Kunst

Or va, che un sol volere è d'ambedue:
tu duca, tu signore e tu maestro.
Così gli dissi; e poi che mosso fue,
entrai per lo Cammino alto es silvestro.
Dante, Inferno, Canto II
Nun geh, denn ein Wille ist von beiden:
du Herzog, du Herr und du Meister.
Also sprach ich zu ihm; und als er sich rührte,
betrat ich den hohen und waldigen Pfad.



WIE DER SCHNEE
AUF DEN ALPEN


Wer auf der A 9 zwischen Nürnberg und Hof unterwegs ist, der sieht bei Trockau nicht weit im Osten auf einem Hügel den Turm der alten Wehrkirche von Lindenhardt. Ihr spätgotischer Flügelaltar birgt ein Gemälde Mathias Grünewalds. Das Schicksal des Bildes ist ebenso dunkel und rätselhaft wie das von Mathis Nithart dem Maler, von dem nicht sicher ist, ob es ein oder zwei Menschen waren ....
Ein Riese aber am Malerhimmel ist er in jedem Fall.




Matthias Grünewald
Nach der Natur S. 7ff


Wer die Flügel des Altars
der Pfarrkirche von Lindenhardt
zumacht und die geschnitzten Figuren
in ihrem Gehäuse verschließt,
dem kommt auf der linken
Tafel der hl. Georg entgegen.
Zuvorderst steht er am Bildrand
eine Handbreit über der Welt
und wird gleich über die Schwelle
des Rahmens treten. Georgius Miles,
Mann mit eisernem Rumpf, erzen gerundeter
Brust, rotgoldnem Haupthaar und silbernen
weiblichen Zügen.


Groß:

        Das Antlitz des unbekannten
Grünewald taucht stets wieder auf
in seinem Werk als das eines Zeugen
des Schneewunders, eines Einsiedlers
in der Wüste, eines Mitleidigen
in der Münchner Verspottung.
Zuletzt im Nachmittagsschimmer
der Erlanger Bibliothek scheint es hervor
aus einem mit weiß gehöhter Kreide angelegten,
später mit Feder und Tusche von fremder
Hand zerstörten Selbstbildnis eines vierzig-
bis fünfzigjährigen Malers.















        Immer dieselbe
Sanftmut, dieselbe Bürde der Trübsal,
dieselbe Unregelmäßigkeit der Augen, verhängt
und versunken seitwärts ins Einsame hin.
Auch kehrt Grünewalds Gesicht wieder
in einem Basler Bild des jüngeren
Holbein, das eine gekrönte Heilige zeigt.
Es seien dies merkwürdig verstellte
Fälle von Ähnlichkeit, schrieb Fraenger,
dessen Bücher die Faschisten verbrannten.
Ja, es scheine, als hätten im Kunstwerk
die Männer einander verehrt wie Brüder,
einander dort oft ein Denkmal gesetzt,
wo ihre Wege sich kreuzten.


         Darum wohl
auch in der Mitte des rechten Flügels
des Lindenhardter Altars in Besorgnis
den Blick auf den Jüngling auf der anderen
Seite gerichtet jener ältere Mann, dem ich selber
vor Jahren einmal an einem Januarmorgen
auf dem Bamberger Bahnhof begegnet bin.



         Es ist der heilige Dionysius,
das abgeschlagene Haupt unterm Arm.
Ihm, seinem erwählten Protektor,
der inmitten des Lebens seinen Tod
mit sich führt, gibt Grünewald das Ansehen
Riemenschneiders, dem der Würzburger Bischof
zwanzig Jahre darauf auf der Folter
die Hände brechen ließ.

         Lang vor der Zeit
geht der Schmerz bereits ein in die Bilder.
Das ist die Vorschrift, weiß der Maler,
der sich einreiht auf dem Altar
in die viel zu geringe Genossenschaft
der vierzehn Nothelfer. Sie alle, die heiligen

Vierzehn Nothelfer
1. Georg 2. Dionysius 3. Blasius 4. Achaz 5. Eustach 6. Pantaleon 7. Aegidius 8. Cyriax 9. Christophorus 10. Erasmus 11. Veit 12. Barbara 13. Katharina 14. Margarethe


         Blasius,
Achaz
und
Eustach;
Pantaleon,
Aegidius,
Cyriax,
Christophorus und
Erasmus
und
der wirklich wunder-
schöne heilige Veit mit dem Hahn,
schauen ein jeder in eine andere
Richtung, ohne daß wir verstünden,
warum.







der wirklich wunder-
schöne heilige Veit mit dem Hahn,
schauen ein jeder in eine andere
Richtung, ohne daß wir verstünden,
warum.

         Die drei Nothelferinnen
Barbara, Katharina und Margarethe hingegen
stecken am Rand der linken Tafel
hinter dem Rücken des Georg ihre
gleichförmigen orientalischen Köpfe
zu einer Verschwörung gegen die Männer
zusammen. Auch das Unglück der Heiligen
ist ihr Geschlecht, ist die furchtbare
Separation der Geschlechter, die Grünewald
am eigenen Leib erfuhr.


         Der ausgetriebene
Teufel, den Cyriax, nicht bloß aufgrund
der Enge des Raumes, sondern
wie ein Emblem hoch in die Luft
erhoben hält, ist ein weibliches
Wesen und stammt, wie eine Grisaille
Grünewalds im Frankfurter Stadel aufs drastischste
vorführt, aus der epileptischen Tochter
Diokletians, der verzwängten Prinzessin
Artemia, die Cyriax, neben dem sie kniet
an der Erde, mit dem Manipel seines Ornats
wie einen Hund kurz gebunden hält.
Vordrängend über den beiden das Gezweig
eines Feigenbaumes mit Früchten, von denen
eine von Insekten ganz ausgehöhlt ist.

Im Chicagoer Art Institute
hängt das Selbstbildnis eines unbekannten
jungen Malers, das im Jahre 1929 aus Schweden
in den Frankfurter Kunsthandel kam.
Das kleine Ahorntäfelchen zeigt
einen kaum Zwanzigjährigen
in einer engen Stube am Fenster.
Hinter ihm, auf einem in der Perspektive
nicht ganz richtigen Bord, Farbnäpfe,
ein Reibstift, eine Muschel und ein kostbares
Venezianer Glas mit einer durchsichtigen Essenz.
Ein schön geschnitztes beinernes Messer
hält der Maler in seiner Hand und schneidet
die Reißfeder, um alsbald weiterzuzeichnen
an dem Akt einer Frau, welcher vor ihm
neben dem Tintenfäßchen liegt.
Durchs Fenster zu seiner Linken sichtbar
ist eine Landschaft mit Berg und Tal
und dem Band eines Wegs. Dieser sei,
philosophiert Zülch, der Weg in die Welt,
und kein anderer sei ihn gegangen
als der spurlos verschwundene Mann,
dem seine Nachforschung gilt und dessen Kunst
er in dem anonymen Bild zu erkennen vermeint.

