das zuerst in den deutschen Radarschirm regnen sollte; all das denke ich, während ich mit einem Haufen freundlicher Engländer auf ihrem Weg zum Oktoberfest in einer Zivilmaschine sitze und wir bereit sind abzuheben, den Weg der Lancasters über Belgien hinweg nachzuzeichnen; und dann sitzt da Sebald persönlich neben mir. Er sieht etwas älter, aber auch drahtiger aus als auf den letzten Photos von 2001.
Ich ringe bis über den Kanal mit mir, ob ich ihn ansprechen soll. Es wäre sehr albern. Ich achte stattdessen auf seine Hand, die an den Rand der Arbeit mit einem Bleistift hin und wieder etwas notiert, strichelt, eher. Als die Getränke anrollen, schnarrt es in dem mir bestens bekannten Bairisch-Englisch unter dem Schnurrbart hervor, “an orange juice, please”. Ich sehe von meiner Bierbestellung ab.
Jetzt rast mir der Kopf. Wie bereichernd wäre es, mit Sebald selbst zu sprechen, jetzt, wo er einfach so mit mir aus seiner Wahlheimat England nach Deutschland reist. [Heute morgen habe ich her­aus­ge­fun­den, dass er wohl als Keynote speaker auf einem Symposium von Alida Assmann zu kollektivem Gedächtnis in Konstanz eingeladen ist. Wieso bin ich nicht dort?] So gerne würde ich ihn fragen, wie er das gemeint hat mit der Heimkehr nach Deutschland, ich glaube, er schrieb einmal, ‘On a bad day, returning to Germany brings back all kinds of spectres from the past’. Ist dies heute ein schlechter Tag, für mich? Für ihn? Niemand anders in diesem Flugzeug denkt jetzt vermutlich an Dresden, wir fliegen ja erst einmal nach München, sowieso, und an die Bomben und den Brand denkt erst recht keiner. Bei meinem bedeutenden, stillen Reisegefährten hingegen bin ich mir fast sicher, dass er daran denkt. Aber vielleicht sehe ich etwas in ihm, das er nicht sein will.
“Herr Sebald, es ist verrückt, ausgerechnet diese Strecke mit ihnen fliegen zu dürfen. Sie sind doch Herr Sebald?” — oder besser auf Englisch. “Do you know, by any chance, the works of Christian Kracht? They somehow, oddly, keep reminding me of some of yours, although he writes vastly different, from a technical point of view.” — “Sie haben auch einmal in Klagenfurt gelesen, nicht? Und einmal in meiner Heimat, in Stuttgart. Das war ein wunderbarer Text.” Ach, es wäre alles zu peinlich. Ich schweige.
Der stille Mann schaut mich nur einmal an, beim Aufstehen, wie er sich aus der engen Sitzreihe windet, nach einer friedlichen Landung in einer deutschen Stadt. Er schaut, mit einem freundlichen Zug unter dem Schnurrbart, und ich hoffe, dass er weiss, dass ich weiss. Eine Stunde haben wir wieder verloren, für irgendwas, wie ein Pfand, das wir einzuzahlen haben, kurz vor fünf ist es, und ich muss mich wirklich beeilen, um die Maschine nach Leipzig nicht zu verpassen. Die Maschine, so sagt man ja gar nicht mehr, denke ich. Ich sehe ihn zum letzten Mal bei der Passkontrolle, als er, am Schalter nebenan, einen deutschen Reisepass, den grünen noch, hinüberreicht.
Jonas
.







Stele am Sebald-Weg,
der von Schattwald/Tirol nach Wertach führt;
eingeweiht 13.November 2005
vom Wertacher Bürgermeister Otto Hengge.




Magisch zieht des Dichters Grab Gedenkartikel an

Am Grabstein lehnt eine kleine braune Flasche. Gordon Turner nimmt sie in die Hand und entziffert das Etikett: „Gebirgsenzian“ aus dem Alpenland, der Heimat von W. G. Sebald. Turner und Sebald waren jahrzehntelang Kollegen in der Germanistik an der University of East Anglia in Norwich. Ihre Vorstellungsgespräche fielen 1970 auf denselben Tag. Turner kümmert sich heute um das Sebald-Tonarchiv und steht Sebald-Forschern für biographische Auskünfte zur Verfügung. Wie er deutlich macht, sieht er seine Aufgabe darin, irreführende Tatsachenbehauptungen zu korrigieren. Er will nicht die boomende Sebald-Deutungsindustrie füttern, obwohl er deren jüngste Leistungsschau mitorganisiert hat, eine dreitägige Konferenz an Sebalds akademischer Wirkungsstätte.

