die nach einer ungeschriebenen Vorschrift akkurat
den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende
klassenlose Gesellschaft repräsentativen Durchschnittspaars entsprach,
hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht leichten Jugend
wahrscheinlich den Augenblick markiert,
in dem es ihnen vorkam,
als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit
Portrait of the Artist
and
Academic as a Young Man
In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs
Die Anschaffung einer standesgemäßen Wohnzimmereinrichtung, die nach einer ungeschriebenen Vorschrift
akkurat den Geschmacksvorstellungen des für die damals sich formierende klassenlose Gesellschaft
repräsentativen Durchschnittspaars entsprach, hatte für die Eltern nach einer in mancher Hinsicht nicht l
eichten Jugend wahrscheinlich den Augenblick markiert, in dem es ihnen vorkam,
als gäbe es doch eine höhere Gerechtigkeit. Dieses Wohnzimmer bestand also aus einem massiven
Wohnzimmerschrank, in welchem die Tischdecken, die Servietten und das silberne Besteck aufbewahrt wurden.
Vermerkt werden muß außerdem noch, daß im Aufsatz des Schranks nebst dem chinesischen
Teeservice eine Reihe in Leinen gebundener dramatischer Schriften ihren Platz hatten,
und zwar diejenigen Shakespeares, Schillers, Hebbels und Sudermanns. Es waren
dies wohlfeile Ausgaben des Volksbühnenverbands, die der Vater, der gar
nie auf den Gedanken gekommen wäre, ins Theater zu gehen, und noch
viel weniger auf den, ein Theaterstück zu lesen, in einer Anwandlung
von Kulturbewußtsein eines Tages einem Reisevertreter abgekauft hatte
(SG 210ff).
Wildenbruchs Haubenlerche, davon zehrten wir - Dramaturgie
Den tiefsten Eindruck aber von allen Veranstaltungen im Engelwirtssaal hat in mir die Aufführung der Räuber hinterlassen.
Sicher ein halbes dutzendmal bin ich in dem verdunkelten Saal unter der teilweise bis aus den
Nachbardörfern herübergekommenen Zuhörerschaft gesessen. Immer habe ich damals in die
Handlung eingreifen und die Amalia mit einem einzigen Wort darüber aufklären wollen, daß sie,
um sich aus dem staubigen Kerker in das Paradies der Liebe zu versetzen, wie sie es sich doch
wünschte, bloß die Hand hätte ausstrecken müssen (SG 206).
Angelockt von den in die Winterlautlosigkeit herausdringenden Klängen, bin ich in den Festsaal
hineingegangen und dort, ganz allein im Halbdunkel, Zeuge geworden wie auf der Bühne
gerade die letzte Szene der Oper geprobt wurde. Was eine Oper war, wußte ich damals
nicht, noch konnte ich mir denken, was es auf sich hatte mit dem blinkenden Dolch,
den zuerst der Schnapsbrenner Zweng, dann der Polsterer Gschwendtner und zuletzt die
Tabakhändlerin Bella Unsinn in der Hand hielten, aber daß es sich nur um eine vor meinen
Augen sich vollziehende Katastrophe handeln konnte, das hörte ich aus den verzweiflungsvoll
ineinander verschlungenen Stimmen, noch ehe der Gschwendtner Franz sich entleibte und gleich
danach die Bella ohnmächtig zu Boden sank (CS 232f).
Im Zuge der sogenannten Wiedergutmachung ist man bei einer Bregenzer
Nabucco-Inszenierung Mitte der neunziger Jahre auf den Gedanken gekommen, aus den Sklaven richtige
Juden in Zebraanzügen zu machen. Ich habe, was mich heute noch reut, teilgenommen an einer Veranstaltung
des Festspielrahmenprogramms und bin, bis die letzten Besucher in den Eingängen verschwunden waren,
unschlüssig auf dem Vorplatz herumgestanden, unschlüssig, weil es mir mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher
wird, mich unter ein Publikum zu mischen; unschlüssig, weil ich den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen
wollte, und unschlüssig weil ich hinter dem Pfänder ein großes Gewitter heraufziehen sah (CS 237).
hingen keine Gainsboroughs - Malerei
Es ist mir beim Nachdenken eingefallen, daß die Bilder des Kunstmalers Hengge, abgesehen
von denen in der Pfarrkirche, so ziemlich die einzigen Bilder gewesen sind, die ich bis zu meinem siebten
oder achten Lebensjahr gesehen habe, und es ist mir jetzt, als hätten sie, diese Holzhauer- und Kreuzigungsbilder
und das große Gemälde von der Schlacht auf dem Lechfeld, einen vernichtenden Eindruck auf mich gemacht.
Daß sie für mich durch die Wiederbegegnung weniger vernichtend geworden wären, kann ich nicht sagen (SG 227).
Mein Vater ist Kunsthändler gewesen, sein Ausstellungsfundus bestand in der Regel aus zirka fünf Dutzend
goldgerahmten Salonstücken niederländischer Art, beziehungsweise aus mediterranen Genreszenen im Stile
Murillos und aus menschenleeren deutschen Landschaften (AW 256).
Ich hatte seit sehr langer Zeit den Wunsch gehegt, die mir in der Malarbeit so oft vorschwebenden
Isenheimer Bilder Grünewalds und insbesondere das von der Grablegung in Wirklichkeit zu sehen (AW 252).
