Werke





Or va, che un sol volere è d'ambedue:
tu duca, tu signore e tu maestro.
Così gli dissi; e poi che mosso fue,
entrai per lo Cammino alto es silvestro.
Dante, Inferno, Canto II



WIE DER SCHNEE
AUF DEN ALPEN

        Das Antlitz des unbekannten
Grünewald taucht stets wieder auf
in seinem Werk als das eines Zeugen
des Schneewunders, eines Einsiedlers
in der Wüste, eines Mitleidigen
in der Münchner Verspottung.
Zuletzt im Nachmittagsschimmer
der Erlanger Bibliothek scheint es hervor
aus einem mit weiß gehöhter Kreide angelegten,
später mit Feder und Tusche von fremder
Hand zerstörten Selbstbildnis eines vierzig-
bis fünfzigjährigen Malers.






        Immer dieselbe
Sanftmut, dieselbe Bürde der Trübsal,
dieselbe Unregelmäßigkeit der Augen, verhängt
und versunken seitwärts ins Einsame hin.
Auch kehrt Grünewalds Gesicht wieder
in einem Basler Bild des jüngeren
Holbein, das eine gekrönte Heilige zeigt.
Es seien dies merkwürdig verstellte
Fälle von Ähnlichkeit, schrieb Fraenger,
dessen Bücher die Faschisten verbrannten.
Ja, es scheine, als hätten im Kunstwerk
die Männer einander verehrt wie Brüder,
einander dort oft ein Denkmal gesetzt,
wo ihre Wege sich kreuzten.


         Darum wohl
auch in der Mitte des rechten Flügels
des Lindenhardter Altars in Besorgnis
den Blick auf den Jüngling auf der anderen
Seite gerichtet jener ältere Mann, dem ich selber
vor Jahren einmal an einem Januarmorgen
auf dem Bamberger Bahnhof begegnet bin.


         Es ist der heilige Dionysius,
das abgeschlagene Haupt unterm Arm.
Ihm, seinem erwählten Protektor,
der inmitten des Lebens seinen Tod
mit sich führt, gibt Grünewald das Ansehen
Riemenschneiders, dem der Würzburger Bischof
zwanzig Jahre darauf auf der Folter
die Hände brechen ließ.
         Lang vor der Zeit
geht der Schmerz bereits ein in die Bilder.
Das ist die Vorschrift, weiß der Maler,
der sich einreiht auf dem Altar
in die viel zu geringe Genossenschaft
der vierzehn Nothelfer. Sie alle, die heiligen
Blasius, Achaz und
Eustach: Pantaleon
Aegidius, Cyriax,
Christophorus und Erasmus
und der wirklich wunder-
schöne heilige Veit mit dem Hahn,
schauen ein jeder in eine andere
Richtung, ohne daß wir verstünden,
warum.
         Die drei Nothelferinnen
Barbara, Katharina und Margarethe hingegen
stecken am Rand der linken Tafel
hinter dem Rücken des Georg ihre
gleichförmigen orientalischen Köpfe
zu einer Verschwörung gegen die Männer
zusammen. Auch das Unglück der Heiligen
ist ihr Geschlecht, ist die furchtbare
Separation der Geschlechter, die Grünewald
am eigenen Leib erfuhr.
         Der ausgetriebene
Teufel, den Cyriax, nicht bloß aufgrund
der Enge des Raumes, sondern
wie ein Emblem hoch in die Luft
erhoben hält, ist ein weibliches
Wesen und stammt, wie eine Grisaille
Grünewalds im Frankfurter Stadel aufs drastischste
vorführt, aus der epileptischen Tochter
Diokletians, der verzwängten Prinzessin
Artemia, die Cyriax, neben dem sie kniet
an der Erde, mit dem Manipel seines Ornats
wie einen Hund kurz gebunden hält.
Vordrängend über den beiden das Gezweig
eines Feigenbaumes mit Früchten, von denen
eine von Insekten ganz ausgehöhlt ist.
        

