Umberto Eco hat in seinem Foucaultsche Pendel den Plot von Tlön, Uqbar, Orbis Tertius übernommen, wo eine fiktive Welt plötzlich in die Realität eingreift. Und der Wallfahrer an Suffolks Küste findet hier Belege für sein von weit draußen hereingetriebenes, vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, ein kopulierendes Menschenpaar
unter der Klippe am schmalen Strand von Covehithe. Der Häresiarch von Uqbar hätte das - ebenso wie Spiegel - abscheulich gefunden, weil beides die Zahl der Menschen vervielfacht. |
In TIön verdoppeln sich die Dinge; sie neigen ebenfalls dazu, undeutlich zu werden und die Einzelheiten einzubüßen, wenn die Leute sie vergessen. Ein klassisches Beispiel ist jene Türschwelle, die andauerte, solange ein Bettler sie besuchte, und die bei seinem Tode den Blicken entschwand. Zuweilen haben ein paar Vögel oder ein Pferd die Ruinen eines Amphitheaters gerettet.
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| Während mir das durch den Kopf ging, sah ich draußen über dem Meer die Schwalben herumschießen. In einem fort ihre winzigen Schreie ausstoßend, durchschnitten sie ihr Flugfeld, geschwinder, als ihnen mit den Augen zu folgen war. Schon früher, in der Kindheit, wenn ich in den Abendstunden vom schattigen Talgrund aus diesen Seglern zuschaute, die zu jener Zeit noch in großer Zahl droben im letzten Licht kreisten, habe ich mir vorgestellt, daß die Welt nur zusammengehalten wird von ihren durch den Luftraum gezogenen Bahnen. Viele Jahre später las ich dann in der 1940 in Salto Oriental in Argentinien verfaßten Schrift >Tlön, Uqbar, Orbis Tertius von der Rettung eines ganzen Amphitheaters durch ein paar Vögel. |
Ich verdanke der Konjunktion eines Spiegels und einer Enzyklopaedie die Entdeckung Uqbars. Der Spiegel beunruhigte das Ende eines Ganges in einem Landhaus der Calle Gaona in Ramos Mejia; die Enzyklopaedie nennt sich fälschlich The Anglo-American Cyclopaedia (New York, 1917) und ist ein wortgetreuer, wenn auch saumseliger Nachdruck der Encyclopaedia Britannica von 1902. Der Vorfall ereignete sich vor etwa fünf Jahren. Bioy Casares hatte an diesem Abend mit mir zusammen gespeist, und es war zwischen uns zu einem langwierigen Streitgespraech über die Ausarbeitung eines Ich-Romans gekommen, dessen Erzähler Tatsachen auslassen oder entstellen und sich in verschiedenerlei Widersprüche verwickeln sollte, wodurch ein paar wenigen Lesern - ganz wenigen Lesern allerdings - die Ahnung einer grausamen oder trivialen Wirklichkeit aufgehen sollte. Vom entfernten Ende des Ganges her belauerte uns der Spiegel. Wir entdeckten (in tiefer Nacht ist diese Entdeckung unvermeidlich), dass Spiegel etwas Schauerliches an sich haben. Daraufhin erinnerte sich Bioy Casares, dass einer der Häresiarchien von Uqbar erklärt hatte, die Spiegel und die Paarung seien abscheulich, weil sie die Zahl der Menschen vervielfachen. Ich fragte ihn nach der Herkunft dieser denkwürdigen Sentenz, und er antwortete mir, dass The Anglo-American Cyclopaedia sie in ihrem Artikel über Uqbar anführe. In dem Landhaus (das wir möbliert gemietet hatten) befand sich ein Exemplar dieses Werkes. Auf den letzten Seiten von Band XLVI stiessen wir auf einen Artikel über Upsala; auf den ersten Seiten von XLVII auf einen über Ural-Altaic Languages, aber kein Wort über Uqbar. Bioy, ein bisschen bestürzt, sah in den Index-Bänden nach. Vergebens probierte er es mit allen irgend denkbaren Lesarten: Ukbar, Ucbar, Ooqbar, Ookbar, Oukbahr ...Vor dem Weggehen sagte er zu mir, es sei das eine Landschaft im Irak oder in Kleinasien. Ich muss gestehen, dass ich mit leisem Unbehagen zustimmte. Ich mutmasste, dass dieses unbezeugte Land und dieser anonyme Häresiarch eine von dem bescheidenen Bioy improvisierte Fiktion zur Rechtfertigung seines Ausspruchs seien. Die ergebnislose Durchsicht eines der Atlanten von Perthes bestärkte mich in meiner Vermutung. |