Für Sebalds Kollegen ist die Tagung sieben Jahre nach Sebalds Tod ein Akt der Pietät; sie nennen ihn Max. Turner spricht wie andere Mitveranstalter aus, dass diese Form der Pietät nicht im Sinne Sebalds gewesen wäre: Plenardebatten, parallele Sektionssitzungen und eine Exkursion zu den Stationen der „Ringe des Saturn“ an der Küste von Suffolk mit abschließendem Besuch am Grab. Sebald hat das Gedenken und das Hadern mit dem Gedenken zur literarischen Form gemacht; es ist nicht auszuschließen, dass man einmal die Ausdifferenzierung einer Gattung der Gedenkliteratur auf sein Oeuvre zurückführen wird. Die Organisatoren der Tagung, mit allen methodologischen Wassern gewaschene Literaturwissenschaftler, waren also in einer seltsamen Lage, als sie Sebalds Werk zum Gegenstand einer Beschäftigung machten, die das Problem dieses Werkes bildet. Man muss ihnen bescheinigen, dass die Sache ohne Peinlichkeit über die Bühne geht. Gordon Turner bringt am Busmikrofon sein Unbehagen zur Sprache - damit soll es auch gut sein.

Spuren der praktischen Konsequenz der Legende

Vom Flaschenfund ist Turner sichtlich irritiert. Aber er überwindet seine Verwunderung und rügt es nicht als Geschmacklosigkeit, dass jemand Abfall auf der Grabstätte deponiert hat. Ein anderer Kollege, der Romanist Clive Scott, deutet im Abschlussvortrag Sebalds Werk vom Stilleben her. Das Stilleben vernichte das Menschliche, setze es aber voraus. Die einmontierten Fotografien seien Stilleben, die sich die Macht von Porträts angeeignet hätten. Sie zeigten die Verschlossenheit der Dinge, seien selbst wie jene verschlossenen Türen, die an prägnanten Stellen auf ihnen zu sehen sind - in „Austerlitz“ beim Besuch in Theresienstadt.

An diese verschlossenen Türen kann der Grabstein aus dem von Sebald selbst für diesen Zweck bestimmten Schiefer aus Cornwall erinnern. Aber ist es schicklich, dass ein Pilger das Grab durch Beifügung eines mitgebrachten Requisits zum Stilleben arrangiert? Es ist wohl der Respekt vor der Bedeutung des objet trouvé für Sebalds Arbeit und vor Sebalds Neugier auf das Kuriose, das rührend und manchmal auch jämmerlich Disparate menschlicher Gedenkanstrengungen, der Turner davon absehen lässt, die unerbetene Grabbeigabe zu entfernen. Diskret, mit trockenstem Humor, macht Turner auf die Inkongruenz der Collage des Anonymus aufmerksam: Sebald hat in den letzten zehn Jahren seines Lebens keinen Alkohol mehr getrunken.

Die Flasche ist nicht der einzige von Besuchern des Grabes hinterlassene Gegenstand. Auf der Oberkante des Grabsteins liegt eine Reihe von Kieselsteinen. Diese Gaben spricht niemand an. Ist es denn nicht kommentierenswert, dass hier, womöglich mehrfach, ein jüdisches Trauerritual vollzogen wurde? Wollten die Steinspender Sebald danken für das, was er für die Erinnerung an Opfer des Holocaust getan hat? Oder haben wir schon die Spuren der praktischen Konsequenz aus der Legende vor uns, von der einige Teilnehmer wissen: dass Sebald selbst jüdischer Herkunft gewesen sei?