II

Wenig bekannt ist über das Leben des



Matthaeus Grünewald von Aschaffenburg.
Der erste Bericht über den Maler
in der
teutschen Academie des



Joachim von Sandrart
aus dem Jahr1675 beginnt mit dem Verweis, der Autor
wisse nicht einen Menschen bey leben,
der über die ruhmwürdige Hand eine Schrift
oder mündliche Nachricht geben könne.
Dem Zeugnis Sandrarts dürfen wir trauen,
denn ein Bildnis in einem Würzburger Museum
hat ihn bewahrt, zweiundachtzigjährig,
hellwach und von seltener Klarheit des Blicks.
Mit liecht in grau und schwarz
habe Matthaeus die äußeren Flügel
des von Dürer gefertigten Altars
von der Himmelfahrt Mariae
in dem Prediger Closter zu Frankfurt gemahlt
und also ungefehr 1505 gelebet.
Absonderlich merkwürdig sei die von ihme
mit Wasserfarben gebildete Verklärung
Christi auf dem Berg Thabor, insonders
eine verwunderlich schöne Wolcke,
darinnen, über die in Furcht ganz verzuckte
Apostel, Moyses und Elias erscheinen,
selzamkeit halber von nichts übertroffen.
Dann seien im Domm zu Maynz
drey Altar-Blätter in und auswendig
gemahlt gewesen, eines davon vorstellend
einen blinden Einsiedler, der mit seinem Leitbuben
über den zugefrorcnen Rheinstrom gehend
auf dem Eis von zween Mördern überfallen
und zu todt geschlagen wird. Anno 1631 oder 32
sei dieses Blatt in dem damaligen wilden Krieg
weggenommen und nach Schweden versandt worden,
aber durch Schiffbruch neben vielen
andern dergleichen Kunststücken
in dem Meer zu Grund gegangen.
In Isenheim ist Sandrart nicht gewesen,
hat aber gehört von dem Altarwerk, das,
schreibt er, so gestalt sei, daß das wahre
Leben nicht anderst thun könnte, und wo,
anscheints, ein S. Antonio mit artig
ausgebildete Gespenster vorkomme.



Außer einem Johannes mit zusammengeschlagenen Händen,
dessen er, Sandrart, als er seiner Zeit in Rom
des Papsts Contrafät machte, ansichtig wurde,
sei dies mit Gewißheit alles, was nicht verschollen
von der Arbeit des Aschaffenburger Malers,
von dem ihm sonst nur bewußt, daß er sich meistens
in Maynz aufgehalten, ein eingezogen
melancholisches Leben geführt und
übel verheurathet gewesen.

        

III

Lang ist bekanntlich die Tradition
der Verfolgung der Juden, auch
in der Stadt Frankfurt am Main.
Um 1240 sollen 173 von ihnen
theils erschlagen worden, theils
eines freiwilligen Todes in den Flammen
gestorben sein.



lm Jahr 1349
machten die Geiselbrüder ein großes
Massaker im Judenquartier. Wieder
besagen die Berichte, daß die Juden
sich selber verbrannt hätten
und es nach der Feuersbrunst
möglich gewesen sei, vom Domhügel
bis nach Sachsenhausen zu sehen.
Nur zögernd kehrten darauf
die Juden nach Frankfurt zurück.



In der Mitte des 15. Jahrhunderts
wird eine Kleiderordnung erlassen,
gelbe Ringe vorn auf dem Rock,
später ein grauer Kreis von der Größe
eines Apfels, zur Verhinderung jeder
fleischlichen Verbindung zwischen
Christen und ]uden, auf die lang
noch die Strafe des Todes stand.
Dann wird auf Kosten des Frankfurter
hohen Rats und im Zuge der bürgerlichen
Ordnungswaltung und der damit fortschreitenden
Reform und Hygienisierung den Juden
am Wollgraben ein eigenes Ghetto gebaut,
vierzehn Häuser und eine neue Synagoge.