Die Bewandtnis mit der Signatur M. N.
über dem Rahmen des Fensters sei die,
daß sich der in den Archiven entdeckte,
durch eigene Arbeit sonst aber nicht nachweisliche
Maler Mathis Nithart hinter dem Namen Grünewald verberge.
Darum die Initialen M. G. und N. auf dem Schnee-
Altar in Aschaffenburg, darum die durch den Unterschied
des Alters besonders merkwürdige Identität
des jungen Malers mit dem Isenheimer
von Pfeilen durchbohrten Sebastian.
Und in der Tat geht die Figur des Mathis Nithart
in den Dokumenten der Zeit in einem Maß
in die Grünewalds über, daß man meint,
der eine habe wirklich das Leben
und zuletzt gar den Tod des anderen ausgemacht.
Eine Röntgenaufnahme der Sebastianstafel
bringt hinter dem elegischen Porträt
des Heiligen nochmals dasselbe Gesicht
zum Vorschein, das Halbprofil
in der endgültigen Übermalung nur
um ein winziges weiter gewendet.
Hier haben zwei Maler in einem Körper,
dessen verletztes Fleisch ihnen beiden gehörte,
ihre Natur ausstudiert. Zuerst hat Nithart
aus dem Spiegel sein eigenes Bildnis
gefertigt, und Grünewald hat es dann
mit großer Liebe, Genauigkeit und Geduld
und einem bis in die blauen Bartschatten
hineingehenden Interesse an der Haut
und am Haar seines Genossen übermalt.
Das dargestellte Martyrium ist die
noch an den Wundrändern spürbare
Repräsentation einer Männerfreundschaft,
schwankend zwischen Entsetzen und Treue.






daß er wie seine Bilder
erweisen, ein besseres Auge hatte für Männer,
deren Gesichter und ganze Körperlichkeit
er mit unendlicher Hingabe ausführte,
während die Frauen meist alle verhüllt sind
und ihn somit der Angst entheben,
genauer sie ansehn zu müssen.






zu der grundsätzlichsten Auseinandersetzung
überhaupt, in welcher das Altarwerk,


das Guido Guersi, der Isenheimer Präzeptor,
bei Grünewald in Auftrag gab,
durch eine in den schönsten
und schauerlichsten Farben
ausgeführte Vergegenwärtigung
der Stunde der bleichen
Eitergewässer und somit durch
die Krafft und die Würckung
des Bildes eine zentrale therapeutische
Aufgabe zufallen sollte.





Spätestens
mit dem Anfang der Arbeiten
in dem Elsässer Krüppelheim, wo das vielfältigste
Anschauungsmaterial dafür, wie der Mensch
in sich hineinkriecht oder aus sich
heraus will, versammelt war, wird Grünewald,
der ohnehin zu einer extremistischen Auffassung
der Welt geneigt haben muß, die Erlösung
des Lebens als eine vom Leben verstanden haben.





Nun ist das Leben als solches, so, wie es sich
furchtbarerweise fortwährend und überall
vollzieht, auf den Altarstufen, deren Figuren
dem Unheil des Daseins schon überhoben sind,
nirgends vorgestellt, es sei denn in jenem
irrealen und wahnwitzigen Getümmel,
das Grünewald um den von einem grausigen
Monstrum am Schopf über den Boden geschleiften
heiligen Antonius der Versuchung entwickelt hat.

Zuunterst in der linken Ecke kauert
der von syphilitischen Schwären
überzogene Leib eines Insassen
des Isenheimer Spitals.
Darüber
erhebt sich eine doppelköpfige
und mehrarmig verzwitterte Kreatur,
im Begriff, dem Heiligen mit einem
Kieferknochen den Garaus zu machen.
Rechterhand ein stelzenbeiniges Vogeltier,
das mit menschlichen Armen
einen Prügel erhoben hält.



Hinter und neben diesem, gegen die Mitte des Bildes
ineinander verkrebst, haifisch- und lindwurm-
artige Rachen, Zahnreihen, aufgeworfene Nasen,
aus denen der Rotz rinnt, flossenförmige,
kaltlappige Flügel, Haar und Hörner,
Haut wie nach außen gekehrtes Gekröse,
Auswüchse des ganzen Lebens,
in der Luft, zu Land und im Wasser.


Dieses ist ihm, dem Maler, die Schöpfung,
Bild unserer irren Anwesenheit
auf der Oberfläche der Erde,
einer in abschüssigen Bahnen
verlaufenden Regeneration,
deren parasitäre, ineinander
verschlungene und in- und auseinander
gewachsene Formen eindringen
als ein dämonischer Schwarm
in die Ruhe des Eremiten.
Derart beschrieb Grünewald,
stillschweigend den Malpinsel führend,
das Geschrei, das Grölen, das Gurgeln
und das Geraune eines pathologischen Schauspiels, zu dem er, und seine Kunst, wie er wohl wußte,
selber gehörten. Der panische Halsknick,
überall an den in Grünewalds Werk
vorkommenden Subjekten zu sehen,

der die Kehle freigibt und das Gesicht
hineinwendet oft in ein blendendes Licht,
ist der äußerste Ausdruck der Körper dafür,
daß die Natur kein Gleichgewicht kennt,
sondern blind ein wüstes
Experiment macht ums andre
und wie ein unsinniger Bastler schon
ausschlachtet, was ihr grad erst gelang.
Ausprobieren, wie weit sie noch gehen kann,
ist ihr einziges Ziel, ein Sprossen,
Sichforttreiben und Fortpflanzen,
auch in und durch uns und durch
die unseren Köpfen entsprungenen
Maschinen in einem einzigen Wust,
während hinter uns schon die grünen
Bäume ihre Blätter verlassen und
kahl, wie oft zu sehen auf Grünewalds
Bildern, hineinragen in den Himmel,
überzogen das tote Geäst von einer
moosig herabtriefenden Substanz.
Der schwarze Vogel, der dem heiligen
Antonius zu seinem Platz in der Wüste
im Schnabel die Brotzeit bringt,
ist vielleicht der immer schon
näher an uns heranfliegende
mit dem gläsernen Herz,
von dem ein anderer heiliger Mann
der letzten Tage verkündet,
er werde ins Meer scheißen,
so, daß es auskochen wird, daß
die Erde wackelt und die große Stadt
mit dem eisernen Turm im Feuer steht,
der Papst in einer Zille hockt
und die Finsternis kommt und
dort, wo das schwarze Kastl hinfällt,
ein gelber und grauer Staub
das Land überdeckt.






Auf dem um 1505 entstandenen Basler Kreuzigungsbild
erstreckt sich hinter der Gruppe der Klagenden
eine so weit in die Tiefe hineingehende Landschaft,
daß unser Auge nicht ausreicht, sie zu ergründen.

Ein Stück brauner verbrannter Erde,
deren Umriß wie der Kopf eines Walfisches
oder Leviathans mit offenem Maul

die fahlgrünen Wiesenplane, Senken
und sumpfig schimmernde Breite
des Wassers verschlingt. Darüber,
verbannt hinter den Stufe um Stufe
düstrer und dunkler werdenden Horizont,
steigen die Hügel auf der Vorgeschichte
der Passion, sieht man das Tor
des Gartens Gethsemane, das Herantreten
der Häscher und die kniende Figur Christi
derart verkleinert, daß aus der Flucht
des Raumes spürbar wird
die sich überstürzende Zeit.

