Literatur

W. G. Sebald, einer der außergewöhnlichsten und einflussreichsten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts.
Mit seinen Büchern verfolgt er eine originelle literarische Vision, die Fiktion, Geschichte, Autobiografie und Fotografie miteinander verbindet und einige der tiefgreifendsten Themen der zeitgenössischen Literatur behandelte: die Last des Holocaust, Erinnerung, Verlust und Exil.

Speak, Silence ist nach Verlagsankündigung die erste Biografie, die sich mit seinem Leben und Werk befasst und den wahren Sebald in den Erinnerungen derer, die ihn kannten, und im Werk, das er hinterlassen hat, aufspürt. Diese Suche führt Carole Angier von Sebalds Geburt als Deutscher der zweiten Generation am Ende des Zweiten Weltkriegs über seine Ablehnung des vergifteten Erbes des Dritten Reichs bis hin zu seiner Emigration nach England und erforscht die Entscheidung für Isolation und Exil, die sein Werk antreibt. Sie gräbt sich tief in einen kreativen Geist am Rande des Abgrunds und findet tiefes Einfühlungsvermögen und paradoxe Rücksichtslosigkeit, rettenden Humor und eine schwer fassbare Mischung aus Fakten und Fiktion in seinem Leben wie in seinem Werk. Das Ergebnis ist ein einzigartiges, wildes und originelles Porträt.

Carole Angier, geboren 1943 in London, aufgewachsen in Kanada, ist eine englische Biografin und lebt in Oxfordshire. In der Einleitung schreibt sie:
W. G. Sebald wrote all his books in German. But as I write in English, and most of my readers will have read Sebald in English, I concentrate on the English versions. I hope this is excusable. He lived and taught in English for nearly forty years, and worked so intensively on his English translations that he effectively created the final versions himself.
Though he hated modern technology, he used the technology of his day: photographs, photocopies, reproductions of art. There are two media as important to him as photography and art, which can’t be printed on a page: music and film.
Und weiter (man dankt!): Carole Angier recommends two key Sebald sites as resources. The German site, www.wgsebald.de, is a rich compendium of information on the writer and his books.
Habe aber meine Zweifel an der sehr zweischneidigen und oft in sich widersprüchlichen Darstellung Angiers, die mehr eine biografische Fiktion zu sein scheint. Einerseits macht sie Sebald zu einem literarischen Heiligen. Andererseits wirft sie ihm vor, in seinem Eifer den Leugnern des Holocausts geradezu den Boden bereitet zu haben (?).

Uwe Schütte
übt schärfste Kritik an Carole:
"Ihr Buch unternimmt umstandslos die Verwandlung in einen literarischen Heiligen. Und zwar mit einer besitzergreifenden Bemächtigung des biografischen Objekts, wie es die Berufsbiografin zuvor bereits an Jean Rhys (1985) und ... an Primo Levi (2002) vorgeführt hat ...
Wie Angier bedauert, wollten einige, die Sebald sehr gut kannten, nicht mit ihr reden, darunter Freunde, Kollegen und Schüler, vor allem jedoch nicht die Witwe. Gerade deshalb bleibt Vieles, Allzuvieles in ihrer unautorisierten Biografie im Dunkel; Speak, Silence ist anzumerken, wie sehr dies Angier enerviert. Denn sie positioniert sich im Namen der Sebald-Leserschaft als selbst ernannte Chefermittlerin mit Anrecht darauf, alles über das Objekt ihrer Begierde zu erfahren. Das Recht dazu liefert der Umstand, dass Sebald für Angier der schlichtweg Allergrößte ist, nämlich „the most revered twentieth-century German writer in the world: more revered even than Günter Grass, far more than his own heroes Bernhard, Canetti and Handke, though two of them won the Nobel Prize“. Ein großer Schriftsteller mithin, der eine große Biografin braucht. „This is a biography, not a work of literary criticism“, betont Angier dementsprechend.
Zugleich öffnet es eine Hintertür, alle unbequemen Ergebnisse der regen akademischen Beschäftigung mit Sebald zu ignorieren. Genauer gesagt ist ihr Buch freilich auch keine Biografie, sondern eine biografische Fiktion: ein mit poetischer Freiheit zusammengefügtes Wunschportrait eines literarischen Heiligen. Der Sankt Sebald von Speak, Silence trägt dementsprechend alle Kennzeichen einer Heiligenlegende: Lossagung von der Heimat (durch Auswanderung nach England), sühnende Kasteiung (durch seine ihn quälende literarische Arbeit), zölibatäre Entsagung (die Absenz der Erotik in seinen Erzähltexten!) und nicht zuletzt die Fähigkeit zum Wunderwirken (durch seine dem Metaphysischen gegenüber offene Literatur). Nicht unähnlich der Art und Weise, in welcher Sebalds großer Robert-Walser-Essay den Schweizer Autor zu einer literarischen Legende verklärt, stilisiert Angier ihren Sebald zu einem apokryphen Heiligen der Literaturgeschichte, dem naturgemäß Kafka als angemessene Vergleichsfigur beigestellt wird: „‚I am as lonely as Franz Kafka‘, said Kafka. But [Sebald] must have thought that he was even lonelier.“

