. wgsebald.de Wyndham Le Strange
Leute


George Wyndham Le Strange
1915 - 1992

Die Ringe des Saturn S. 77ff

Vielleicht ist es diese Verdüsterung gewesen, die mich daran erinnerte, daß ich vor mehreren Monaten aus der Eastern Daily Press einen Artikel ausgeschnitten hatte über den Tod des Majors George Wyndham Le Strange, dessen Domizil das große steinerne Herrenhaus von Henstead jenseits des Brackwassersees gewesen war. Le Strange habe, so hieß es in dem Artikel, während des letzten Krieges in dem Panzerabwehrregiment gedient, das am 14. April 1945

das Lager von Bergen Belsen befreite, sei aber, unmittelbar nach dem Waffenstillstand, aus Deutschland zurückgekehrt, um die Verwaltung der Güter seines Großonkels in der Grafschaft Suflfolk zu übernehmen, die er, wie ich von anderer Seite weiß, zumindest bis Mitte der fünfziger Jahre in vorbildlicher Weise bewirtschaftete. Zu jener Zeit war es auch, daß Le Strange sich die Haushälterin verschrieb, der er zuletzt sein gesamtes Vermögen vermachte, die Ländereien in Suffolk sowohl als einen auf mehrere Millionen Pfund geschätzten Immobilienbesitz in der Innenstadt von Birmingham. Dem Zeitungsbericht zufolge hatte Le Strange diese Haushälterin, eine einfache junge Frau namens Florence Barnes aus dem Landstädtchen Beccles, eingestellt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnehme. Nach den anscheinend von Mrs. Barnes selber der Zeitung gegenüber gemachten Angaben ist die einmal getroffene Vereinbarung von ihr getreulich eingehalten worden, auch nachdem die Lebensführung Le Stranges mehr und mehr ins Exzentrische sich zu wandeln begann. Zwar hatte sich Mrs. Barnes, von dem Berichterstatter der Zeitung hierzu zweifelsohne eindringlich befragt, nur auf das zurückhaltendste geäußert, doch haben meine eigenen seither angestellten Nachforschungen ergeben, daß Le Strange gegen Ende der fünfziger Jahre nach und nach all sein Hauspersonal ebenso wie seine Landarbeiter, Gärtner und Verwalter entlassen hatte, daß er von da an in dem großen Steinhaus allein mit der schweigsamen Köchin aus Beccles lebte und daß infolgedessen das ganze Gut, die Gartenanlagen und der Park zusehends verwilderten und verfielen und die brachliegenden Felder von ihren Rändern her zuwuchsen mit Strauchwerk und Gestrüpp.

Abgesehen von dergleichen, offenbar von der Beobachtung des tatsächlich Vorgefallenen veranlaßten Bemerkungen waren in den an die Domäne angrenzenden Dörfern einige den Major selber betreffende Geschichten im Umlauf, denen man wahrscheinlich nur bedingt Glauben schenken darf. Sie beruhten wohl auf dem Wenigen, das gerüchtweise im Verlaufe der Jahre aus der Tiefe des Parks an die Öffentlichkeit gedrungen war und das demzufolge die im engeren Umkreis lebende Bevölkerung in besonderem Maße beschäftigte. So hörte ich zum Beispiel in einer Wirtschaft in Henstead sagen, Le Strange sei in seinem späteren Alter, weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen mochte, in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte. Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanariengelben Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenem Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, Le Strange, der immer schon einen


zahmen Hahn

auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen, Tauben und Wachteln und den verschiedensten Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Einmal im Sommer, so erzählten einige, habe Le Strange in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er dann tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste. Am eigenartigsten aber war die, wie ich vermute, von den Bediensteten des Leichenbestatters in Wrentham ausgegangene Legende, daß die helle Haut des Majors bei seinem Ableben olivgrün, sein gänsegraues Auge tiefdunkel und sein schlohweißes Haar rabenschwarz geworden sei. Was ich von solchen Geschichten halten soll, das ist mir bis heute nicht klar.

Die Geschichte scheint eine Erfindung zu sein. Kein Major George Wyndham Le Strange hat jemals in Henstead gelebt, keine Florence Barnes taucht in den Wahlregistern auf, und die Eastern Daily Press hat keine Aufzeichnungen darüber, dass der von Sebald zur Verfügung gestellte Ausschnitt jemals auf den Seiten der Zeitung erschienen ist. Bei dem Artikel handelt es sich also wahrscheinlich um eine Fälschung (man beachte insbesondere die ungewöhnlichen Ränder); sollte dies der Fall sein, ist es mit ziemlicher Sicherheit Sebalds Fälschung. Der Vermerk in der oberen rechten Ecke lautet, glaube ich, wie folgt,


'16.IV.92'

(Sebalds Angewohnheit, die Monate seiner Datumsangaben zu latinisieren, zeigt sich in seiner persönlichen Korrespondenz.) Sebald hat diese Fälschung also "personalisiert", sie mit einem höchst individuellen Zeichen versehen (noch dazu mit dem Datum der Befreiung!). Umso merkwürdiger ist die fotografische Reproduktion des "Artikels". Vor allem in der englischen Ausgabe ist die Angabe des Artikels völlig tautologisch und scheint nur dazu zu dienen, die Erzählung zu authentifizieren. In Wirklichkeit aber untergräbt sie die Erzählung. Die Vorlage der Beweise, nachdem man die eigene Darstellung präsentiert hat, scheint zunächst ein seltsamer Schachzug zu sein. Die Tatsache, dass es sich bei dem Artikel um eine Fälschung handelt, noch dazu vom Autor, verkompliziert die Beziehung des Textes zu dem Bild von Bergen Belsen, das ihm vorausging.