Wahrscheinlich hat Grünewald
die katastrophale Umnachtung,
die letzte Spur des aus dem Jenseits
einfallenden Lichts nach der Natur
gemalt und erinnert, denn im Jahr 1502,
als er in Bindlach, unterhalb des Fichtelgebirges,
an der Aufrichtung des Lindenhardter Altars arbeitete,
glitt zum l. Oktober der Mondschatten
über den Osten Europas von Südpolen
über die Lausitz, Böhmen und Mecklenburg,
und Grünewald, der wiederholt mit dem Aschaffenburger
Hofastrologen Johann Indagine in Verbindung stand,
wird diesem von vielen mit großer Furcht
erwarteten Jahrhundertereignis der Sonnenverfinsterung
entgegengereist und Zeuge geworden sein



des heimlichen Wegsiechens der Welt,
in welchem ein geisterhaft Abendwerden
mitten im Tag wie eine Ohnmacht sich ausgoß
und im Gewölbe des Himmels,
über den Nebelbänken und den Wänden
der Wolken, über einem kalten und schweren
Blau ein feuriges Roth aufging und Farben

umherschweiften glanzvoll, wie nie
sie ein Auge gesehen und die der Maler
fortan nicht mehr aus dem Gedächtnis bringt.
Sie entfalten sich als die Rückseite
des Spektrums in einer anderen Beschaffenheit
der Luft, deren sauerstofflose Leere
uns in der Atemnot der Figuren
des Isenheimer Zentralstücks schon den Tod

durch Erstickung verheißt, wonach kommt
die Berglandschaft der Beweinung,
in der Grünewald mit pathetischem Blick
auf die Zukunft einen wildfremden
Planeten vorgebildet hat, kalkfarben
hinter dem schwarzblauen Strom.
Hier ist gemalt in schlimmer Erodiertheit
und Öde das Erbteil der Zerschleißung,
die zuletzt noch die Steine zerfrißt.
In Anbetracht dessen dünkt mich
die Eiszeit, das hellweiße



Turmgebäude der Gipfel im oberen
Bereich der Versuchung,
die Konstruktion einer Metaphysik,
und ein Schneewunder, wie jenes



im Jahr 352 es war, als es,
in der Höhe des Sommers,
geschneit hat
auf den Esquilin-Hügel in Rom.

Was bleibt, bis zuletzt,
ist die aufgetragene Arbeit. Im Dienst der Familie
Erbach in Erbach im Odenwald wendet der Maler
die noch übrigen Jahre an ein Altarwerk,
Kreuzigung abermals und Beweinung,
die Entstellung des Lebens geht langsam

vonstatten, und stets zwischen dem Blick
des Auges und dem Anhub des Pinsels
legt Grünewald jetzt eine weite
Reise zurück, unterbricht auch viel öfter,
als er sonst gewohnt, den Fortgang der Kunst,
um sein Kind in die Lehre zu nehmen
in der Werkstatt und draußen im grünen Gelände.
Was er selbst dabei lernte, ist nirgends berichtet,
nur daß das Kind im Alter von vierzehn Jahren
aus unbekannter Ursach auf einmal
gestorben ist und daß der Maler es
nicht um viel überlebte.







Die Ausgewanderten S. 253ff







Die extremistische, eine jede Einzelheit durchdringende, sämtliche Glieder verrenkende und in den Farben wie eine Krankheit sich ausbreitende Weltsicht dieses seltsamen Mannes war mir, wie ich immer gewußt hatte und nun durch den Augenschein bestätigt fand, von Grund auf gemäß. Die Ungeheuerlichkeit des Leidens, das, ausgehend von den vorgeführten Gestalten, die ganze Natur überzog, um aus den erloschenen Landschaften wieder zurückzufluten in die menschlichen Todesfiguren, diese Ungeheuerlichkeit bewegte sich nun auf und nieder in mir nicht anders als die Gezeiten des Meers. Dabei begriff ich allmählich, auf die durchbohrten Leiber schauend und auf die vor Gram wie Schilfrohr durchgebeugten Körper der Zeugen der Hinrichtung, daß an einem bestimmten Grad der Schmerz seine eigene Bedingung, das Bewußtsein, aufhebt und somit sich selbst, vielleicht - wir wissen sehr wenig darüber. Fest steht hingegen, daß das seelische Leiden praktisch unendlich ist. Wenn man glaubt, die letzte Grenze erreicht zu haben, gibt es immer noch weitere Qualen. Man fällt von Abgrund zu Abgrund.















und daß ich dabei doch spürte, wie der furchtbare Zustand einer vollkommenen Schmerzlähmung der inneren Verfassung, die

über die Jahre die meine geworden war, auf die denkbar akkurateste Weise entsprach. Ich erinnere mich außerdem, daß die krumme Stellung, die ich notgedrungen einnahm, mir quer durch den Schmerz hindurch eine Fotografie ins Gedächtnis rief, die der Vater von mir als Zweitkläßler gemacht hatte und die mich zeigte, tief über die Schrift gebeugt.






Wenig bekannt ist über das Leben des


Matthaeus Grünewald
von Aschaffenburg


Von seiner Person wissen wir wenig und von seinem Schaffen haben wir womöglich nur einseitige Kenntnis, ein authentisches Bild von ihm existiert nicht - um so mehr ist sein Leben, wie kaum ein anderes, umflort von Mythen.
Sebald lehnt sich eng an die Forschungen Zülchs an - er zitiert aus dem von einem gewissen Philipp Fürchtegott Reemtsma gesponsortem und diesem gewidmeten Werk ganze Passagen nahezu wörtlich.
Der Kunsthistorikers Walther Karl Zülch forscht ab 1911 über diesen wohl bedeutendsten Maler der europäischen Renaissance, der gleichzeitg "Wasserkunstmacher" ist. Zülchs Ergebnisse sind nicht unumstritten, zumindest aber lösen sie den Konflikt um die Monogrammierung auf.

Wer aber ist der Künstler, dessen - im Vergleich zu anderen - überschaubares Œuvre alle noch so genialen Zeitgenossen übertrifft? Die nachweisebare Tätigkeit dieses Zauberers der Emotionen, eigenwillig und unabhängig, des Magiers des Lichts und der Farbe, währt nicht länger als 25 Jahre.



Der erste Bericht über den Maler
in der
teutschen Academie des Joachim von Sandrart
aus dem Jahr1675 beginnt mit dem Verweis, der Autor
wisse nicht einen Menschen bey leben,
der über die ruhmwürdige Hand eine Schrift
oder mündliche Nachricht geben könne.
Dem Zeugnis Sandrarts dürfen wir trauen,
denn ein Bildnis in einem Würzburger Museum
hat ihn bewahrt, zweiundachtzigjährig,
hellwach und von seltener Klarheit des Blicks.

Als Schuljunge entdeckt Joachim, geboren 1606, bei dem Künstler Uffenbach Zeichnungen eines lange verstorbenen Meisters. Aus dem aufgeweckten Knaben wird der "der deutsche Vasari", ein hoch angesehener, weitgereister Maler und Kenner, Kunstschriftsteller von Rang.
Sandrart verfolgt die Spuren des alten Meisters weiter, seine "Meldungen" machen kunstgeschichtlich Epoche, sind zu wesentlichen Teilen das Fundament des heutigen Wissens um unseren Künstler. Die Kehrseite der unschätzbaren Verdienste Sandrarts ist die Namensgebung. Hieß er Mathis Nithardt/Neithart/Gothart oder Grünewald? Der wohlklingende Name Grünewald besticht, wird geläufig - bis heute. Über den Namen Grünewald zu einer historisch beglaubigten Person vorzudringen, ist unmöglich, diskutiert wird bis heute, ob man sich von diesem Namen nicht ganz verabschieden soll.
Meinungsstand:
- Der Grünewald Sandrarts ist in Wahrheit Mathis Neithart
- Grünewald gibt es tatsächlich
- Grünewald und Mathis kennen sich, sind gar befreundet, arbeiten miteinander
- Mathis (oder umgekehrt) gibt vor, der andere zu sein