211 Angier weiß, dass keine Biografie ohne spektakuläre Enthüllung auskommen darf: Shakespeare hat seine Stücke nicht selbst geschrieben, Jane Austen war lesbisch etc. Nun, Angier kann zumindest das offene Geheimnis enthüllen, dass Sebald in seinen beiden letzten Lebensjahren eine Geliebte hatte. Diese wiederum, Marie mit Namen und zuletzt als Dermatologin tätig, gewährte Angier Einblick in ihre rund zweijährige Fernbeziehung und Korrespondenz mit Sebald. Sein vorzeitiger Tod zerstörte alle Pläne, zusammenzuziehen – wie Kafka blieb Sebald die partnerschaftliche Erfüllung versagt. Doch wie sollte im Schatten des Holocaust privates Glück überhaupt möglich sein, für einen Literaturheiligen, dessen sühnende Fronarbeit das Schreiben darüber war?
„His grief over German crimes was what broke him, and what he wrote about.“ ... Wie gefährlich psychologische Ferndiagnosen sind, scheint Angier nicht zu kümmern, denn es geht ihr darum – wie Craig präzise festhielt –, ein Schriftstellerleben als undifferenziertes „neurotic melodrama“ nachzuerzählen, denn „everything in Sebald stretches back into the past; everything connects“. ... Ebenso unbekümmert ist Angier um die Fallstricke der Erinnerung; was immer ihr die älteren Herrschaften über ihre viele Jahrzehnte zurückliegenden Erfahrungen mit Sebald auftischten – sofern es nur Angiers Sebald-Bild zuarbeitet –, wird als Faktum an den Leser weitergegeben. Gerade auch solche Aussagen, die zentrale Deutungsmuster bilden, per Archivrecherche zu validieren oder mit gedruckten Informationsquellen abzugleichen, erscheint ihr nicht nötig. Dass dabei unter anderem namentlich benannte Personen als Nationalsozialisten diffamiert werden, die – wie Recherchen in staatlichen Archiven ergeben würden – das genaue Gegenteil waren, gehört zu den Kollateralschäden, die diese Biografie anrichtet.
Je mehr (vermeintliche) Nazis jedenfalls Angiers Sebald umgeben, desto glorreicher strahlt ihr Held.
Obgleich sich Carole Angier ein Leben lang mit literarischen Schriftstellern beschäftigt hat, besitzt sie eine teils erstaunlich naive Auffassung von deren Beruf. So betonte Angier mehrmals, dass Sebald seine Texte wieder und wieder (um-)geschrieben hat, bis für ihn jedes Wort stimmte und am richtigen Platz war – als würden nicht alle ernsthaften Autoren in dieser Art an ihren Texten arbeiten. Nachgerade bizarr erscheint die Kränkung, die ihr Sebald bei der persönlichen Begegnung zufügte, als sie ihn in Norwich zu The Emigrants interviewte. Befragt zur realen Person, die das Vorbild für die autobiografische Figur des Vermieters Henry Selwyn aus der ersten Erzählung in Die Ausgewanderten bildete, beschied ihr Sebald, dass der literarische Selwyn auf einem realen, jüdischen Ausgewanderten beruht. Doch das war die Unwahrheit – der tatsächliche Vermieter war schlichtweg ein englischer Landarzt und Sohn eines anglikanischen Pfarrers. Dies aber verschwieg Sebald durchaus berechtigterweise gegenüber der Interviewerin; zum einen, um die Privatsphäre der Familie zu schützen, zum anderen, da Schriftsteller bekanntlich nicht gesetzlich verpflichtet sind, der Öffentlichkeit ihre Quellen und literarischen Tricks offenzulegen. Den Klarnamen des Landarztes konnte man übrigens schon in der 2005 abgeschlossenen Dissertation von Jan Ceuppens über Die Ausgewanderten nachlesen.
Angier aber präsentiert ihren sensationellen „Fund“ gleich eingangs der Biografie als so bedeutsame wie höchst problematische Enthüllung: Ihre Verpflichtung zur Wahrheit nötigt sie, Sebald der Täuschung seiner Leserschaft überführen zu müssen, was freilich als „a foothold for Holocaust deniers“ dienen könnte, zumal – man stelle sich vor! – auch die Fotos in der Selwyn-Erzählung nichts mit dem realen Vorbild zu tun hatten. Mit dem Popanz der Gefahr des Vorschubs der Holocaustleugnung durch Sebald verleiht Angier ihrer Spurensuche weitere Brisanz.
Ein letztes Beispiel: Ihre geneigten Leser adressiert die Biografin im Vorwort direkt: „I remind you of the truth. That is the job of the biographer. It’s why writers don’t want biographers, and I know Sebald wouldn’t want me. But I would say to him, You’re wrong.“ Solch übergriffige, von einem besserwisserischen Gestus geprägte Haltung ist bezeichnend für Angiers Biografie, die ihr biografisches Ziel gerade deshalb verfehlt, weil sie einem Wunschphantom hinterherjagt, anstatt sich um ein differenziertes Portrait von W. G. Sebald zu bemühen."