Zu Grünewalds Zeit sind es nachweislich
dreiundzwanzig Häuser, und bald zählte
der Bezirk, ohne daß die Grenzen
erweitert wurden, dreitausend Bewohner.
Nachts, am Sonntag um vier schon,
werden sie eingeschlossen, und
gehen dürfen sie nirgends,
wo ein grüner Baum wächst,
weder auf dem Scheidewall
noch im Roß, noch auf dem Römerberg
oder in der Allee. In diesem Ghetto
war das Judden Enechin zuhause gewesen,
eh sie, wenige Monate vor der Feier
der Hochzeit mit Mathys Grune,
dem Maler, auf den Namen
der heiligen Anna getauft wurde.



ln das große Buch über den historischen
Grünewald, das Dr. phil. W. K. Zülch
im Jahr 38 zu Hitlers Geburtstag
in alter Sehwabacher Type vorlegte,
hatte sich die Geschichte von
dieser außerordentlichen Verbindung
nicht einordnen lassen. Grünewald
wird das, wie es heißt, in seiner Schönheit
aufällige Kind bemerkt haben, wenn es
auf dem Weg durch das Brückchentor



und die Predigergasse an seinem Arbeitsplatz
unmittelbar außer dem Ghetto vorbeikam.
Daß aber er die ihm ein Jahr später
angetraute Anna zum Wechsel
des Glaubens bewegt hat, dafür
findet sich nirgends ein Anhalt.
Vielmehr seheint es, sie selber
habe sich den zu jener Zeit
von besonderer Entschlußkraft
oder Hoffnungslosigkeit zeugenden
Schritt dadurch erleichtert,
daß sie dem Maler mehrfach
in die Augen sah, vielleicht zuerst
sich auch bloß in seinen grünfarbenen
Namen verliebte, was dem ledigen
Meister, der inzwischen die Mainzer
Hofmalerstelle zugunsten des großen
Isenheimer Auftrags abgegeben hatte,
nicht ungelegen gekommen sein wird,
denn ohne einen eigenen Hausstand
konnte er keinen Helfer oder
Gesellen in Stellung nehmen.
Als Grünewald am 17. Dezember 1512
ganz in der Nahe des Doms
für dreiundzwanzig Gulden
zwölf Schilling ein Haus kauft,
hat er, wie das Protokoll vermerkt,
sehon die getauft Annen zur Ehe.
Die vielbewunderte junge Proselytin,
die für die Frankfurter christliche



Gesellschaft, von der sie zur Taufe
bereits mit Geschenken überhäuft worden war,
eine wahre Errungenschaft darstellte,
hätte Grünewalds Glück machen können.
Wenn es anders gekommen ist, lag das
zum einen daran, daß der Maler,
der späterhin eingezogen und fast
im Untergrund lebte, selber die Anerkennung
durch diese Gesellschaft hintertrieb,
und daß er zum andern, wie seine Bilder



erweisen, ein besseres Auge hatte für Männer,
deren Gesichter und ganze Körperlichkeit
er mit unendlicher Hingabe ausführte,
während die Frauen meist alle verhüllt sind
und ihn somit der Angst entheben,
genauer sie ansehn zu müssen.
Vielleicht ist die Grünewald Anna
darum händelsüchtig, krank, ein Opfer
der bösen Vernunft, des Kopffiebers
und des Wahnsinns geworden.
Bis auf Bessrung wird sie schließlich
ins Spital eingeliefert, wo sie
zum Zeitpunkt des Todes
des Malers noch ausharrt
in der Schwachheit ihres Leibs.


IV



Im Chicagoer Art Institute
hängt das Selbstbildnis eines unbekannten
jungen Malers, das im Jahre 1929 aus Schweden
in den Frankfurter Kunsthandel kam.
Das kleine Ahorntäfelchen zeigt
einen kaum Zwanzigjährigen
in einer engen Stube am Fenster.
Hinter ihm, auf einem in der Perspektive
nicht ganz richtigen Bord, Farbnäpfe,
ein Reibstift, eine Muschel und ein kostbares
Venezianer Glas mit einer durchsichtigen Essenz.
Ein schön geschnitztes beinernes Messer
hält der Maler in seiner Hand und schneidet
die Reißfeder, um alsbald weiterzuzeichnen
an dem Akt einer Frau, welcher vor ihm
neben dem Tintenfäßchen liegt.
Durchs Fenster zu seiner Linken sichtbar
ist eine Landschaft mit Berg und Tal
und dem Band eines Wegs. Dieser sei,
philosophiert Zülch, der Weg in die Welt,
und kein anderer sei ihn gegangen
als der spurlos verschwundene Mann,
dem seine Nachforschung gilt und dessen Kunst
er in dem anonymen Bild zu erkennen vermeint.