Die Erinnerung an die damals verspürte Unsicherheit bringt mich wieder auf die im vorigen schon erwähnte argentinische
Schrift, die in der Hauptsache befaßt ist mit unseren Versuchen zur Erfindung von Welten zweiten oder gar dritten Grades. Der Erzähler berichtet, wie er zusammen mit einem gewissen Bioy Casares in einem Landhaus der Calle Gaona in Ramos Mejía an einem Abend des Jahres 1935 beim Nachtessen war und wie sie sich im Anschluß an dieses Nachtessen verloren hatten in einem weit ausschweifenden Gespräch über die Ausarbeitung eines Romans, der gegen offenkundige Tatsachen verstoßen und sich in verschiedene Widersprüche verwickeln sollte in einer Weise, die es wenigen Lesern - sehr wenigen Lesern - ermöglichen sollte, die in dem Erzählten verborgene, einesteils grauenvolle, andernteils gänzlich bedeutungslose Wirklichkeit zu erahnen. Am Ende des Flurganges, der zu dem Zimmer führte, in dem wir damals saßen, so der Verfasser weiter, hing ein ovaler, halbblinder Spiegel, von dem eine Art Beunruhigung ausging. Wir fühlten uns von diesem stummen Zeugen belauert, und also entdeckten wir - in tiefer Nacht sind dergleichen Entdeckungen fast unvermeidlich -, daß Spiegel etwas Entsetzliches haben. Bioy Casares erinnerte demzufolge, einer der Häresiarchen
von Uqbar habe erklärt, das Grauenerregende an den Spiegeln, und im übrigen auch an dem Akt der Paarung, bestünde darin, daß sie
die Zahl der Menschen vervielfachen. Ich fragte Bioy Casares, so der Verfasser, nach der Herkunft dieser mir denkwürdig scheinenden
Sentenz, und er sagte, die Anglo-American Cylopaedia führe sie an in ihrem Artikel über Uqbar. Dieser Artikel aber, so stellt
es sich im weiteren Verlauf der Erzählung heraus, ist in der besagten Enzyklopädie nicht aufzufinden, beziehungsweise er findet sich
einzig und allein in dem von Bioy Casares vor Jahren erstandenen Exemplar, dessen sechsundzwanzigster Band um vier Seiten mehr
aufweist als alle anderen Exemplare der fraglichen, 1917 erschienenen Ausgabe. |
Nachschrift von 1947. Ich gebe den vorstehenden Artikel genau so wieder, wie er 1940 in der Antologia de la literatura Jantastica erschien, lediglich mit Streichung einiger Metaphern und einer Art Schlussbetrachtung in spasshaftem Ton, die heute frivol wirkt. Seit jenem Datum sind so viele Dinge geschehen. Ich will mich damit begnügen, an sie zu erinnern.
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Es bleibt somit ungeklärt, ob es Uqbar je gegeben hat oder ob es bei der Beschreibung dieses unbekannten Landes nicht ähnlich wie bei dem Enzyklopädistenprojekt Tlön, dem der Hauptteil der hier in Rede stehenden Schrift gewidmet ist, darum geht, über das rein Irreale im Laufe der Zeit zu einer neuen Wirklichkeit zu gelangen. Die labyrinthische Konstruktion Tlöns, so merkt ein Nachtrag aus dem Jahr 1947 an, steht im Begriff, die bekannte Welt auszulöschen. Schon ist das bislang von niemand beherrschte Idiom von Tlön in die Schulen eingedrungen, schon überdeckt die Geschichte Tlöns alles, was wir vordem einmal wußten oder zu wissen glaubten, schon zeigen sich in der Historiographie die unbestreitbaren Vorteile einer fiktiven Vergangenheit. Nahezu sämtliche Wissenszweige sind reformiert, und die wenigen unreformierten Disziplinen harren ebenfalls ihrer Erneuerung. Eine verstreute Dynastie von Einsiedlern, die Dynastie der Erfinder, Enzyklopädisten und Lexikographen von Tlön hat das Antlitz der Erde verwandelt. Alle Sprachen, selbst Spanisch, Französisch und Englisch, werden vom Planeten verschwinden. Die Welt wird Tlön sein. Mich aber, so schließt der Erzähler, kümmert das nicht, ich feile in der stillen Muße meines Landhauses weiter an einer tastenden, an Quevedo geschulten Übertragung des Urn Burial von Thomas Browne (die ich nicht drucken zu lassen gedenke).
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