Im Chicagoer Art Institute
hängt das Selbstbildnis eines unbekannten
jungen Malers, das im Jahre 1929 aus Schweden
in den Frankfurter Kunsthandel kam.
Das kleine Ahorntäfelchen zeigt
einen kaum Zwanzigjährigen
in einer engen Stube am Fenster.
Hinter ihm, auf einem in der Perspektive
nicht ganz richtigen Bord, Farbnäpfe,
ein Reibstift, eine Muschel und ein kostbares
Venezianer Glas mit einer durchsichtigen Essenz.
Ein schön geschnitztes beinernes Messer
hält der Maler in seiner Hand und schneidet
die Reißfeder, um alsbald weiterzuzeichnen
an dem Akt einer Frau, welcher vor ihm
neben dem Tintenfäßchen liegt.
Durchs Fenster zu seiner Linken sichtbar
ist eine Landschaft mit Berg und Tal
und dem Band eines Wegs. Dieser sei,
philosophiert Zülch, der Weg in die Welt,
und kein anderer sei ihn gegangen
als der spurlos verschwundene Mann,
dem seine Nachforschung gilt und dessen Kunst
er in dem anonymen Bild zu erkennen vermeint.
Die Bewandtnis mit der Signatur M. N.
über dem Rahmen des Fensters sei die,
daß sich der in den Archiven entdeckte,
durch eigene Arbeit sonst aber nicht nachweisliche Maler
Mathis Nithart hinter dem Namen Grünewald verberge.
Darum die Initialen M. G. und N. auf dem Schnee-
Altar in Aschaffenburg, darum die durch den Unterschied
des Alters besonders merkwürdige Identität
des jungen Malers mit dem Isenheimer
von Pfeilen durchbohrten Sebastian.
Und in der Tat geht die Figur des Mathis Nithart
in den Dokumenten der Zeit in einem Maß
in die Grünewalds über, daß man meint,
der eine habe wirklich das Leben
und zuletzt gar den Tod
des anderen ausgemacht.
Eine Röntgenaufnahme der Sebastianstafel
bringt hinter dem elegischen Porträt
des Heiligen nochmals dasselbe Gesicht
zum Vorschein, das Halbprofil
in der endgültigen Übermalung nur
um ein winziges weiter gewendet.
Hier haben zwei Maler in einem Körper,
indessen verletztes Fleisch ihnen beiden gehörte,
ihre Natur ausstudiert. Zuerst hat Nithart
aus dem Spiegel sein eigenes Bildnis
gefertigt, und Grünewald hat es dann
mit großer Liebe, Genauigkeit und Geduld
und einem bis in die blauen Bartschatten
hineingehenden Interesse an der Haut
und am Haar seines Genossen übermalt.
Das dargestellte Martyrium ist die
noch an den Wundrändern spürbare
Repräsentation einer Männerfreundschaft,
schwankend zwischen Entsetzen und Treue.
Nicht auszuschließen, daß Nithart,
der auch Wasserkunstmacher gewesen ist,
in späteren Jahren der Verwechslung seiner Person
mit dem zunehmend leutscheuen Isenheimer
Meister Vorschub geleistet hat, daß er
vielleicht das Zwischenglied war
zwischen ihm und der ihm durch sein Unglück
unzugänglich gewordenen Welt. Um 1527,
etwa zwölf Jahre nach der Arbeit im Elsaß,
ist Nithart von Frankfurt, wo er das Leben
Grünewalds noch eine Zeitlang geteilt
haben muß, nach Halle gegangen,
um für die berühmten Salzquellen
der Stadt eine Wasserkunst anzulegen,
ein hochkompliziertes Mühlen- und
Röhrensystem so wie das am Main
zu Aschaffenburg, das ein herrliches
Räderwerk war und Schaustück.
Es heißt aber, daß Nithart in Halle
nimmer viel ausgerichtet und oft
die Wohnung gewechselt habe. Im Sommer
des achtundzwanziger Jahrs ist er in eine tiefe
Depression versunken, und dann scheint der Tod
schnell an ihn herangetreten zu sein.
Der Frankfurter Magistrat verordnet
nach Eintreffen der Nachricht vom Ableben
Nitharts die Registrierung des Hausrats
in seinem Atelier. Die lange Liste umfaßt
eine Ansammlung verschiedenster Dinge
Der Nachlaß ist in Wahrheit der zweier Männer,
ob aber Grünewald, der Erfinder der Farben,
die Vorliebe des abgewichenen Freundes
für einen bunten Aufzug geteilt hat,
wissen wir nicht zu sagen.

Mathis Gothart-Nithart oder Mathis Nithart-Gothart soll um 1475/1480 in Würzburg geboren und am 31. August 1528 in Halle an der Saale gestorben sein. Wo und bei wem er die Malerei erlernte, wissen wir nicht. Manche Frühwerke deuten auf eine Anwesenheit in Nürnberg um 1500 hin, ist aber urkundlich nicht nachweisbar. In Mainzer Vikariatsakten ist 1505 erstmals "meister Mathis" mit einem "famulus" in Aschaffenburg bezeugt. Seitdem soll er dort gewohnt und vermutlich als Hofbeamter dem Mainzer Erzbischof Jakob von Liebenstein und dessen Nachfolger Uriel von Gemmingen gedient haben, ab 1509 mit technischen Aufgaben (Wasserkunstmacher) betraut.
Prozessakten und Testament, die wichtigsten Grünewalddokumente, sind im Zweiten Weltkrieg im Stadtarchiv Frankfurt verbrannt. Den Isenheimer Altar soll er zwischen 1512 und spätestens 1516 geschaffen haben.

Mit liecht in grau und schwarz
habe Matthaeus die äußeren Flügel
des von Dürer gefertigten Altars
von der Himmelfahrt Mariae
in dem Prediger Closter zu Frankfurt gemahlt
und also ungefehr 1505 gelebet.
Außer einem Johannes mit zusammengeschlagenen Händen,
dessen er, Sandrart, als er seiner Zeit in Rom
des Papsts Contrafät machte, ansichtig wurde,
sei dies mit Gewißheit alles, was nicht verschollen
von der Arbeit des Aschaffenburger Malers,
von dem ihm sonst nur bewußt, daß er sich meistens
in Maynz aufgehalten, ein eingezogen
melancholisches Leben geführt und
übel verheurathet gewesen.

Etwa 1516 tritt Mathis als Hofmaler in den Dienst des Erzbischofs von Mainz. Als Oberster Kunstbeamter in der Residenzstadt Halle an der Saale ist er für die Überwachung von Bauvorhaben zuständig. Als Wasserkunstmacher soll er die Wasserleitung von Haibach zur Stiftskirche in Aschaffenburg planen und den Bau überwachen.



Wasserkunstmacher Grünewald - spezialisierter Handwerker

Eremit Paulus sitzt neben seiner Quelle:
Ein abgebrochenes, roh der Länge nach gespaltenes Aststück mit ausgefaultem Kernholz dient als Rinne, sie lenkt das Wasser in ein kleines, laienhaft konstruiertes Auffangbecken, das aus einigen an- und ineinander geschobenen Sandsteinplatten besteht. Dazwischen staut und beruhigt sich das Wasser, um es bequem schöpfen zu können und dann gurgelnd durch eine ausgebrochene Ecke der vordersten Platte abzufließen.
Das Detail vom Isenheimer Altar ist der augenzwinkernde Kommentar des eingeweihten Spezialisten auf die im Dunkeln liegenden Anfänge des Wasserbauwesens.