Die Bewandtnis mit der Signatur M. N.
über dem Rahmen des Fensters sei die,
daß sich der in den Archiven entdeckte,
durch eigene Arbeit sonst aber nicht nachweisliche
Maler Mathis Nithart hinter dem Namen Grünewald verberge.
Darum die Initialen M. G. und N. auf dem Schnee-
Altar in Aschaffenburg, darum die durch den Unterschied
des Alters besonders merkwürdige Identität
des jungen Malers mit dem Isenheimer
von Pfeilen durchbohrten Sebastian.



Und in der Tat geht die Figur des Mathis Nithart
in den Dokumenten der Zeit in einem Maß
in die Grünewalds über, daß man meint,
der eine habe wirklich das Leben
und zuletzt gar den Tod des anderen ausgemacht.
Eine Röntgenaufnahme der Sebastianstafel
bringt hinter dem elegischen Porträt
des Heiligen nochmals dasselbe Gesicht
zum Vorschein, das Halbprofil
in der endgültigen Übermalung nur
um ein winziges weiter gewendet.
Hier haben zwei Maler in einem Körper,
dessen verletztes Fleisch ihnen beiden gehörte,
ihre Natur ausstudiert. Zuerst hat Nithart
aus dem Spiegel sein eigenes Bildnis
gefertigt, und Grünewald hat es dann
mit großer Liebe, Genauigkeit und Geduld
und einem bis in die blauen Bartschatten
hineingehenden Interesse an der Haut
und am Haar seines Genossen übermalt.
Das dargestellte Martyrium ist die
noch an den Wundrändern spürbare
Repräsentation einer Männerfreundschaft,
schwankend zwischen Entsetzen und Treue.





















         Nicht auszuschließen, daß Nithart,
der auch Wasserkunstmacher gewesen ist,
in späteren Jahren der Verwechslung seiner Person
mit dem zunehmend leutscheuen Isenheimer
Meister Vorschub geleistet hat, daß er
vielleicht das Zwischenglied war
zwischen ihm und der ihm durch sein Unglück
unzugänglich gewordenen Welt. Um 1527,
etwa zwölf Jahre nach der Arbeit im Elsaß,
ist Nithart von Frankfurt, wo er das Leben
Grünewalds noch eine Zeitlang geteilt
haben muß, nach Halle gegangen,
um für die berühmten Salzquellen
der Stadt eine Wasserkunst anzulegen,
ein hochkompliziertes Mühlen- und
Röhrensystem so wie das am Main
zu Aschaffenburg, das ein herrliches
Räderwerk war und Schaustück.
Es heißt aber, daß Nithart in Halle
nimmer viel ausgerichtet und oft
die Wohnung gewechselt habe. Im Sommer
des achtundzwanziger Jahrs ist er in eine tiefe
Depression versunken, und dann scheint der Tod
schnell an ihn herangetreten zu sein.
Der Frankfurter Magistrat verordnet
nach Eintreffen der Nachricht vom Ableben
Nitharts die Registrierung des Hausrats
in seinem Atelier. Die lange Liste umfaßt
eine Ansammlung verschiedenster Dinge:
Löffel und Musschüsseln, Seifenkessel,
Treibriemen fürs Wasser, fünfzehn
wiß geledert Gaißfell, Silbertaler
und Kupfermünzen aus Schwaz im Tirol,
Bücher, Aufrufe, Schriften und viele
lutherische Drucke, alles das überstrahlt
von der Pracht eines einzigartigen
Farbenlagers: blywyß und albus,
parißrot, cinober, schyfergrün,
berkgrün, alchemy grün, blauen
Glasflüssen und Mineralien
aus dem Morgenland. Kleider auch,
schöne, item ein golt gel par hossen,
röcke negelsfarb, der uffschlag mit sammet
belegt und purpurianisch mit swartz maschen,
ein gra atlas wams, ein rot schlap hut
und vielerlei preziose Ausrüstung mehr.
Der Nachlaß ist in Wahrheit der zweier Männer,
ob aber Grünewald, der Erfinder der Farben,
die Vorliebe des abgewichenen Freundes
für einen bunten Aufzug geteilt hat,
wissen wir nicht zu sagen.