Frohmann erläuterte sodann, wie er dem Tempel getreu nach den Angaben der Bibel eigenhändig
erbaut habe. Sehen Sie, man erkennt jede Turmzacke, jeden Vorhang, jede Schwelle, jedes heilige Gerät.
Und ich beugte mich über das Tempelchen und wußte zum ersten Mal in meinem Leben, wie ein wahres
Kunstwerk aussieht (AW 262f).
wurde auch nicht Chopin gespielt - Musik
Es gab ja in dem Dorf W. am Nordrand der Alpen in unmittelbarer Nachkriegszeit außer den gelegentlichen
Darbietungen der stark dezimierten Jodlergruppe und dem feierlichen Spiel der gleichfalls nur mehr
aus ein paar älteren Gesellen bestehenden Blaskapelle bei der Flurumgangs- und Fronleichnamsprozession
so gut wie überhaupt keine Musik.
Nachdem wir im Dezember 1952 mit dem Möbelwagen des Spediteurs Alpenvogel aus unserem Heimatort W.
in die neunzehn Kilometer entfernte Kleinstadt S. umgezogen waren, begann sich mein musikalischer Horizont nach und nach
zu erweitern. Ich hörte den Lehrer Bereyter verschiedene wunderschöne Stücke und Melodiebögen blasen,
freilich ohne zu wissen, daß sie von Mozart stammten oder von Brahms. Begeistert, wie ich von dem Lehrer Bereyter gewesen bin,
hätte ich damals selber am liebsten das Klarinettenspiel gelernt. Aber eine Klarinette gab es bei uns zu Hause nicht, sondern
bloß eine Zither. Das Zitherspiel ist für mich eine schlimme Plage gewesen und die Zither selbst eine Art Folterbank,
an der man sich vergebens verrenkte und die einem die Finger krumm werden ließ. Als ich dann viele Jahre später durch
einen jener Zufälle, die es eigentlich nicht gibt, eines Nachts beim Heimfahren das Autoradio anstellte, wie gerade das von
Bereyter so oft gespielte Thema aus dem zweiten Satz des Klarinettenquintetts von Brahms erklang und ich es über die
ganze vergangene Zeit hinweg wiedererkannte, da wurde ich in diesem Moment des Wiedererkennens gestreift von der in
unserem Gefühlsleben so seltenen Sensation einer fast vollkommenen Gewichtslosigkeit (CS 224ff).
Portrait of the Artist as a Very Young Writer - Gedankenleben
Sebald ist kein Dramaturg oder Maler geworden und, wie er glaubhaft berichtet, schon gar kein Musiker.
Als Maler hat er sich von Hengge zurück zu den alten Meistern begeben, nach der Meinung einiger, die ihn nicht von
Stifter unterscheiden können, auch der eigene Weg als Schriftsteller. Als Dramaturg hat er es, soweit zu sehen ist,
im wesentlichen bei den Aufführungen im Engel- und im Ochsenwirt belassen. Als Musiker führt ihn der Weg von
den Rottachtalern zu Bereyters Klarinette, von dort zur Zither und wieder zurück zur Klarinette. Und der Weg
als Schriftsteller?
Bereyter läßt in der Volksschule nicht aus dem Schulbuch, sondern aus dem Rheinischen Hausfreund lesen.
Hebel wird mit anderen Alemannen bevorzugter Logisgast in Sebalds Landhaus. Bereyter führt eigenmächtig
bereits in der Volksschule den Französischunterricht ein, auch Rousseau darf daraufhin einziehen, das Landhaus
steht in seinem Fall auf der Petersinsel im Bieler See im alemannisch-französischen Grenzgebiet. Sebald ist als
der Wanderer stets anwesend in seinen Erzählungen und zugleich weithin unsichtbar, ein Schatten, ein Reflex
der jeweiligen Erzählgegenstände. Erhellend das Photo im Austerlitzbuch, der Spiegelreflex des Photographen
über den Exponaten des ANTIKOS BAZAR (AUS 287). Leibhaftig wird nur das Kind in Wertach. Aber auch den
Knaben sehen wir als ständigen Wanderer, unterwegs vom Engel- zum Ochsenwirt, zur Praxis des Doktor Rambousek,
auf dem Weg am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei die hohe Friedhofsmauer entlang, unterwegs zum Café
Alpenrose. Die engen Blutsverwandten sind, mit Ausnahme des Großvaters, abwesend, nie erleben wir den
Wertacher Knaben im Haus in Combray in verzweifelter Sehnsucht und Erwartung des Gutenachtkusses der Mutter.
Das Leben hat Sebald durch die Welt geführt, ohne daß er Wertach verlassen hätte, wo er nie zuhause war.
Sebald ist der Dichter der großen Entfernungen, die die kleinen sind, und umgekehrt. Mit einem Schritt nur,
aus dem Stand, hat er den Durchschnitt der deutschen Erzählliteratur verlassen und sich als
Confrère an die Seite von Kafka, Proust, Nabokov und Bernhard gestellt. Ständig zieht in seiner Prosa die erzählte
falsche Welt an uns vorbei und am selben Ort, ununterscheidbar nah, ist sie, erzählt, die immerfort richtige.
Wir haben guten Grund, diese Welt nicht mehr verlassen zu wollen.