Jemand, der die Sebaldseite regelmäßig (und mit dem größten Vergnügen) genießt, schreibt uns:
"[Allerdings hätte ich Ihnen wohl nicht so bald meinen Dank ausgesprochen, wäre mir nicht gestern in Berlin etwas Merkwürdiges widerfahren, das alle Sebaldianer, glaube ich, interessieren könnte.]

Ich befand mich aufgrund einer seelischen Erschöpfung bei meinem Hausarzt in der Schlesischen Straße. Aus dem ersten Stock seines Ordinationszimmers erkannte ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite Ecke Cuvrystraße einen inmitten der hier vorherrschenden viergeschossigen Bebauung verloren wirkenden Flachbau. Bei diesem - wie unfertig wirkenden - Gebäude handelt es sich um einen bekannten Szeneclub. In der Nachkriegszeit war in diesem Gebäude ein Kino, später, bis etwa 1996, die Probebühne der "Berliner Schaubühne".
Auf der Hinfahrt zu meinem Arzt, im Wartezimmer und danach las ich in den Ringen des Saturn.
Bis zu der Stelle gelangt, wo Sebald die Begegnung mit der Ashbury-Familie schildert, in deren verfallendem Herrenhaus er während seiner Irlandreise als Logiergast untergekommen ist, beschäftigte mich besonders Sebalds am Ende der Episode ausgesprochenes, aufrichtiges Bedauern, das Angebot der Ashburys, für immer bei ihnen zu bleiben, nicht angenommen zu haben:

Als Mrs. Ashbury mit ihrer Geschichte zu Ende war, schien es mir, als bestünde ihre Bedeutung für mich in der unausgesprochenen Aufforderung, ich möge bei ihnen bleiben und ihr Tag für Tag unschuldiger werdendes Leben teilen. Dass ich das nicht getan habe, dieses – Versagen zieht mir heute noch manchmal wie ein Schatten über die Seele. [S. 262f]

Als ich diese schwermütigen Gedanken las, musste ich an eine ähnliche Gelegenheit aus meinem eigenen Leben denken, in der auch ich, gleich dem Erzähler, es verpasst hatte, ein derartiges lebensveränderndes Angebot anzunehmen. Immer hatte ich nach einem Ort gesucht, der sich, ähnlich dem der Ashburys, durch eine Verbindung von Unschuld und Exzentrik (bei gleichzeitig abgeschiedener Lage) auszeichnete. Und ihn, als ich ihn gefunden hatte, paradoxerweise ignoriert.

Catherine, barfuß in einem roten Kleid und – etwas später – mit einem roten Hut, der einem Pilgerhut glich, war mir, wie dem Erzähler, gleich bei der ersten Begegnung ans Herz gewachsen. Des Erzählers Abschied von Catherine schmerzte mich (wie den Erzähler).
Nachdem ich Dr. B. verlassen hatte, ging ich zum U-Bahnhof Schlesisches Tor. Erst in der Hochbahn las ich dann von der vermutlich erneuten Begegnung des Erzählers mit Catherine in der Probebühne am Schlesischen Tor (Catherine verkörperte als Schauspielerin in einem Dramenfragment von Lenz die Catharina von Siena).
Sie können sich sicher vorstellen, wie sehr mich diese Koinzidenz erstaunte und wie stark sie mich berührte. Für einen Moment kam ich mir selber vor wie eine Figur Sebalds. Diese Vorstellung besaß für mich etwas ungemein Tröstendes, und ich blieb an diesem Tag noch einige Stunden mit ihr beschäftigt."

Herzliche Grüße

Ralf Portello


Die Aufführung in einem ehemaligen Kino in Kreuzberg, dort, wo vor drei Jahren noch die Mauer Berlin getrennt hat, beginnt um 22 Uhr. Eine Stunde vor Mitternacht stehen wir schon wieder auf der Straße, vor dem Eckhaus Cuvrystraße/Schlesische Straße, das die "Berliner Schaubühne" als Probebühne nutzt. Was haben die rund hundert Menschen erlebt, die sich in dem kleinen Raum drängen? Schöne, fremde, fast statische Bilder. Leise, wie in Trance, sprechen die bekannten Darsteller der Schaubühne und erzwingen Aufmerksamkeit für einen Bilderbogen, den der Dramaturg Dieter Sturm aus den Fragmenten zusammengestellt hat, über die der livländische Pastorensohn Jakob Michael Reinhold Lenz um 1775/76 den Titel gemalt hat: „Catharina von Siena". Lenz gilt neben Friedrich Maximilian Klinger und seinem Freund aus Straßburger Studententagen, Goethe, als einer der Feuerköpfe der Theaterrevolution des Sturm und Drangs. In der Andachtstunde, die der Regisseur Klaus Michael Grüber in Berlin zelebriert, herrschen eher Windstille und Weltabkehr. Und doch ist die Aufführung, in ihrer bis zur Manie gesteigerten Künstlichkeit und Formstrenge, ein Ereignis in dieser sich an Beliebigkeiten und Banalitäten verschwendenden Spielzeit.“ (Die Zeit 20.11.1992)