V



Da, wo von Straßburg die große Heerstraße
zur burgundischen Pforte, dem Zug
der Vogesen nach Süden folgend,
den aus dem Gebweiler Quertal
tretenden Lauterbach kreuzt,
liegt das Dorf Isenheim.

Zülch

Hier erwarben die regulierten
Chorherrn, deren legendäre Ordensgeschichte sich
auf den Anachoreten Antonius den Eremiten zurückschreibt,
der im Jahr 357 in der thebaischen
Wüste sein Leben verließ,
von den Murbacher Kluniazensern
um 1300 Grund und Boden,



um ein Antoniterspital zu begründen
zur Remedur des im gesamten
Abendland grassierenden Antoniusfeuers,
einer Infektion des Blutes, die
zu einem Abfaulen der Glieder führte
und neben der Lepra zu den fürchtigsten
Krankheiten des Mittelalters gehörte.

Zülch

Als das Antoniusfeuer nach und nach
erlosch, nahmen die Antoniter auch andre
den Geist oder den Körper zersetzende Leiden
in ihren Bereich auf, so die Epilepsie
und die seit 1490 in verheerendem Ausmaß
auftretenden sogenannten Lustseuchen.
Die Behandlung der bei ihrer Ankunft
im Spital meist schon halb zerstörten
Kranken ging dahin, daß sie
als hieratische Zeugen des Bösen
zuerst vor den Altar im Chorschiff geführt,
auf den Namen Märtyrer Gottes getauft und so,
gewissermaßen und trotz und samt ihrer Perversion,
in den Umkreis des Heils gebracht wurden. Dabei
geschah es nicht selten, daß der in den Schrein
des Altars eingelassenen Reliquie St. Antonii
tatsächlich ein Wunder ausging oder daß
die zum Teil entsetzlich Entstellten später
ihres Elends ledig wurden durch wiederholte
Applikution des Saint Vinage, eines Elixiers,
das die Chorherrn alljährlich am Tag der Atiferstehung
im Kloster Saint Antoine de Viennois
bei Saint Marcellin an der Isère gewannen



durch Übergießen der dort verwahrten
Gebeine des St. Antonius mit Wein.
Diese zweifach geläuterte Flüssigkeit
wurde von Boten des Klosters vertrieben
landauf und landab, und es haben mit ihr
die Bauern dasjenige Schwein bekreuzt,
das in ihrem Stall die Schelle
des Heiligen umhatte, der ja auch
der Patron der Hirten und Herden war.
Was das Spital selber anging,
in dem von den zwölf Chorherrn
acht meist unter einem Lektor
Philosophie studierten,
so wurden die Rituale der Reinigung,
nach denen man mit den Kranken verfuhr,
zu einem über den Körpern dieser Kranken
ausgetragenen Kampf gegen die im Wahnsinn
sich herstellende Präsenz des Todes,
zu der grundsätzlichsten Auseinandersetzung
überhaupt, in welcher das Altarwerk, das

Guido Guersi,
der Isenheimer Präzeptor,
bei Grünewald in Auftrag gab,
durch eine in den schönsten
und schauerlichsten Farben
ausgeführte Vergegenwärtigung
der Stunde der bleichen
Eitergewässer und somit durch
die Kraft und die Würckung
des Bildes eine zentrale therapeutische
Aufgabe zufallen sollte. Spätestens
mit dem Anfang der Arbeiten
in dem Elsässer Krüppelheim, wo das vielfältigste
Anschauungsmaterial dafür, wie der Mensch
in sich hineinkriecht oder aus sich
heraus will, versammelt war, wird Grünewald,
der ohnehin zu einer extremistischen Auffassung
der Welt geneigt haben muß, die Erlösung
des Lebens als eine vom Leben verstanden haben.
Nun ist das Leben als solches, so, wie es sich
furchtbarerweise fortwährend und überall
vollzieht, auf den Altarstufen, deren Figuren
dem Unheil des Daseins schon überhoben sind,
nirgends vorgestellt, es sei denn in jenem
irrealen und wahnwitzigen Getümmel,
das Grünewald um den von einem grausigen

Monstrum am Schopf
über den Boden geschleiften
heiligen Antonius der Versuchung entwickelt hat.
Zuunterst in der linken Ecke kauert
der von syphilitisehen Schwären
überzogene Leib eines Insassen
des Isenheiiner Spitals.