Das Unrealistische in der misanthropischen Weltsicht

Kein literarischer Ruhm ohne Anlagerungen. Sebalds Thema und seine Methoden, das Sammeln, das Verfremden und das autobiographische Fingieren, setzen sein Werk in besonderem Maße dem Risiko aus, unter legendären Ergänzungen unkenntlich werden. Da Sebald selbst sich zum Forscher stilisierte, können sich seine Ausleger verleitet sehen, das Werk fortzuschreiben - zumal sein Unfalltod zum Spekulieren über ungeschriebene, ja unkonzipierte Werkteile einlädt.

In dieser Lage ist die Sicherung lebensgeschichtlicher Tatsachen äußerst wichtig. Die Reminiszenzen, für die abendliche Konferenzzeit reserviert ist, gehören zur Sache. Dass die zahlreich erschienenen Absolventen von Sebalds Seminaren in kreativem Schreiben sich übereinstimmend an einen Dozenten erinnern, der zum Scherzen aufgelegt war, ist vor dem Hintergrund des überwältigend finsteren Motivhimmels der Bücher nicht belanglos, und sei es nur zum Zweck der Erinnerung an die unaufgebbare Unterscheidung zwischen Leben und Werk.

Der Psychoanalytiker Adam Phillips benötigt keine biographische Beglaubigung für seine brillante These, dass es bei Sebald ein verborgenes Grundmotiv der Feier gebe: An den guten Dingen messen wir die bösen. Phillips geht aus von der Tatsache, dass kaum ein Schriftsteller unserer Zeit so ausdrücklich gefeiert wird wie Sebald. Das Feierliche des Sebald-Lobes kommt ihm wohl nicht direkt unheimlich, aber erklärungsbedürftig vor: Welche Lust verschafft die Teilhabe an überfließender Trauer?

Zur reflektierten Rezeption Sebalds gehört ein Moment der Abwehr: So darf man den Schriftsteller Will Self verstehen, der in seinem Eröffnungsvortrag das Unrealistische der misanthropischen Weltsicht exponiert, die den wandernden Erzähler durch menschenleere Großstädte ziehen lässt. Self zerlegt Sebalds Verfahren in seine Bestandteile, das solipsistische Ich und das synoptische Auge (mit dem Wortspiel „I“-“Eye“), um beim Wiederzusammensetzen unmerklich die Stimmigkeit des Vorgehens zu demonstrieren: „Ich bin nicht sicher, dass richtig ist, was er schreibt, sondern dass sein Schreiben wahr ist.“

Wenn er das Zeug zum Klassiker hat

Die Orte, von denen aus die Teilnehmer angereist sind, scheinen Susan Sontag recht zu geben, die Sebald der Weltliteratur zuschlug. Er gilt heute als moderner Klassiker der englischsprachigen Lesewelt - so selbstverständlich, dass mehrfach die Frage aufgeworfen wird, warum er überhaupt auf Deutsch geschrieben hat. Deane Blackler, die gerade die Monographie „Reading W. G. Sebald“ vorgelegt hat, ist in Australien in der Lehrerbildung tätig. In ihrem Vortrag über das Turner-Aquarell in „Austerlitz“ würdigt sie Sebald als Autor, der dem ethischen Anspruch der hohen Literatur in der Tradition Miltons gerecht werde.

Mindestens drei Doktorandinnen sind anwesend, die an Arbeiten über Sebald und die Fotografie sitzen. Eine dauerhaft produktive Sebald-Forschung wird Gesichtspunkte ausdifferenzieren müssen. Die Aufteilung der Sektionen leistet das noch nicht. Der Sortierung nach den Werken stand wohl die von vielen geteilte Meinung entgegen, dass Sebald viermal dasselbe Buch oder doch vier Bücher über dasselbe geschrieben habe (wenn nicht gar, nach Ton Naaijkens, fünfmal, mit dem Gedicht „Nach der Natur“). Was die Philologie zur Forschung beitragen kann, davon wird von morgen an eine Ausstellung des Nachlasses in Marbach einen ersten Eindruck geben.