Wenn das Bild tatsächlich Bergen Belsen zeigt, warum dann dieses Bild und nicht ein anderes? Ich bin überzeugt, dass Sebald mit der Wahl dieses Bildes, das Bergen Belsen "vorstellt", einen Dialog mit bestimmten Traditionen der Landschaftsdarstellung führt.
Es gibt buchstäblich Hunderte von Bildern, die an dem Tag oder um den Tag herum aufgenommen wurden, an dem die Alliierten Bergen Belsen befreiten - die meisten von ihnen zeigen Haufen von Leichen, einige vor dem eigentlichen Lager, einige in offenen Massengräbern, einige entlang einer unbefestigten Straße. Keines dieser Bilder hat jedoch die besondere Dynamik des von Sebald gewählten Bildes. Zum einen sind die Leichen in den meisten von ihnen die Landschaft. Die Kamera kann kaum etwas anderes aufnehmen, und der Betrachter wird in eine schwindelerregende Perspektive gezogen, in der es nichts als Leichen gibt. In anderen Fotografien ist das Gegenteil der Fall: Das Bild ist sorgfältig inszeniert, um die Leichen in einen Kontext zu stellen. Im Hintergrund erscheinen Kasernen, Schilder, Schotterstraßen.

Aber selbst unter den Bildern, die nur Leichen in den Wäldern um Bergen Belsen zeigen, sticht Sebalds Bild hervor. Im Gegensatz zu vielen anderen Fotografien der Opfer von Bergen Belsen betont es die Landschaft, in der sich die Gräueltat ereignete. Die Rahmung des Bildes ist geradezu abstoßend, da sie die Bäume in den Mittelpunkt zu stellen scheint und die Toten zu fast unkenntlichen Hütten am Boden macht. Darüber hinaus scheinen die drei Bäume im Vordergrund den Zugang zu der Art von Blick zu versperren, zu der die Landschaftsfotografie normalerweise einlädt. Anstatt sich vor unseren Augen zu öffnen, bleibt uns diese Landschaft verschlossen und bietet keinen Ort, an dem sich das Motiv innerhalb des Bildrahmens "finden" könnte. Ulrich Baer hat die Spannung zwischen dem "Landschaftscharakter als Erfahrungs- und Erinnerungsraum und der abstrahierten Darstellung eines unwirtlichen Geländes" als charakteristisches Merkmal der Fotografie der verschwundenen Stätten des Holocaust identifiziert: "Wir dürfen einen Ort betreten, der unseren Blick nicht vollständig aufnimmt" - "die Einladung zum Betreten verbindet sich mit einer Aura des Ausschlusses. Das Bild ist abgeschnitten - es ist nicht nur, wie wir gesehen haben, unklar, worum es sich bei diesem Bild handelt, sondern es bietet uns auch keine Einzelheiten, auf die wir uns in einem "Proszenium" zur Landschaft der Zerstörung beziehen könnten (z. B. die Überlebenden, die auf anderen Bildern von der Befreiung der Lager oft im Vordergrund zu sehen sind).

Schließlich verhindert die Fotografie auch die Entstehung einer echten Perspektive. Die Bäume verdecken jede Horizontlinie oder jeden flüchtigen Punkt und lassen uns erkennen, dass es etwas zu sehen gibt, ohne dass wir es tatsächlich sehen können. Im Gegensatz zu den "Tatort"-Bildern von Bergen Belsen, in denen das Lager entweder direkt oder metonymisch auftaucht, erkennt diese Fotografie unser Verlangen nach Perspektive und Kontext an, unterdrückt es aber gleichzeitig. Aus dem visuellen Feld ausgeschlossen, kann sich das betrachtende Subjekt nur in der indexikalischen Position selbst verorten, in dem, was Metz den "Akt des Nehmens" nennt. Während das Bild von Bergen Belsen also als Einbruch in den Text des Romans fungiert, antwortet der Text des Romans auf einen Mangel, der dem Bild innewohnt. Hätte der Roman nicht einen Major George Wyndham Le Strange konstruiert, der Bergen Belsen sieht und damit das Foto "autorisiert", hätte das Bild ständig verleugnet, dass es selbst aufgenommen wurde.