Darüber
erhebt sich eine doppelköpfige
und mehrnarmig verzwitterte Kreatur,
im Begriff, dem Heiligen mit einem
Kieferknochen den Garaus zu rnachen.



Rechterhand ein stelzenbeiniges

Vogeltier,
das mit menschlichen Armen
einen Prügel erhoben hält. Hinter
und neben diesem, gegen die Mitte des Bildes
ineinander verkrebst, haifisch- und lindwurm-
artige Rachen, Zahnreihen, aufgeworfene Nasen,
aus denen der Rotz rinnt, flossenförmige,
kaltlappige Flügel, Haar und Hörner,
Haut wie nach außen gekehrtes Gekröse,
Auswüchse des ganzen Lebens,
in der Luft, zu Land und im Wasser.



Dieses ist ihm, dem Maler, die Schöpfung,
Bild unserer irren Anwesenheit
auf der Oberfläche der Erde,
einer in abschüssigen Bahnen
verlaufenden Regeneration,
deren parasitäre, ineinander
verschlungene und in- und auseinander
gewachsene Formen eindringen
als ein dämonischer Schwarm
in die Ruhe des Eremiten.
Derart beschrieb Grünewald,
stillschweigend den Malpinsel führend,
das Geschrei, das Grölen, das Gurgeln
und das Geraune eines pathologischen Schauspiels,
zu dem er, und seine Kunst, wie er wohl wußte,
selber gehörten.

Der panische Halsknick,
überall an den in Grünewalds Werk
vorkommenden Subjekten zu sehen,
der die Kehle freigibt und das Gesicht
hineinwendet oft in ein blendendes Licht,
ist der äußerste Ausdruck der Körper dafür,
daß die Natur kein Gleichgewicht kennt,
sondern blind ein wüstes
Experiment macht ums andre
untl wie ein unsinniger Bastler schon
ausschlachtet, was ihr grad erst gelang.
Ausprobieren, wie weit sie noch gehen kann,
ist ihr einziges Ziel, ein Sprossen,
Sichforttreiben und Fortpflanzen,
auch in und durch uns und durch
die unseren Köpfen entsprungenen
Machinen in einem einzigen Wust,



während hinter uns schon die grünen
Bäume ihre Blätter verlassen und
kahl, wie oft zu sehen auf Grünewalds
Bildern, hineinragen in den Himmel,
überzogen das tote Geäst von einer
moosig hierabtriefeden Substanz.



Der schwarze Vogel, der dem heiligen
Antonius zu seinem Platz in der Wüste
im Schnabel die Brotzeit bringt,
ist vielleicht der immer schon
näher an uns heranfliegende
mit dem gläsernen Herz,
von dem ein anderer



heiliger Mann der letzten Tage verkündet,
er werde ins Meer scheißen,
so, daß es auskochen wird, daß
die Erde wackelt und die große Stadt
mit dem eisernen Turm im Feuer steht,
der Papst in einer Zille hockt
und die Finsternis kommt und
dort, wo das schwarze Kastl hinfällt,
ein gelber und grauer Staub
das Land überdeckt.