VOLLTEXT 3/2021



In der "Welt" schreibt Delius - ohne Tiefgang (hat sie es gelesene?) - über Angiers Buch:
"Es ist bezeichnend, dass diese Frage danach, was hinter den literarischen Anverwandlungen biografisch steht, nie deutlich gestellt wurde und erst jetzt, zwei Jahrzehnte nach seinem Tod, in der ersten großen Sebald-Biografie „Speak, Silence. In Search of W.G. Sebald“ aufgeworfen wird. Die Autorin Carole Angier, die, wie sie im Vorwort schreibt, ihrerseits Nachfahrin jüdischer Holocaust-Überlebender ist, habe eigenartige blinde Flecken in der enigmatischen europäischen Gestalt W.G. Sebald gefunden, die sie habe sichtbar machen wollen. Von psychischen Verletzungen und Selbstmordgedanken ist die Rede, vor allem von einem beständigen Kampf mit dem Vater, einem „altmodischen, autoritären Mann“, der in der Wehrmacht gewesen war."
Angier lese Sebald psychologisch: „Er zeigte das typische Flüchtlingsverhalten, nicht darüber nachzudenken, sich nicht mit dem auseinanderzusetzen, was seinen Eltern passiert ist."

Die großen englischsprachigen Zeitungen sind sich im Bedauern Angiers einig darüber, dass sie bei ihren Recherchen von wichtigen Zeitzeugen keine Antworten bekam. Und üben wie sie Kritik daran, dass Sebald fremde Biografien "raubte" und in Interviews gelogen habe, als er erklärte, die Personen seien damit einverstanden gewesen.



Sebalds Witwe ...weigerte sich zu kooperieren. Als Vergeltung druckt Angier Utes Namen erst auf der Danksagungsseite in das Buch und führt sie im Index nicht auf. Ute und die Tochter (im Buch unbenannt), die sie 1972 mit Sebald hatte, existieren in dieser Biografie im Wesentlichen nicht, was das Gefühl von Sebalds Isolation übertreibt.
Dieses Buch kann aus anderen Gründen nicht einfach zu schreiben gewesen sein. Sebald war ein serieller Verleumder über fast jeden Aspekt seines Lebens und seiner Arbeit. Ein Beispiel: Als Erwachsener nannte er sich „Max“ und erzählte den Leuten, es sei sein dritter oder sechster Name. Es war nicht. Er hat ihn sich ausgedacht.
Bei Kafka, Wittgenstein und unzähligen anderen hat er rücksichtslos geklaut, so dass manche seiner Bücher fast Collagen sind. Wie Montaigne schien er seine Anleihen nicht zu zählen, sondern abzuwägen. Er setzte Leute, die er kannte, in seine Arbeit ein und machte viele von ihnen wütend, was dazu führte, dass seine Mutter in einem Fall sogar ihre Freunde verlor. Noch problematischer ist, dass Sebald die moralischen Gefahren übersehen hat, die einem deutschen Schriftsteller innewohnen, der sich jüdische Geschichten aneignet.
Für „Austeritz“ zum Beispiel entnahm Sebald zur Figur des Architekturhistorikers Jacques Austerlitz, der später erfährt, dass er Jude ist und im Alter von 4 Jahren mit dem Kindertransport nach London geliefert wird, viele wichtige Details aus den Memoiren Susi Bechhöfers mit dem Titel „Rosas Tochter“. Sie reagierte mit der Veröffentlichung des Essays „Stripped of My Tragic Past by a Best-Selling Author“. Sie wollte, dass Sebald seine Schuld an ihrem Buch anerkennt. Es ist unklar, ob er dies getan hätte, aber er starb, bevor das Problem gelöst werden konnte.
Sebald war ein schrecklicher, leicht ablenkbarer Fahrer. Er kam von der Straße ab, während er eine Geschichte erzählte oder Blumen am Straßenrand betrachtete. Dieses Buch stellt Listen seiner Unfälle zusammen. Der Unfall, der ihn schließlich tötete, meinen einige, konnte ein Selbstmord gewesen sein.
Angiers Buch ist manchmal plump und seltsam strukturiert. Es entgeht mit Sicherheit dem, was der Biograf Michael Holroyd „das Gefängnis der Chronologie“ nannte. Leser, die mit Sebalds Werk noch nicht vertraut sind, werden es schwer finden, die Zusammenfassungen seiner Bücher zu verstehen. Aber seine Biografie bekommt eine bleibende Würde.
When Sebald was a child, his beloved grandfather liked to tell him, with a straight face, that a truck was coming to deliver the holes for the Emmentaler cheese. Angier has stared down a writer whose life, in many ways, remains a similar container-box of holes.