Selbst wenn die Fotografie wirklich das abbildet, was der Roman behauptet, scheint es, dass das Bild hier als eine Simulation erscheint, ähnlich wie die fotografischen Sammlungen von Christian Boltanski. Anstelle dessen, was Barthes "die unmögliche Wissenschaft des einzigartigen Wesens" nennt, ist das, was die Fotografie hier leistet, eine Simulation - die Unterbrechung, die den Schock, das Mysterium und die schiere Unbegreiflichkeit dessen, was Major Le Strange sah, ermöglicht. Es gibt keine Melancholie in dieser Konstruktion, ein reines Verweisungsspiel ohne das narzisstische Ego oder das verlorene Objekt, die "Wunde", die rein simulakral sind.

Das Bild ist jedoch keine reine Simulation. Die textuellen Modi der Wiederherstellung verleihen ihm ein pseudo-punctum, einen Ort der melancholischen, libidinösen Bindung. Aber wie kann ein Foto unklarer Herkunft zu einem "verlorenen Objekt" werden? Sebald hat mit der Konstruktion seiner Bildunterschriftengeschichte klare Hinweise darauf gegeben, warum dieser schwebende Signifikant tatsächlich ein Brennpunkt der Melancholie sein kann. Es gibt zwar keine Beweise dafür, dass ein Major George Wyndham Le Strange tatsächlich in Bergen Belsen war, um dieses Foto zu "autorisieren", indem er gesehen hat, was darauf abgebildet ist, aber es gibt einen anderen von Sebalds "Geistern", der dies getan hat: Jean Améry (1912 - 78), ein weiterer (österreichischer) jüdischer Emigrant, mit dem sich Sebald sowohl in seinen kritischen Schriften als auch in seinen Romanen beschäftigt. Améry verließ Österreich 1938 und schloss sich dem Widerstand in Belgien an. Er wurde verhaftet und in der Festung von Fort Breendonk gefoltert, einem Ort, den Sebalds Erzähler in Austerlitz besucht. Später wurde er nach Auschwitz deportiert und schließlich im April 1945 in Bergen Belsen befreit.

Der Name "Améry" war in Wirklichkeit ein Pseudonym, ein Anagramm von Amérys Geburtsnamen "Maier" (das "i" wurde bei der Transposition zu einem "y"), angenommen, um der Mördersprache den Eigennamen zu entreißen. Vielleicht ist George Wyndham Le Strange nichts anderes als eine Umdeutung von 'Winfried Georg Sebald', wobei auch hier das 'i' in ein 'y' 'übersetzt' wurde. Außerdem lebte Sebald in Wymondham in East Anglia, und in Interviews behauptete Sebald, dass er zum ersten Mal mit den Verbrechen, die seine Landsleute um die Zeit seiner Geburt herum begangen haben, konfrontiert wurde, und zwar in einer Aufklärungsrolle über die Befreiung von Bergen Belsen. Vielleicht ist das verlorene Objekt in diesem Fall einfach diese erste Darstellung des Ortes, der ursprüngliche Schock, den die Platzierung des Fotos im Text wiederherzustellen hofft. All dies deutet darauf hin, dass der Major vielleicht kein anderer ist als Sebald, der den Ort seiner "Initiation" in den Holocaust besucht. Dass dieser Le Strange in der Realität eingeweiht wird (ähnlich wie die tatsächlichen britischen Soldaten, die von dem, was sie in Bergen Belsen sahen, überwältigt waren), während Sebald selbst durch filmische Bilder eingeweiht wird, steigert die Suggestivität der Identifikation nur noch. Was Le Strange "sieht", steht dem melancholischen "Ich" zur Verfügung, das ihn als Requisit immer schon als Repräsentation benutzt.

Freud wies auf den Zusammenhang zwischen Melancholie und Narzissmus (der sich meist als Schamgefühl äußert) hin. Ein Freund Sebalds erzählte mir einmal, dass der Autor immer wieder mit Freude Verbindungen zwischen seiner eigenen Familie (in diesem Fall seinem Onkel Adelwarth) und der von jüdischen Emigranten fand. Man könnte sagen, dass dieselbe Freude an Verbindungen sein romanhaftes Werk belebt - die Überlagerungen, Verdoppelungen und Spiegelungen sichern die Möglichkeit der Melancholie, da sie dafür sorgen, dass die Selbstkathexis nie ganz verloren geht. Während Kluges Bildunterschriften ein potentielles/konjunktives Subjekt interpellieren (wenn es einen subjektiven Raum für das Sehen gibt, ermöglicht dieser 'blinde Fleck' die Zukunft), interpellieren Sebalds Bildunterschriften ein zwanghaftes Subjekt (jemand muss da sein, um zu sehen). Dieses Beharren auf der Notwendigkeit einer 'Wunde', Sebalds simulierte Melancholie, ist also schlicht die Anwesenheitsform des 'Pilgers', des 'Wallfahrers'.

Adrian Daub "Searching for Sebald" S. 322ff















Bergen-Belsen

siehe auch

sowie