Medien



W. G. Sebald liest

DR. K.s BADEREISE NACH RIVA
Schwindel. Gefühle S. 161ff.






eine Art Lächeln

Briefkopf des Hotels

Balduin, der beste Fechter von Prag

Einwohner von Desenzano
nicht bekannt, wie lange sie Ausschau gehalten haben


verschiedene kalte Gußbäder

Barke mit unverständlich hohen Masten

Florian Illies (1913):
Januar 1913 „ist der Monat, in dem sich Hitler und Stalin beim Spazierengehen im Schlosspark von Schönbrunn begegnen, Thomas Mann fast geoutet und Franz Kafka vor Liebe fast verrückt wird. Zu Sigmund Freud auf die Couch schleicht eine Katze. Es ist sehr kalt, der Schnee knirscht unter den Füßen. Else Lasker-Schüler ist total verarmt und verliebt in Gottfried Benn, bekommt eine Pferdepostkarte von Franz Marc, nennt Gabriele Münter aber eine Null. Ernst Ludwig Kirchner zeichnet die Kokotten am Potsdamer Platz.“ Und „Oswald Spengler arbeitet schon am ‚Untergang des Abendlandes’.“

„Im März fährt Kafka tatsächlich zu Felice Bauer nach Berlin, sie versuchen, zusammen spazieren zu gehen, doch es klappt nicht.“ Im April meldet sich Kafka „zum freiwilligen Arbeitsdienst beim Gemüsebauern und jätet nachmittags Unkraut, um seinen ‚Burn-Out’ zu therapieren“, im Juni stellte er „eine Art Heiratsantrag, der schiefgeht“, im November geht er „ins Kino und weint“. Felice Bauer antwortet ihm nicht mehr.

1912 entstehen die Erzählungen „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ sowie das erste Kapitel („Der Heizer“) des Amerika-Romans „Der Verschollene“. „Das Urteil“ und „Der Heizer“ erscheinen 1913. Die Jahre 1912 und 1913 sind für Kafka Jahre des literarischen Durchbruchs zu einer ihm gemäßen Form von Literatur, die heute seine Bedeutung ausmacht und die dem Autor Weltruhm verschafft – allerdings erst sehr viel später, doch dafür umso nachhaltiger: Die Geschichte einer literarischen Karriere eines zu Lebzeiten kaum bekannten Prager Schriftstellers. Prekäre Liebesbeziehung Kafkas zu Felice Bauer, die er am 13. August 1912 im Elternhaus seines Freundes Brod kennen lernt, der er am 20. September den ersten von zahllosen Briefen schreibt und an die er im Juni 1913 den vielleicht seltsamsten Heiratsantrag schickt, der je geschrieben wurde - und etliche Rezensionen noch heute zu Neuerscheinungen über Kafkas Werk demonstrieren einmal mehr, dass das Interesse an Kafka nicht nachlässt.

Unter den ersten berühmten mitteleuropäischen Persönlichkeiten, die die Vorzüge von Riva del Garda suchen und rühmen, ist Kafka, dem wir das eindrucksvollste literarische Zeugnis vom See verdanken. Als er 1909 erstmals nach Riva del Garda kommt, sind es nicht gesundheitliche Gründe, sondern ein Badeaufenthalt - zusammen mit den Brüdern Brod, die schon vorher dort waren und den Ort wegen der Schönheit des Seepanoramas gewählt hatten.
Während dieses Aufenthalts lernt Kafka das Sanatorium von Hartungen und seine fortschrittlichen Heilmethoden kennen, die seinen Ideen der natürlichen Heilung entsprechen.
Und: In Riva del Garda findet Kafka auch die Liebe, während eines Boootsausfluges verliebt er sich in eine junge Schweizerin, die ihm unerwartete Glücksmomente schenkt.
Die Erfahrungen im Sanatorium und in Riva hinterlassen ihre Spuren im "Jäger Gracchus", der am Gardasee spielt, und den er drei Jahre nach der letzten Reise nach Riva, zwischen 1916 und 1917 schreibt.
Mit dieser Erzählung kehrt Kafka an den Gardasee zurück, der für ihn Erholung und Hoffnung bedeutet und der für ihn immer eine positive Erfahrung darstellte, als ob er einen Zyklus der philosophischen Betrachtung der Existenz abgeschlossen hätte. Im Jäger Gracchus wird die majestätische Szenerie des Gardasees jedoch zu einem Szenarium des Todes, der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit. Es sind nicht mehr die herrlichen Farben der Vegetation und des Wassers, die ihn inspirieren, der Gardasee verwandelt sich in eine Metapher der Verzweiflung. Von Riva erwähnt er nur den kleinen Hafen, den Seespaziergang, die steilen Gässchen und die nackte schwarz-graue Felswand im Hintergrund ...

Die zweitgrößte Stadt am See liegt abgeschottet an seiner Nordspitze, eingerahmt von Felswänden auf der einen und Olivenhainen auf der anderen Seite. Wenn der Gardasee eine Art Enklave in Italien ist, so ist Riva eine Enklave an seinem Ufer.
Riva ist eine Keimzelle des Fremdenverkehrs. Im 19. Jahrhundert, als der Ort zu Österreich-Ungarn gehört und Reiff am Gartsee heißt, entwickelt sich der kleine Handelsplatz zum Luftkurort. Während der Cousin von Kaiser Franz Josef das benachbarte Arco zu seinem Winterwohnsitz macht, tanzen die Offiziere mit ihren Frauen auf Rivas Promenade in den Sonnenuntergang. Bald kommen auch internationale Gäste, amerikanische Millionäre wie die Vanderbilts und russische Aristokraten wie die Schwester des Zaren. Um diese illustren Besucher angemessen zu beherbergen, wächst in Riva eine eigene Generation Hoteliers heran.

Viele Intellektuelle kamen nach Riva, um hier ihre "Neurasthenie" zu kurieren - Modekrankheit des Fin de Siècle, ein nervöses Leiden, verursacht durch den schwindelerregenden Fortschritt des gesellschaftlichen Lebens. Hartungen errichtet eigens ein Sanatorium. Thomas und Heinrich Mann sind hier in Behandlung, bekommen zur Heilung ein Schreibverbot auferlegt und müssen stattdessen rudern gehen. Sigmund Freud, Christian Morgenstern und Karl May kommen zur Erholung nach Riva, das zum Inbegriff von Licht und Leichtigkeit wird. Oder wie der lungenkranke Franz Kafka schreibt: "In Riva war ich des Südens Gast, der mir nie wieder so liebenswürdig und großartig begegnete."

Den Charme eines Kurortes hat Riva sich bis heute bewahrt – wirkt aus der Zeit gefallen. Riva ist liebenswert langweilig. Auf gute Art und Weise, ganz so, als könnte man hier länger verweilen, von der Promenade auf den See schauen, nichts tun, alle nervösen Leiden loswerden. Auch weil die Rivaner zwar eigenwillig, aber nicht eigensinnig sind. Sie haben gelernt, ihre Heimat mit ihren Gästen zu teilen, ohne sie ihnen zu opfern ...