Zu Antonius und Paulus siehe

Ähnliche praktische Alltagserfahrungen eines Wasserbaumeisters prägen zudem die Gestaltung der seit langem trocken gefallenen Zisterne auf Grünewalds Stuppacher Madonna: Dort ist genau dargestellt, wie das Austrocknen - offenbar zusammen mit ins Mauerwerk eingedrungenen Pflanzenwurzeln - zum unterschiedlichen Absinken der sorgfältig behauenen Randsteine führt.
Zu allen Schaffensphasen des Meisters finden sich in authentischen Grünewald-Dokumenten Belege für seine Tätigkeit als - modern gesprochen - Wasserbauingenieur. Der Totenschein 1528 bezeichnet ihn als "maler adder wasserkunstmacher".
Unter Wasserkunst versteht man damals - und noch lange danach - alles Wissen und alle manuellen Fertigkeiten, die notwendig sind, um Wasser zu heben, zu leiten oder es sich in anderer Art dienstbar zu machen. Des Weiteren tragen einzelne technische Anlagen und Geräte, deren Herstellung dieses spezifische Können erfordert (etwa alle Arten von Pump-, Saug- und Hebewerken, aufwendige Rohrleitungen und Brunnen) die Bezeichnung "Wasserkünste", ebenso wie alle durch Wasserkraft, das heißt über Mühlwerke, angetriebenen "Maschinen". Wichtiges Einsatzgebiet solcher Pumpen ist der Bergbau, wo sie zur "Sumpfung", d. h. Entwässerung der Stollensohle dienen.

Der spätmittelalterliche Wasserkunstmacher ist kein eigenen Berufsstand, sondern in der Regel ein technisch besonders begabter Zimmermann, der sich - ähnlich wie der Schiffsbauer - über die üblichen Aufgabengebiete des Handwerks hinaus spezialisiert hat. Ob Grünewald sein Können im Verlauf einer regelrechten Lehre erwirbt oder ob es ihm nach und nach aus seinem familiären Umfeld zuwächst, ist ungeklärt. Zeituntypisch wäre ein solcher Prolog der eigentlichen Ausbildung zum Maler jedenfalls nicht. Dieses Wissen nutzt er wiederholt für das malerische Schaffen, etwa zur Steigerung des dramatischen Ausdrucks seiner Kreuzigungsbilder: Es erscheint als ein Widerspruch - aber es ist die betont rohe Machart, in der seine Kreuze aus billigsten Hölzern eilig zusammen gezimmert sind, was seine Achtung vor dem Zimmererhandwerk, seinen Regeln und Idealen, am klarsten offenbart. Kein anderen Maler hat die Handwerksgerechtigkeit und daneben zugleich die ökonomischen Seiten der Herstellung dieser Marterwerkzeuge (geringer Arbeitsaufwand, niedrige Kosten, leichter Transport) gleichermaßen konsequent durchdacht und im Blick gehabt.

Im obigen Bild besteht der Querbalken nicht mehr aus einem Stück, sondern aus zwei separaten, relativ kurzen Holmen. Dafür ist besonders billiges Holz verwendet, das untere Ende dieser Prügel ist mit dem Beil zu einem unregelmäßigen, leicht konisch auslaufenden Vierkant zurechtgehauen. Die Konstruktion des Kreuzes erreicht unter dem Gewicht des daran hängenden Körpers volle Stabilität - konsequent verzichtet der Maler auf die Fußstütze für den Gekreuzigten. Dürfen wir über das Makabre dieses nüchtern, mit lapidarer Sachlichkeit geschilderten Details urteilen?
Auch andere bedeutende Maler haben sich neben der eigentlichen künstlerischen Berufung intensiv mit praktischen Fragen des Wasserbaus und des Ingenieurwesens auseinandergesetzt. Da ist Leonardo Da Vinci, oder Francesco di Giorgio Martini oder da sind die Zeichner des "Mittelalterlichen Hausbuchs", und weiter der Münchener Bildschnitzer Erasmus Grasser, dem seine Fähigkeiten als Wasserkunstmacher zu einer langen Karriere am Hof der Herzöge von Bayern verhelfen.
1510 beschließt das Mainzer Domkapitel, die am Brunnenzug der oberhalb Bingens gelegenen Burg Klopp notwendig gewordenen Arbeiten an »meister Mathys meiern« zu vergeben. 1517 wird Grünewald zur offiziellen Besichtigung des umgebauten Aschaffenburger Marktbrunnens herangezogen. 1523 könnte ihn sein Ruf als Wasserkunstmacher noch einmal ins Eisass geführt haben, nach Zabern, in einen Steinbruch.



Im Frühjahr 1525 ritt Grünewald
durch Aprillicht und Schauer
nach Windsheim, wo er
in der Werkstatt Jakob Secklers
ein kleines Gesprenge aus Weinlaub
und verschiedenen Vögeln
in Arbeit gegeben hatte.
Während Seckler die letzte Hand
an die Sache legte, geriet Grünewald
ins Gespräch mit Barthel und Sebald Beham,
Kupferstecher und Zeichner aus Nürnberg,
die, am 12. Jänner als gottlose Maler
verhaftet und wegen Ketzerei
aus ihrer Heimatstadt ausgewiesen,
vorläufig bei dem Windsheimer Meister logierten.
Die Brüder erzählten auf Spazierwegen
hinaus in die noch fehlfarbenen
Felder und bis tief in die Nacht
von dem in Nürnberg gewesenen Thomas Münzer
der jetzt durch Schwaben nach dem Elsaß,
in die Schweiz und den Schwarzwald gegangen sei,
die Erhebung ausrichten. Denn die sechste
Posaune sei im Schwange, und es müsse
der arme Buchstabe ausgelassen werden
aus dem Maul. Klirrend komme
ein großes Pfingstfest,
die Füllung der Wasser
rücke vor, sprudelnd
vereinigten sich die Planeten
im Haus der Fische, der rote
Stern trete in Konjunktion
mit dem Saturn, dem Zeichen
der Bauern, und ein phantastisches
Feuer leuchte dann auf, wenn
in dieser nächst vermuteten Zukunft
ein notiger Hudler erkennbar werde
als der Messias Septentrionalis.
Grünewald sagte, einmal, zur Zeit
seiner Kindheit, er sei sechs oder
sieben gewesen, habe der Pauker
von Niklashausen mit Versprechung
irdischen Glücks für die Ärmsten
das Volk aufgerührt. Fünfzigtausend
seien ihm täglich zugezogen, sein Bethaus
habe sich angefüllt mit riesigen Schätzen,
und das sei eine Zeit so gegangen,
und dann habe man ihn zum Schauspiel
des Pöffel in Würzburg geröstet.
Ich seh schon, fuhr er fort,
unter dem Regenbogen, den ihr überm Land
aufgehen seht, die Reiter
hervorrücken aus ihrem Lager.
Bruder, sprach er, wie sie entlang
der Windsheimer Wälder gingen,
ich weiß, der alte Rock reißt,
und fürchte mich
vor der Neige der Zeit.
Mitte des Mai, Grünewald
war mit seinem Gesprenge
in Frankfurt zurück, war
das Korn weiß zur Ernte,
zog die geschärfte Sichel
durch das Leben eines Heers von fünftausend
in der sonderbaren Schlacht von Frankenhausen ,
in der kaum ein Reisiger fiel,
die Leiber der Bauern aber
zur Hekatombe sich türmten,
weil sie, als wären sie wahnsinnig,
sich weder zur Wehr setzten
noch anschickten zur Flucht.
Als Grünewald am 18. Mai
diese Nachricht erreichte,
ging er nicht mehr außer Haus.
Er hörte aber das Augenausstechen,
das lang noch vorging
zwischen dem Bodensee
und dem Thüringer Wald.
Wochenweis trug er damals
eine dunkle Binde
vordem Gesicht.