Handelt es sich bei Sebald um einen Autor mit einem unnachahmlichen Sound, einer hochvirtuosen, aber einfachen Masche, dessen Wirkung bei analytischer Lektüre abnimmt? Oder belohnen seine Werke das von professionellen Lesern begleitete Wieder- und Wiederlesen? Wenn er das Zeug zum Klassiker hat, dann werden Interpretationen Motive entdecken, die das Ganze zu erklären scheinen und doch nicht erschöpfen, die das Werk aufschließen und sozusagen wieder verschließen. Am frühen Morgen, lesen wir in „Austerlitz“, wurden die zur Deportation vorgesehenen Juden zusammengetrieben, als die Stadt menschenleer war.

Patrick Bahners, Norwich
26. September 2008 F. A.Z.



Sebalds Haus heute

Wandernde

Schatten



So hieß die Ausstellung, die das Marbacher Literaturmuseum der Moderne 2008 zeigte, geradezu das Muster einer Literatur-Ausstellung. Ihre Voraussetzungen waren ungewöhnlich günstig: Das Deutsche Literaturarchiv übernahm 2004 den schriftstellerischen Nachlass Sebalds; und der Autor hat den Bedürfnissen seiner neugierigen Nachwelt beispielhaft zugearbeitet. 68 Archiv-Boxen enthalten vorgeordnete Materialien zu seinen Büchern – so als sei all das von ihm bereits mit Blick auf zukünftige Forschungsarbeiten zurecht gelegt worden.
Aber, betont der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Ulrich Raulff, über das private Leben des Menschen namens Sebald gibt es dabei wenig zu entdecken. Sebald hat den Boxen lediglich seine Arbeitsmaterialien anvertraut. Und so kann der Autor, auch wenn dessen Ich-Erzähler ihm zum Verwechseln ähnlich sind, nur als Chimäre durch Ausstellungen dieser Materialien geistern.

nach Uwe Wittstock



Der Strahl eines anderen Lichts


Dass W. G. Sebald, der fraglos zu den wenigen großen Prosastimmen der deutschen Literatur nach 1945 gehört, zuerst in England und Amerika wahrgenommen und gerühmt wird, hat nicht nur damit zu tun, dass er die längste Zeit seines Lebens in England lebte und lehrte. Deutsche Leser in Mehrheit brauchten eine Weile, um sich an Sebalds ferne, fremde Welt zu gewöhnen. Noch an den sonnigsten Stellen in seiner Prosa streift einen die kalte Luft einer unsichtbaren Gruft; und noch in die kühlsten fällt ein Strahl anderen Lichts.

Wie oft hat W. G. Sebald sich nicht verwandelt:
Anfang mit dem erzählenden Elementargedicht Nach der Natur (1988), Ende mit Austerlitz (2001), die Wandlungen seiner Essays, vom akademischen Carl Sternheim (1969) bis zum verträumten Logis in einem Landhaus (1999). Man hatte sich daran gewöhnt, dass er sich stets ähnlicher wurde. Mit dem aus dem Nachlass veröffentlichten Band steht Sebald aufs Mal als Lyriker vor uns.
Natürlich kennt man Nach der Natur, womit Sebald noch vor Schwindel. Gefühle. (1990) debütiert, ein eher erzählerisches Poem, Vorstufe zu Sebalds Hauptgeschäft, der Prosa.
Und doch verbarg sich ein Schreiberleben lang ein Lyriker. Müssen wir unser Bild revidieren?

»Schwer zu verstehen / ist nämlich die Landschaft…«

Zunächst gilt auch für die neueste Wandlung, dass sie uns den Sebald zeigt, den wir kennen, wenngleich in gänzlich neuer Verpuppung. Zwar ist den Gedichten, mit denen der zwanzigjährige Sebald in der Freiburger Studentenzeitung 1964 seine schriftstellerische Laufbahn beginnt, deutlich der Einfluss Hölderlins und Hofmannsthals anzuhören. Aber epigonal wird man diese frühesten Gedichte nicht nennen. Das Weitschweifige, dem Epigonen so leicht verfallen, ist ihnen fremd. Sebald beherrscht von Anfang an den knappen, lakonischen Ton.

