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The smell



of my writing paper
puts me in mind
of the woodshavings
in my grandfather's
coffin




Das Schreibpapier

riecht
wie die Hobelspäne
im Sarg

Tess Jaray







Nie hat Sebald den Tod seines Großvaters verwunden (Logis in einem Landhaus S. 137), an dessen offenem Sarg hat er das dumpfe Gefühl in der Brust, daß dem Großvater, der da auf den Hobelspänen lag, ein schandbares, von keinem von uns Überlebenden mehr gutzumachendes Unrecht geschehen sei (Campo Santo S. 35).

Gedichte hat W. G. Sebald immer schon geschrieben. Diese erscheinen verstreut: ab 1964 in der „Freiburger Studenten-Zeitung“, später in Literaturzeitschriften, Verlagsalmanachen oder Zeitungen. Kennzeichnend für seine frühe Lyrik ist das Interesse an arkanen, okkulten Denktraditionen. Dieses Faible für von der Aufklärung relegiertes Wissen verdankt Sebald „den Erinnerungen an die Philosophie meines Großvaters”.
Der Dorfgendarm Josef Egelhofer war ihm während seiner Kindheit der nächste Mensch und hat ihn „in einigem Aberglauben erzogen“. In „Unerschlossen“ von 1975 figuriert Egelhofer als Urgroßvater, der, durch sein Gewand als Magus erkennbar, Horoskope erstellt. Verweist das Heptagramm auf die sieben Planeten der klassischen Astrologie, so beziehen sich die „Häuser“ in der Sterndeutung auf unterschiedliche Aspekte des Lebens, darunter negative wie den Tod.
Dem lyrischen Ich wird demgemäß ein Horoskop mitgegeben, das ihm eine glückliche Zukunft voraussagt, in liebender Fürsorge für den Nachfahren. Dessen „historischer Atlas“ ist folglich zu verstehen als jenes Buch, in dem die Geschichte seines Lebens kartographiert ist. Jedoch weist das Kartenwerk „weiße Stellen“ auf, will sagen: unvorhersehbare Ereignisse, die unlesbar bleiben, da sie in „Lichtsatz“ gedruckt sind. Unwägbarkeiten, Gefahren, so scheint es, lauern hier, zumal in Sebalds Lyrik die Farbe Weiß mehr als einmal den Tod konnotiert.
Sebalds Hoffnung, als Dichter zu reüssieren, zerschlug sich während der Siebzigerjahre. Doch er dichtete weiter, seine lyrische Produktion erlahmte nie völlig. Als Sebald Ende der Neunzigerjahre am Roman „Austerlitz“ arbeitete, dessen 430 Seiten von mäandernden Satzperioden geprägt sind, suchte er Ausgleich in der Lyrik: ein ganzer Strom kurzer Gedichte entstand als poetologisches Gegenprogramm, teils keine zehn Wörter lang.
„Micro-poems“, so kategorisierte Sebald diese Kurztexte treffend, übernehmen wir daher den Begriff. Der lyrische Ausdruck wird verknappt, aufs Minimalste reduziert. Ausgangspunkt ist das Schreibpapier, die Grundlage (im doppelten Sinne) allen Dichtens. Zumindest für Sebald, da er sich störrisch weigerte, einen Computer zu benutzen, und durchweg auf linierten Blättern von Notizblöcken schrieb.
Um die olfaktorische Qualität dieses Schreibpapiers geht es hier. Englische Collegeblöcke besitzen in der Tat aus unerfindlichen Gründen eine merkwürdige, leicht süßliche Ausdünstung, die im Gedicht eine Erinnerung aufruft, nämlich an den Geruch von Hobelspänen. Der letzte Vers präzisiert, dass es sich um das Abfallprodukt der Sargtischlerei handelt, das dem Leichnam unterlegt wird, um die bei der Auflösung des Körpers entstehenden Flüssigkeiten zu binden.



Der Geruch des Papiers verknüpft sich daher mit einer Aufbahrungsszene. Das Schreiben – als konkrete Tätigkeit, Papier mit Text zu füllen – ist eng mit dem Gedenken an Verstorbene verknüpft. Schreiben wird mithin zur literarischen Erinnerungsarbeit in der Präsenz des Todes und im Andenken an die Toten. So bringt Sebald sein literarisches Projekt überaus konzise auf den lyrischen Punkt: Es war der passionierte Versuch, an einige der unzähligen Opfer der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts zu erinnern, um so ihr Gedächtnis zu bewahren.
Bei diesem Befund müssten wir es belassen, gäbe es nicht die weitere Fassung des Kurzgedichts in Englisch. Obwohl er es perfekt beherrschte, blieb das Englische für Sebald eine Fremdsprache, in die er schreibend eher zurückhaltend wechselte. Doch in der sprachlichen Differenz ließ sich aussprechen, was auf Deutsch ungleich schwerer sagbar war.
Der im deutschen Gedicht noch absente Sprecher meldet sich nun zu Wort, und das Mikropoem entpuppt sich als poetische Verarbeitung einer schmerzhaften Erinnerung: Das Eingeständnis, dass es sich bei dem Verstorbenen um seinen Großvater handelt, den der kleine Winfried Georg im Alter von elf Jahren verlor. Es ist die schreckliche Urszene von Sebalds Biographie: der unwiderrufliche Verlust des über alles geliebten Großvaters – ein Trauma, das eine tiefe „Schmerzensspur“ in sein Leben einzeichnete.
Nicht eine Trauerlast über den Holocaust oder dergleichen, wie oft zu Unrecht behauptet wird, sondern der „von mir nie verwundene Tod“ des Großvaters setzte Sebald auf jene schwermütige „Trauerlaufbahn“, die sein Werk wie Leben prägte.
Im Dichten gedachte Sebald des verlorenen Großvaters, ein Leben lang. Als Versuch, das Unrecht des Todes vielleicht doch ungeschehen zu machen, irgendwie.

Uwe Schütte, FAZ 12.7.2024