Um 1526 scheidet Mathis aus dem Hofdienst, lässt sich in Frankfurt am Main nieder, aus Sympathien zu den rebellierenden Kräften des Bauernkrieges? Er verdient seinen Lebensunterhalt als Seifenmacher, wohnt im Haus Zum Einhorn beim Seidensticker Hans von Saarbrücken. 1527 siedelt er wieder nach Halle über, und verstirbt vor dem 1. September 1528.

Die Alternativ-Biografie Grünewalds

Der Historiker Hans Jürgen Rieckenberg und der Fotograf Wolf Lücking haben in den 1970ern eine dokumentarisch gesicherte Biografie des Künstlers versucht:
Matthias Grünewald, um 1480 in einem Dorf (wahrscheinlich mit dem Buchstaben N beginnend) nahe Aschaffenburg geboren, taucht 1500 als Geselle des Malers Hans Fyoll in Frankfurt a. M. auf, ist aber auch wahrscheinlich Schüler Dürers. 1503 malt Grünewald den


Lindenhardter Altar

1504 oder 1505 entsteht die


Münchner Verspottung.

1505 ist Grünewald im Dienst des Mainzer Erzbischofs. Aus dieser Zeit stammen die


Basler Kreuzigung

und die



Standflügel des Helleraltars

für die Dominikanerkirche in Frankfurt. Arbeiten im Auftrag des Domkapitels: der missglückte Kaminbau im Aschaffenburger Schloss (1510/1511) sowie Bau eines Brunnens auf der Burg zu Bingen (1510). Grünewalds Tätigkeit als Hofmaler endet etwa 1512 mit dem Auftrag für den Hochaltar in Isenheim.
1512 geht er nach Frankfurt und heiratet eine 18-jährige Jüdin, leistet den Bürgereid und kauft das Haus zum Löwenstein in der Kannengießergasse am Dom. Im Jahre 1516 ist der Isenheimer Altar Altar vollendet, Grünewald bewirbt sich vergeblich um das städtische Holzmesser-Amt in Frankfurt, weil der Erzbischof Albrecht von Brandenburg nicht ihn, sondern Mathis Gothart als Hofmaler bestellt hat.
1519 vollendet Grünewald den Mariaschneealtar in Aschaffenburg. Grünewald kommt in wirtschaftliche Schwierigkeiten, wird mehrfach verklagt, die finanzielle Lage spitzt sich zu, als seine Frau 1523 dem Wahnsinn verfällt. Er verkauft 1527 sein Haus und verlässt mit seinem kleinen Kind die Stadt, taucht 1529 auf Burg Reichenberg im Odenwald wieder auf und stirbt zwischen 1531 und 1532.




Tauberbischofsheimer Altar






Mit dem Maler zu Pferd,
manchmal auch auf dem Karren
zuoberst sitzt ein neunjähriges Kind,
das eigene, wie er mit Verwundrung
bedenkt, in der Ehe mit Anna gezeugte.
Es ist ein sehr schöner Weg, dieser letzte,
im September des Jahrs 1527, dem Wasser entlang
durch die Täler. Die Luft bewegt das Licht
zwischen den Blättern der Bäume, und von den Anhöhn
sehen sie auf das ringsum ausgebreitete Land.
Bei der Rast an den Steinen lehnend,
spürt Grünewald in sich sein Unglück
und das des Wasserkünstlers in Halle.
Wie die Stare treibt der Wind uns
zum Flug zur Zeit der Einkehr
der Schatten. Was bleibt, bis zuletzt,
ist die aufgetragene Arbeit. Im Dienst der Familie
Erbach in Erbach im Odenwald wendet der Maler
die noch übrigen Jahre an ein Altarwerk,
Kreuzigung abermals und Beweinung,
die Entstellung des Lebens geht langsam
vonstatten, und stets zwischen dem Blick
des Auges und dem Anhub des Pinsels
legt Grünewald jetzt eine weite
Reise zurück, unterbricht auch viel öfter,
als er sonst gewohnt, den Fortgang der Kunst,
um sein Kind in die Lehre zu nehmen
in der Werkstatt und draußen im grünen Gelände.
Was er selbst dabei lernte, ist nirgends berichtet,
nur daß das Kind im Alter von vierzehn Jahren
aus unbekannter Ursach auf einmal
gestorben ist und daß der Maler es
nicht um viel überlebte. Späh scharf voran,
dort siehst du im Grauen des Abends
die fernen Windmühlen sich drehn.
Der Wald weicht zurück, wahrlich,
in solcher Weite, daß man nicht kennt,
wo er einmal gelegen, und das Eishaus
geht auf, und der Reif zeichnet ins Feld
ein farbloses Bild der Erde.
So wird, wenn der Sehnerv
zerreißt, im stillen Luftraum
es weiß wie der Schnee
auf den Alpen.



















Da, wo von Straßburg die große Heerstraße
zur burgundischen Pforte, dem Zug
der Vogesen nach Süden folgend,
den aus dem Gebweiler Quertal
tretenden Lauterbach kreuzt,
liegt das Dorf Isenheim.
Hier erwarben die regulierten
Chorherrn, deren legendäre Ordensgeschichte sich
auf den Anachoreten Antonius den Eremiten zurückschreibt,
der im Jahr 357 der thebaischen
Wüste sein Leben verließ,
von den Murbacher Kluniazensern
um 1300 Grund und Boden,
um ein Antoniterspital zu begründen
zur Remedur des im gesamten
Abendland grassierenden Antoniusfeuers,
einer Infektion des Blutes, die
zu einem Abfaulen der Glieder führte
und neben der Lepra zu den fürchtigsten
Krankheiten des Mittelalters gehörte.
















Es gibt einen Asteroiden mit der großen Halbachse 2,7542 AE,
der Exzentrizität 0,1041, der Neigung der Bahnebene von ä,ä406°,
der Länge des aufsteigenden Knotens von 296,0696°
und der mittleren Orbitalgeschwindigkeit von 17,94 km/s.


Antonius und Paulus

Die Einzelheiten betreffs Asteroid Grünewald sind - für den Laien - genau so unklar wie das Leben seines Namensgebers.
Wenn wir uns den zwei menschlichen Wesen und der faszinierenden Natur, in der sie sitzen, und die Grünewald schuf, zuwenden, wird es einfacher.
Wir schauen in einen Wiesengrund, durch zentral aufgehende Bäume führt uns der Maler zu den weißen Gipfeln entfernter Berge.



Links sitzt Antonius, er hat den Einsiedler in der Wüste aufgesucht, um mit ihm spirituelle Gespräche zu führen.
Antonius trägt die zeitgenössische Kleidung eines Antoniterabts mit weitem Mantel, der seinen Körper fast vollständig umhüllt. In zurückhaltendem Redegestus hat er die rechte Hand erhoben, mit seiner Linken umfasst er den Antoniter-Krückstock. Eine rote Kappe umrahmt sein Gesicht mit dem prüfenden, aber auch ehrfürchtigen Blick auf Paulus; sein gepflegter weißer Bart breitet sich über dem Mantel aus und endet in zwei Spitzen. Grünewald porträtiert Guido Guersi, dessen


Wappen unten links den Felsen ziert.