Schwer zu verstehen
Ist nämlich die Landschaft,
wenn du im D-Zug von dahin
nach dorthin vorbeifährst,
während sie stumm
dein Verschwinden betrachtet


Vieles ist in Sebalds allererster Veröffentlichung schon vorhanden: Zu der Leitvokabel des »Verschwindens« treten die des »Verbrennens«, »Vergessens«, »Versterbens« und »zu Ende Gehens«. Epitaph ist dann, gleichsam resümierend, das sechste, schon aus dem Jahr 1965 stammende Gedicht überschrieben.
Um die Leitvokabeln fügt sich gleichfalls von Beginn weg der Einbildungsraum, in dem sich Sebald zeitlebens bewegen wird. Herbst, Abend und Todesnähe sind die Endzeiten, die er bevorzugt. Dunkelgrau, schattig und dämmrig ist das Licht, das sie begleitet, wenn nicht gerade von Sonne zerrissene Wolkengebirge nach der Art Altdorferscher Gemälde es aufhellen. Schlaflosigkeit, schweres Träumen und ebensolches Erwachen sind der Modus, in dem das meiste durchlebt wird.
Schon im achten der Gedichte steht, grad einundzwanzig Jahre alt, erstmals der schwermütige, fremd ein- und ebenso ausziehende Reisende, Wanderer und Zeichendeuter vor uns, als den wir Sebald aus all seinen Büchern kennen. Erinnertes Triptychon einer Reise aus Brüssel heißt das Gedicht, das erste, in dem die (neben dem Lakonischen) andere Stärke des Lyrikers Sebald zum Vorschein kommt, die des erzählenden Reisegedichts. Das »Brüsseler Triptychon« liest sich wie eine erste Skizze des späteren Prosaerstlings Schwindel.Gefühle., der ja auch, mit Sebald, Kafka und Stendhal als Helden, dreiflügelig angelegt ist. Die Verwandtschaft besteht freilich weniger der Sache als der Verfahrensweise nach, obgleich ein Napoleonisches Schlachtfeld und eine Reise nach Mailand auch hier schon vorkommen. Ein autobiografisch grundiertes Ich reist durch ein aus Gegenwart und Erinnerung, Gefundenem und Erfundenem geheimnisvoll gemischtes Europa. Sein Blick ist so farb- und formbewusst wie der eines Malers, und er sieht in und neben sich allenthalben Zeichen und Wunder.

»Ein Scherenschnitt / ein Fingerhut / eine Nadelöhr…«

Skizzen späterer erzählerischer Motive entwerfen - das dürfte wohl die wichtigste Funktion der Lyrik in Sebalds Imagination gewesen sein.

Ein Scherenschnitt
ein Fingerhut
ein Nadelöhr

Ein Wallfahrtsort
ein Stein im Gedächtnis
ein versetzter Berg

Ein Drudenfuss
und ein Würfelchen Eis
gefärbt von einem Jota
Berliner Blau


so lautet etwa – reimlos und rhythmisch frei wie alles und ohne Satzzeichen wie das meiste – das Gedicht Panazee aus dem Jahr 1974. Es gewinnt an Zugänglichkeit durch die Montage, mit der Sebald es in seine lyrische Lebenserzählung im Band Nach der Natur eingefügt hat. Die Verse werden dort zu »magischen Kreuzwörtern«, die Sebald einem »zwergwüchsigen Tataren«, für ihn

die Sinnfigur der nicht näher
identifizierbaren Katastrophe


in den Mund legt. Und er kommentiert sie, unter Zuhilfenahme einer Wendung, die er in einem anderen Gedicht eingeübt hat:

Eine lange Reihe winziger Schrecken
aus der ersten und zweiten Vergangenheit,
nicht übersetzbar in die gesprochene
Sprache der Gegenwart


Es wird kein Zufall sein, dass die schönsten Gedichte dieses Bandes zugleich solche sind, die Sebald später in seiner Prosa variiert - diesen Variationen zuzusehen ist wohl das größte Vergnügen, das der altgediente Sebald-Leser im Gegensatz zum Novizen bei der Lektüre der Gedichte hat. Day Return bereitet den Schlussabschnitt von Schwindel.Gefühle. vor, New Jersey Journey den Besuch bei Onkel Kasimir in der Adelwarth-Geschichte der Ausgewanderten, Das vorvergangene Jahr die Marienbad-Reise in Austerlitz. Jedes dieser Gedichte hat seiner Romanumformung im Einzelnen Momente bildnerischer Intensität voraus; das Marienbad-Gedicht ist der Romanpassage sogar vorzuziehen.