Terry schreibt auf seinem Blog (https://sebald.wordpress.com/):
"Wer W.G. Sebald aufmerksam gelesen hat, dem schien es, als würde er in fast jedem seiner Bücher Bruchstücke seiner Autobiographie preisgeben. Und doch stießen die meisten Außenstehenden, wenn sie sich näher mit dem Menschen Sebald beschäftigten, auf eine Mauer, denn er war ein notorisch verschlossener Mensch. Ein paar Fakten und Geschichten sickerten hier und da durch, wenn man ein aufmerksamer Leser der umfangreichen Literatur war, die um Sebald herum entstand, aber er war keine öffentliche Figur wie so viele Schriftsteller heutzutage.
Sebald ist nun schon zwanzig Jahre tot, er starb 2001 plötzlich im Alter von 57 Jahren bei einem Autounfall, und es ist erstaunlich, dass erst diese Woche die erste Biografie erschienen ist. Und was Ihnen vielleicht auch auffällt, wenn Sie beginnen, das Vorwort zu Carole Angiers Speak, Silence: In Search of W.G. Sebald (Bloomsbury) zu lesen, ist, dass mehrere Schlüsselpersonen immer noch nicht mit ihr sprechen wollten. Seine Witwe bat - vielleicht verständlicherweise - darum, dass sein Familienleben geheim gehalten wird, und so geht Angier vorsichtig um Sebalds Ehe herum - außer ganz am Ende von Sebalds Leben, als sie das nicht kann. Aber die Stimmen einer Reihe wichtiger Freunde und Kollegen fehlen deutlich.
Eine noch größere Hürde für Angier war jedoch die fehlende Erlaubnis, aus vielen von Sebalds Briefen oder aus seinen Büchern und Interviews zu zitieren. Wie sie in ihrem Buch erklärt, suchte Sebald in seinen späten Fünfzigern verzweifelt nach genügend Geld, um sich von der Mühsal der akademischen Welt zu befreien, und wandte sich deshalb an den mächtigen Mega-Agenten Andrew Wylie, um Hilfe zu erhalten. Wylies Agentur entzog seinen langjährigen Verlegern Eichborn in Deutschland, Harvill in Großbritannien und New Directions in den USA die Rechte an seinem bevorstehenden Buch Austerlitz und versteigerte es stattdessen für sehr hohe Summen an Verlage, die in Wirklichkeit multinationale Konzerne sind. Dies verhalf Sebald in den letzten Jahren seines Lebens zu bescheidenem Wohlstand. Doch im Handumdrehen wurde ein Großteil seines literarischen Schaffens von Unternehmensinteressen kontrolliert, die zuweilen einen merkwürdigen, wenn nicht gar ungerechtfertigten Würgegriff um sein Urheberrecht zu legen scheinen. Wurden Angier die Rechte verweigert, weil ihr Ansatz missbilligt wurde? Arbeitet die Wylie Agency mit einem anderen Biographen zusammen und will keine Konkurrenz? Ich weiß es nicht.
"Warum um alles in der Welt", fragt Angier, "habe ich mit diesen Einschränkungen weitergemacht? Ich habe durchgehalten, weil W.G. Sebald der exquisiteste Schriftsteller ist, den ich kenne."