VI



Auf dem um 1505 entstandenen Basler Kreuzigungsbild
erstreckt sich hinter der Gruppe der Klagenden
eine so weit in die Tiefe hineingehende Landschaft,
daß unser Auge nicht ausreicht, sie zu ergründen.
Ein Stück brauner verbrannter Erde,
deren Umriß wie der Kopf eines Walfisches
oder Leviathans mit offenem Maul



die fahlgrünen Wiesenplane, Senken
und sumpfig schimmernde Breite
des Wassers verschlingt. Darüber,
verbannt hinter den Stufe um Stufe
düstrer und dunkler werdenden Horizont,
steigen die Hügel auf der Vorgeschichte
der Passion, sieht man das Tor
des Gartens Gethsemane, das Herantreten
der Häscher und die kniende Figur Christi
derart verkleinert, daß aus der Flucht
des Raumes spürbar wird
die sich überstürzende Zeit.
Wahrscheinlich hat Grünewald
die katastrophale Umnachtung,
die letzte Spur des aus dem Jenseits
einfallenden Lichts nach der Natur
gemalt und erinnert, denn im Jahr 1502,
als er in Bindlach, unterhalb des Fichtelgebirges,
an der Aufrichtung des Lindenhardter Altars arbeitete,



glitt zum l. Oktober der Mondschatten
über den Osten Europas von Südpolen
über die Lausitz, Böhmen und Mecklenburg,
und Grünewald, der wiederholt mit dem


Aschaffenburger Hofastrologen Johann Indagine
in Verbindung stand,
wird diesem von vielen mit großer Furcht
erwarteten Jahrhundertereignis der Sonnenverfinsterung
entgegengereist und Zeuge geworden sein
des heimlichen Wegsiechens der Welt,
in welchem ein geisterhaft Abendwerden
mitten im Tag wie eine Ohnmacht sich ausgoß
und im Gewölbe des Himmels,
über den Nebelbänken und den Wänden
der Wolken, über einem kalten und schweren
Blau ein feuriges Roth aufging und Farben



umherschweiften glanzvoll, wie nie
sie ein Auge gesehen und die der Maler
fortan nicht mehr aus dem Gedächtnis bringt.
Sie entfalten sich als die Rückseite
des Spektrums in einer anderen Beschaffenheit
der Luft, deren sauerstofflose Leere
uns in der Atemnot der Figuren des


Isenheimer Zentralstücks
schon den Tod durch Erstickung verheißt, wonach kommt
die Berglandschaft der Beweinung,




in der Grünewald mit pathetischem Blick
auf die Zukunft einen wildfremden
Planeten vorgebildet hat, kalkfarben
hinter dem schwarzblauen Strom.
Hier ist gemalt in schlimmer Erodiertheit
und Öde das Erbteil der Zerschleißung,
die zuletzt noch die Steine zerfrißt.
In Anbetracht dessen dünkt mich
die Eiszeit, das hellweiße



Turmgebäude der Gipfel im oberen
Bereich der Versuchung,
die Konstruktion einer Metaphysik,
und ein Schneewunder, wie jenes



im Jahr 352 es war, als es,
in der Höhe des Sommers,
geschneit hat
auf den Esquilin-Hügel in Rom.


VII

Im Frühjahr 1525 ritt Grünewald
durch Aprillicht und Schauer
nach Windsheim, wo er
in der Werkstatt Jakob Secklers
ein kleines Gesprenge aus Weinlaub
und verschiedenen Vögeln
in Arbeit gegeben hatte.



Während Seckler die letzte Hand
an die Sache legte, geriet Grünewald
ins Gespräch mit Barthel und


Sebald Beham, Kupferstecher und Zeichner aus Nürnberg,
die, am 12. Jänner als gottlose Maler
verhaftet und wegen Ketzerei
aus ihrer Heimatstadt ausgewiesen,
vorläufig bei dem Windsheimer Meister logierten.
Die Brüder erzählten auf Spazierwegen
hinaus in die noch fehlfarbenen
Felder und bis tief in die Nacht
von dem in Nürnberg gewesenen


Thomas Münzer
der jetzt durch Schwaben nach dem Elsaß,
in die Schweiz und den Schwarzwald gegangen sei,
die Erhebung ausrichten. Denn die sechste
Posaune sei im Schwange, und es müsse
der arme Buchstabe ausgelassen werden
aus dem Maul. Klirrend komme
ein großes Pfingstfest,
die Füllung der Wasser
rücke vor, sprudelnd
vereinigten sich die Planeten
im Haus der Fische, der rote
Stern trete in Konjunktion mit dem