Antonius (um 251 bis 356) - Vater des Mönchstums - lebt als Einsiedler im Wüstengebirge zwischen Nil und Rotem Meer und ist der Ordenspatron der Antoniter.
Rechts sitzt Paulus von Theben, der bis ins hohe Alter (113!) in der Wüste lebt und die Züge Grünewalds trägt.
Er hat eine vom Wetter gegerbte Haut, zerzaustes Haar, einen struppigen Bart und lange Fingernägel. Antonius (als der jüngere von beiden) und Paulus streiten mit lebhaften Gesten darüber, wem die Ehre zusteht, das Brot – wie beim Abendmahl mit Jesus – zu brechen.
Über Paulus geht durch die Palme, über Antonius durch Feld und Baum eine höhere Vertikale aufwärts.
Nach langer Irrfahrt findet Antonius an einem heiteren Morgen, geführt durch eine Hindin, Paulus in seinem Versteck; nach vielen Bitten kommt dieser aus seiner Höhle, von der aus der Maler in die Szene schaut. Der Einsiedler ist von der Welt längst vergessen. Erst ein Traum offenbart dem 90-jährigen Antonius, dass in der Wildnis ein noch älterer heiliger Anachoret sich verbirgt. Eine Dattelpalme gibt ihm Nahrung und Kleidung, als Zusatz sendet Gott ihm täglich durch den Raben ein Brot. Trank findet er in dem Quell, der in ganz roher Fassung gesammelt und durch ein ausgehöhltes Holz in ein tieferes Becken fällt, dann nach rechts abfließt. Eine Umfriedung aus Stämmen, hinter Antonius sichtbar, ist zwischen den Einsiedlern ausgehängt, die Stange fällt links neben Paulus ins Wasser.

Diese geringen Spuren menschlicher Kultur verschwinden im Bild, sie sind uralt, vermodert und von Moos überzogen. In dieser von der Welt abgeschlossen Schlucht umgibt den Einsamen ursprüngliche Natur, Bedürfnislosigkeit und Tiere des Waldes sind seine Gesellschaft, ein Hirsch zieht äsend ein durch den Zugang der Mitte; es ist sein gewohnter Wechsel und ihn stört es nicht, dass, von Gott hergeführt, ein Zweiter heute die Einsamkeit teilt. Denn sie sind eins geworden im Gespräch über letzte Dinge. So wie die Felsenkulissen oben in betonter Zuneigung sich verbinden, versinnbildlichen sie die im Geist und Anschauung des Ewigen vereinten Freunde.
Da sieht Paulus den schwarzen Boten herab fliegen, der heute statt des einen zwei Brote in die Zwiesprache der Heiligen bringt.
Mit einer, durch die Berechnung unsagbar fein betonten Armbewegung, die die Ablenkung entschuldigen will, wird Paulus jetzt dem Gast das sich vollziehende Wunder erklären.

Paulus sitzt auf einem aus alten Balken zusammengefügten Stuhl, Antonius auf einem aus Ästen und geflochtenen Sitz.





Hieronymus hat uns in Vita Pauli von 377 die Szene überliefert, die Jacobus de Voragine um 1228 bis 1298) in seiner Legenda aurea ausschmückt.
In wie unerhörte Grüße hat hier der Vollender gotischer Seelenkunst einer Grundstimmung, dem mystischen Einswerden der Seelen im Höchsten, durch den Bildorganismus Ausdruck gegeben! Alle Formen von Mensch, Tier und Natur, ihre Sonderbewegung und Beziehungen zueinander, der Hochdrang des Vertikalismus wie Pfeiler im gotischen Dom, sind nur dienende Glieder zu Erschaffung der Fantasielandschaft der große Stille, in der leise Worte, rinnende Wasser und das Pochen der Herztöne dem Flügelschlag des Wunders eine Märchenstätte bereiten.

Wie die Palme fremd in dieser deutschen Wildromantik steht, ist es auch der Gast Antonius und statt die Wüste von Theben sehen wir das Elsass.
Und im Vordergrund die naturgetreu gemalten Pflanzen:

Spitzwegerich



siehe auch
Eisenkraut
Breitwegerich
Knolliger Hahnenfuß
Queckengras
Braunwurz
Dinkel
Wundklee
Taubnessel
Klatschmohn
Kreuzenzian
Ehrenpreis
Schwalbenwurz
Cypergras

Die Legende meldet, dass Paulus noch an diesem Frühlingstage stirbt und Besucher Antonius ihn begräbt ...

Im Mittelalter leiden viele Menschen am Antoniusfeuer. Diese Krankheit, auch das heilige Feuer genannt, verursacht vom Mutterkorn, einemn Getreidepilz, ist eine regelrechte Plage. Nach Verzehr von Mehl, das Mutterkorn enthält, kommt es zur Verengung der Blutgefäße, die zu Brand oder Nekrose führen kann.
Antoniter-Mönche nehmen die Kranken auf, pflegen sie mit nahrhaftem Brot und dem „Saint-Vinage”, einem Heiltrank auf der Basis von Wein und Kräutern, in den sie die Reliquien des hl. Antonius tauchen. Die Mönche brauen und verabreichen auch einen entzündungshemmender Kräuterbalsam.

Der Antoniter-Orden ist ein christlicher Hospitalorden, 1095 als Laienbruderschaft in St.-Didier-la-Mothe/Südostfrankreich gegründet, benannt nach Antonius dem Großen (um 251 bis 356), dem ersten christlichen Mönch. Aufgabe: Pflege und Behandlung am Antoniusfeuer Erkrankter, einer im Mittelalter in Europa weit verbreiteten Krankheit.
Im 15. Jahrhundert unterhalten die Antoniter annähernd 370 Spitäler in ganz Europa.
1597, mit Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Mutterkornpilz und Antoniusfeuer, sinkt die Zahl der Erkrankungen merklich und geht die Bedeutung des Ordens stark zurück. 1777 inkorporiert der Papst ihre letzten Klöster in den Malteserorden.
1852 siedelt der Isenheimer Altar in die Kirche Unterlinden um und wird zum berühmtesten Werk des Museums.
Seine größte Nachwirkung entfaltet der Altar in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1917 bringen die Deutschen den Altar aus „Sicherheitsgründen“ nach München, und zeigen ihn bis zum 27. September 1919 in der Alten Pinakothek mit überwältigendern Erfolg; der Altar wird zum Sinnbild der deutschen Kriegserfahrung.
Thomas Mann notiert: "Starker Eindruck. Die Farben-Festivität der Madonnenscene geht mir in süßem Geschiller fast etwas zu weit. Das groteske Elend der Kreuzigung wirkt als mächtiger Kontrast. Flaubert-Reminiszenz vor der Antonius-Szene. Im Ganzen gehören die Bilder zum Stärksten, was mir je vor Augen gekommen."
Der Transport zurück nach Colmar wird visueller Ausdruck der Verluste durch den Versailler Vertrag.





Nachtrag:

Pfarrer in Lindenhardt ist Italo Bacigalupo von 1972 bis 1981 , Mitherausgeber des Kirchenführers, der Grünewalds Altar in der Lindenhardter Kirche würdigt.
Mit seiner 2011 erschienenen Dissertation will der Theologe nunmehr beweisen, dass der Altar tatsächlich von Hans Suess von Kulmbach stammt.