Zusammengenommen machen aber gerade diese besten Gedichte klar, warum W. G. Sebald ein so erstrangiger Prosaautor und warum er, sozusagen in Tateinheit damit, höchstens ein zweitrangiger Lyriker war. Sebald brauchte den Hallraum seiner charakteristischen langen Sätze, und er brauchte den langen epischen Auslauf, um das Eigentümliche seiner Welt zum Vorschein zu bringen. Dies Eigentümliche war die nicht nur behauptete, sondern in leibhaftige Leseerfahrung umgesetzte abgründige Doppelbödigkeit von allem und jedem.

Gegen Schluss dieses Bandes stehen einige von ihm selbst veröffentlichte Texte, die so plan sind, dass es schmerzt, sie neben den schöneren Gedichten zu sehen. Sie sind nicht viel anderes als zu Versen umbrochene Prosa. Sie werden außer durch die geglückten Gedichte auch durch die ahnungsvollen Zeilen aufgewogen, die - so unheimlich, wie es nicht nur in Sebalds Schreiben, sondern eben auch in seinem Leben zuging - Sebalds Tod präfigurieren. Er fand ihn durch einen auf eine Herzattacke folgenden Verkehrsunfall. Und er hat auch dieses Ende wie so manches ein erstes Mal in seinen Gedichten durchlebt.

Eine zerdehnte Katastrophe
der Strom des Verkehrs
Überholvorgänge die eine Ewigkeit
währen todessüchtige Blickwechsel
mit den wildfremden Menschen
auf der anderen Spur


heißt es einmal.

Beim Aufwachen
winkt mir
der Herztod
von der anderen Seite
des Abgrunds

ein andermal. Auch:

Auf der Heimfahrt Phantasien
von einem tödlichen Unfall.

nach Andreas Isenschmidt
DIE ZEIT 2008





Ob früher, ob später
Anton Stephan



Traffic




Ich möchte wissen, was ein Wassertruck
in Norfolk zu suchen hatte, wo an diesem Herbsttag
Wasser die Stoppelfelder überfluteten
und die Bäche versanken. Und ich möchte weiter wissen,
warum genau der Wassertruck in Deine Richtung fuhr
und warum Du nicht ausweichen konntest.
Ein Zeuge will Dich den Kopf zur Seite drehen
und einen Fingerzeig machen gesehen haben -
in Erregung. Das würde mich überraschen,
weil alles Sanftmut an Dir war:
die weiche Cordhose, weiche Baumwollhemden,
weicher Tweed, der gekämmte Schnurrbart,
der Humor in Deiner Stimme.
Dies sehe ich heute, wo ich Dich immer
und immer wieder lese, anders als damals.
Lieber Max, wir waren nie ganz vertraut,
aber ich muss Dir sagen, jetzt,
wo Du nicht antworten kannst,
sehe ich Dich,
wenn Regen auf die Stoppeln prasselt im Herbst,
und die Bäche unter Brombeergestrüpp
und Kälberkern rauschen,
zu einer neuen Reise aufbrechen,
rückwärts gehend,
und aufmerksam widmest Du Dich jedem toten Ding,
Dich eingeschlossen, wie es immer schneller
an Dir vorbeizieht hinein in die Zukunft,
und entscheidest Dich schließlich
zum Heimweg.

Andrew Motion
The Guardian, Saturday 2 January 2010





Ein Abschied von Max Sebald

Der uns naheging,
von weither schien er gekommen
in die unheimliche Heimat.
Hier hielt ihn wenig.
Nichts als die Suche nach Spuren,
mit einer Wünschelrute aus Worten,
die in seiner Hand zuckte.
Über Brandstätten und Grablegen
ist er ihr gefolgt
bis in den rasenden Wahnsinn
auf der Heide von Suffolk.
Is this the promis'd land?

Früh war die Dunkelheit eingebrochen
doch er zog weiter,
in allen Albträumen
unerschrocken, ging
einen schweren Gang.
Daß ihm der Staub leicht wurde,
wissen wir nur aus drei Zeilen:
So glitt ich lautlos
kaum einen Flügel rührend
hoch über die Erde hin...

Hans Magnus Enzensberger