Saturn, dem Zeichen
der Bauern, und ein phantastisches
Feuer leuchte dann auf, wenn
in dieser nächst vermuteten Zukunft
ein notiger Hudler erkennbar werde
als der Messias Septentrionalis.
Grünewald sagte, einmal, zur Zeit
seiner Kindheit, er sei sechs oder
sieben gewesen, habe der


Pauker von Niklashausen mit Versprechung
irdischen Glücks für die Ärmsten
das Volk aufgerührt. Fünfzigtausend
seien ihm täglich zugezogen, sein Bethaus
habe sich angefüllt mit riesigen Schätzen,
und das sei eine Zeit so gegangen,
und dann habe man ihn zum Schauspiel
des Pöffel in Würzburg geröstet.
Ich seh schon, fuhr er fort,
unter dem Regenbogen, den ihr überm Land
aufgehen seht, die Reiter
hervorrücken aus ihrem Lager.
Bruder, sprach er, wie sie entlang
der Windsheimer Wälder gingen,
ich weiß, der alte Rock reißt,
und fürchte mich
vor der Neige der Zeit.
Mitte des Mai, Grünewald
war mit seinem Gesprenge
in Frankfurt zurück, war
das Korn weiß zur Ernte,
zog die geschärfte Sichel
durch das Leben eines Heers von fünftausend


in der sonderbaren Schlacht von Frankenhausen
in der kaum ein Reisiger fiel,
die Leiber der Bauern aber
zur Hekatombe sich türmten,
weil sie, als wären sie wahnsinnig,
sich weder zur Wehr setzten
noch anschickten zur Flucht.
Als Grünewald am 18. Mai
diese Nachricht erreichte,
ging er nicht mehr außer Haus.
Er hörte aber das Augenausstechen,
das lang noch vorging
zwischen dem Bodensee
und dem Thüringer Wald.
Wochenweis trug er damals
eine dunkle Binde
vor dem Gesicht.





VIII

Mit dem Maler zu Pferd,
manchmal auch auf dem Karren
zuoberst sitzt ein neunjähriges Kind,
das eigene, wie er mit Verwundrung
bedenkt, in der Ehe mit Anna gezeugte.
Es ist ein sehr schöner Weg, dieser letzte,
im September des Jahrs 1527, dem Wasser entlang
durch die Täler. Die Luft bewegt das Licht
zwischen den Blättern der Bäume, und von den Anhöhn
sehen sie auf das ringsum ausgebreitete Land.
Bei der Rast an den Steinen lehnend,
spürt Grünewald in sich sein Unglück
und das des Wasserkünstlers in Halle.
Wie die Stare treibt der Wind uns
zum Flug zur Zeit der Einkehr
der Schatten. Was bleibt, bis zuletzt,
ist die aufgetragene Arbeit. Im Dienst der Familie


Erbach in Erbach im Odenwald wendet der Maler
die noch übrigen Jahre an ein Altarwerk,
Kreuzigung abermals und Beweinung,
die Entstellung des Lebens geht langsam
vonstatten, und stets zwischen dem Blick
des Auges und dem Anhub des Pinsels
legt Grünewald jetzt eine weite
Reise zurück, unterbricht auch viel öfter,
als er sonst gewohnt, den Fortgang der Kunst,
um sein Kind in die Lehre zu nehmen
in der Werkstatt und draußen im grünen Gelände.



Was er selbst dabei lernte, ist nirgends berichtet,
nur daß das Kind im Alter von vierzehn Jahren
aus unbekannter Ursach auf einmal
gestorben ist und daß der Maler es
nicht um viel überlebte. Späh scharf voran,
dort siehst du im Grauen des Abends
die fernen Windmühlen sich drehn.
Der Wald weicht zurück, wahrlich,
in solcher Weite, daß man nicht kennt,
wo er einmal gelegen, und das Eishaus
geht auf, und der Reif zeichnet ins Feld
ein farbloses Bild der Erde.
So wird, wenn der Sehnerv
zerreißt, im stillen Luftraum
es weiß wie der Schnee
auf den Alpen.