Beweise, in 30-jähriger kriminalistischer Manier von Bacigalupo zusammengetragen:

  1. Ein Stifter und sein Maler
    In Bayreuth stiftet der reiche Tuchmacher Fritz Rot aus Hof zwei Altäre für die Stadtpfarrkirche, der Kirche seiner Vorfahren. Einen bestellt er in Hof, den anderen, einen Vierzehn-Nothelfer-Altar, in Nürnberg. Dort hat er Verwandte - er ist Pate von Johannes Dürer, dem früh verstorbenen älteren Bruder Albrechts, der sich gerade mit seiner Kunstwerkstatt selbstständig gemacht hat. Natürlich bestellt der Stifter bei seinem Verwandten - und der beauftragt mit der Arbeit einen seiner fähigen Gesellen, Hans Suess von Kulmbach, freilich nicht ohne, wie gewohnt, detaillierte Vorgaben zu machen. Das Vierzehn-Nothelfer-Bild auf der Rückseite des Altars ist 1503 fertig und zeigt die Handschrift der Dürer-Werkstatt, vor allem die des Gesellen: die Konzeption des Bildes, das Astwerk, die Hüte, der Georgsdrache und der »kleine Dämon« über dem Geschehen. Der Schattenwurf des Gemäldes ist exakt auf die Bayreuther Raumverhältnisse angepasst. 1572, nach dem Tod des letzten Eigentümers, verschwindet der Altar, weil nicht mehr benötigt, aus der nunmehr evangelisch gewordenen Kirche. Er sei der schönste von allen gewesen, erinnerte man sich später.
  2. Ein verschenkter Altar
    Im Jahr 1574 findet in Bindlach, heute ein Vorort von Bayreuth, der Vierzehn-Nothelfer-Altar eine neue Bleibe auf einer alten Veits-Altarstelle. Es ist jener, der kurz zuvor in Bayreuth für überflüssig erklärt worden war. Spuren der in Bindlach verzeichneten Anbringung finden sich noch im 19. Jahrhundert in Lindenhardt: Denn dorthin verschenken die Bindlacher den Altar ca. 100 Jahre später. Es war hier am 4. April 1684 »der ganze Marktflecken bis auf fünf Häuslein samt Kirche, Pfarrhaus, Caplan- und Schulhaus abgebrannt«, klagte später ein Chronist.
    Vermutlich auf Vermittlung des neuen Lindenhardter Diaconus, der zuvor in Bindlach war, liefern die Bindlacher eine alte Orgel, einen Kanzeldeckel und ihren nicht mehr benötigten Altar.
  3. Ein glücklicher Wandersmann
    Am 10. Oktober 1915 betritt der Bayreuther Heimatforscher Karl Sitzmann die Kirche in Lindenhardt. Er notiert: »Auf den Flügeln außen Temperamalereien in der Art Grünewalds.«
    Elf Jahre später ist ihm die Empfindung zur Gewissheit geworden, wie eine Mauertafel hinter dem Altar erklärt: »Im Jahr 1926 wurde der Altar unter Pfarrer Peter durch Karl Sitzmann als ein Werk Grünewalds erkannt.«
    Die widrigen Umstände der deutschen Außenpolitik helfen Sitzmann, sich für den Maler Grünewald zu entscheiden, wie dieser 1927 mitteilt: »Gerade in unserer Zeit, in der ein von feindlicher Übermacht diktierter hasserfüllter Vertrag das deutschsprachige Elsaß und mit ihm den Isenheimer Altar vom Mutterlande fortriß, muß der neuentdeckte Altar von Lindenhardt einen kleinen Ausgleich bilden.«
    Die Universität Erlangen verleiht Sitzmann im gleichen Jahr den Ehrendoktortitel - und zwar unter ausdrücklichen Hinweis auf die Grünewald-Entdeckung.
  4. Eine gelungene Sanierung
    Der Name »Grünewald« elektrisiert die Welt. Die Entdeckung Sitzmanns beschert der Dorfgemeinde Lindenhardt ungeahnte Aufmerksamkeit. Sogar der bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel besucht das Gotteshaus, dessen feuchtes Raumklima dem kostbaren Altar zusetzt.
    Ein Sachverständigen-Symposion bestätigt 1977 die Echtheit der Grünewald-Thesen. Es geht jetzt nicht mehr um die Klärung, wer die Lindenhardter Altartafeln gemalt hat, sondern um die Verteidigung des berühmten Namens. Schwächen in Farbgebung und Ornamentik werden mit einer persönlichen Lebenskrise des jungen Malers erklärt, über dessen Leben man aber, notabene, ja für diese Zeit rein gar nichts weiß. Damit ist die Finanzierung für die Sanierung von Kirche und Altar gesichert. Ortspfarrer ist in dieser Zeit Italo Bacigalupo.
    Im Zuge der Sanierung stellt sich einigermaßen sicher heraus, dass die Altarfiguren aus Nürnberg stammen. Um Grünewald als Urheber der Tafeln zu retten, vermuten die Experten nun dessen Aufenthalt in Nürnberg in der fraglichen Zeit, wofür es ansonsten keine Beweise gibt.
    Der Grünewald-Altar von Lindenhardt wird zum festen Inventar der oberfränkischen Kunstlandschaft. »Die Zuschreibung der Gemälde an Matthias Grünewald konnte bestätigt werden«, erklärt der Lindenhardter Kirchenführer (siehe Nachbemerkung).
  5. Die Stilkritik
    In Dürers Werkstatt, für die alles in der Geschichte des Altars spricht, ist Grünewald nicht nachweisbar. In einer anderen Nürnberger Werkstatt - etwa bei Michael Wolgemut - hätte er keinen Zugriff auf das Insiderwissen der Dürer-Leute gehabt, das die Lindenhardter Bilder prägt. »Es ist unzumutbar, Grünewald, der ein so außergewöhnlicher Künstler war, eine solche Kinderstube in einem altväterlichen Malerbetrieb zu unterstellen«, glaubt Bacigalupo.
    Untypische Schraffuren und Konturenstriche, die untypischen Bilderleisten, überhaupt: Die malerischen Schwächen der Bilder dürfe man dem großen Grünewald nicht unterjubeln.


Sonntagsblatt Bayern:





Nachbemerkung:

Gemeinde Lindenhardt reagiert tief getroffen auf Bacigalupos Thesen. Man beklagt die "Nestbeschmutzung" der Gemeinde durch ihren einstigen Pfarrer. Aber Bacigalupo sei sowieso ein schlechter Seelsorger gewesen, habe sein Buch nur aus Profilierungssucht geschrieben. Der derart Gescholtene räumt alte Konflikte ein, betont aber sein wissenschaftliches Interesse.
Im November 2013 teilt Bacigalupo mit:
Den Kirchenführer von 1985 habe nicht er verfasst, sondern Karl Ludwig. Von einem falschen Grünewald ist da nicht die Rede. Warum er jetzt seine ehemalige Pfarrei um ihren berühmten Alter bringen will? Es gehe ihm um die Wahrheit, sagt Bacigalupo. Dafür würde er seiner ehemaligen Pfarrei sogar einen neuen Kirchenführer schreiben. Kostenlos.
Das ist christliche Nächstenliebe.



Der Verfasserin ging offensichtlich die vernichtende Kritik ("unvermeidlich, wenn Kritiker und Akademiker anfangen zu versuchen, einen Schriftsteller zu verstehen, dessen Werk so dicht und vielschichtig ist wie das W. G. Sebalds, wo so viel kurzlebig, reduktionistisch und nicht sehr gut begründet ist") Richard Sheppards an Sebalds Werk (er war ein Freund) zu nahe , wenn sie schreibt, das müsse von einem Literaturwissenschaftler erst einmal verdaut werden.
Und sie fasst zusammen:
Sebald gibt dem Leser wie Wissenschaftler das Gefühl der Uferlosigkeit der Interpretationsmöglichkeiten. Vermutlich wolle er genau das dem Leser vermitteln: Wurzel- und Haltlosigkeit ...