Dr. Tulp
Von der Versenkung ins Bild und vom Dichter, der Sprache in Ausnahmezustand versetzt.
(Prosektur I)
Rembrandt, der seinem Doktor Tulp, wie man heute vermutet, ein Präparat unterschob, einen in Spiritus aufbewahrten enthäuteten Unterarm aus der eigenen Raritätensammlung, entwirft ein Gruppenbild mit Ärzten und erneuert das Genre Anatomiebild im selben Atemzug, indem er das Problem der Darstellung selbst zur Sprache bringt. Das aufgeschlagene Anatomiebuch am Fußende des Seziertisches, das Skizzenblatt in der Hand des einen Zuschauers mit der Umrißzeichnung des Gliedermannes, das Zusammenspiel der beiden Hände der Hauptfigur, die mit der Linken vorführt, was die Rechte mit der Griffzange an einem Stück dargestellter roter Muskulatur aufzeigt, all das war zugleich als Feier wie Infragestellung der unmittelbaren Anschauung gedacht. Schon die ungewöhnliche veristische Leichenblässe des Delinquenten, dieses schrecklich wächserne, eisig blaue Inkarnat signalisiert: Hier begnügt sich einer nicht mehr mit leerer Gestik und der Rhetorik des Memento mori, die solchen Obduktionsbildern anhaftete. Es ging nicht auch darum, bloß anatomisch korrekt zu malen. Worauf es Rembrandt ankam war, zu zeigen, daß Gott im Detail steckt. Wie funktioniert, als Mechanik von Muskeln und Sehnen, eine gezielte Handbewegung? Und zwar nicht irgendeine, sondern genau jene Geste, die Doktor Tulp, sämtliche Blicke dirigierend, vorführt und die gemeinhin als Ausdruck für Konzentration und Fingerspitzengefühl gilt: die Berührung von Daumen und Zeigefinger? In einem Spannungsbogen, der die Dramatik der Szene ausmacht, demonstriert Rembrandt das Ineinandergreifen von Leib und Seele, zeigt er von innen nach außen und umgekehrt die Wechselwirkung der Körpermaschine, wobei ein Terminus wie dieser, der Descartes alles bedeutete, an seiner Malerei glatt vorbeiging.
(Durs Grünbein, Der cartesische Taucher, S.46 ff. )
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Zweifellos handelte es sich einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründliche Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten – die Chirurgen sind in ihrem besten Staat, und Dr. Tulp hat sogar seinen Hut auf dem Kopf - ebenso wie die Tatsache, daß nach der Vollendung der Prozedur ein feierliches, in gewissem Sinne symbolhaftes Bankett abgehalten wurde. Stehen wir heute im Mauritiushuis vor dem gut zwei mal eineinhalb Meter messenden Anatomiegemälde Rembrandts, so stehen wir an der Stelle derer, die im Waagebouw seinerzeit dem Vorgang der Sezierung gefolgt sind, und meinen zu sehen, was diese gesehen haben: den grünlichen, im Vordergrund daliegenden Leib Aris’ Kindts mit dem gebrochenen Nacken und der in der Todesstarre furchtbar hervorgewölbten Brust. Und doch ist es fraglich, ob diesen Leib je in Wahrheit einer gesehen hat, denn die damals gerade aufkommende Kunst der Anatomisierung diente nicht zuletzt der Unsichtbarmachung des schuldhaften Körpers. Bezeichnenderweise sind ja die Blicke der Kollegen des Doktors Tulp nicht auf den Körper als solchen gerichtet, sondern sie gehen, freilich haarscharf, an ihm vorbei auf den aufgeklappten anatomischen Atlas, in dem die entsetzliche Körperlichkeit reduziert ist auf ein Diagramm, auf ein Schema des Menschen, wie es dem passionierten, an jenem Januarmorgen im Waagebouw angeblich gleichfalls anwesenden Amateuranatomen René Descartes vorschwebte. Bekanntlich lehrte Descartes in einem Hauptkapitel der Geschichte der Unterwerfung, daß man absehen muß von dem unbegreiflichen Fleisch und hin auf die in uns bereits angelegte Maschine, auf das, was man vollkommen verstehen, restlos für die Arbeit nutzbar machen und, bei allfälliger Störung, entweder wieder instand setzen oder wegwerfen kann. Der seltsamen Ausgrenzung des offen zur Schau gestellten Körpers entspricht es auch, daß die vielgerühmte Wirklichkeitsnähe des Rembrandtschen Bildes sich bei genauerem Hinsehen als eine nur scheinbare erweist. Entgegen jeder Gepflogenheit beginnt die hier dargestellte Prosektur nicht mit der Öffnung des Unterleibs und der Entfernung der am ehesten in den Verwesungszustand übergehenden Eingeweide, sondern (und auch das deutet möglicherweise auf einen Akt der Vergeltung) mit der Sezierung der straffälligen Hand. Und mit dieser Hand hat es eine eigenartige Bewandtnis. Nicht nur ist sie, verglichen mit der dem Zuschauer näheren, geradezu grotesk proportioniert, sie ist auch anatomisch gänzlich verkehrt. Die offengelegten Sehnen, die, nach der Stellung des Daumens, die der Handfläche der Linken sein sollten, sind die des Rückens der Rechten. Es handelt sich um eine rein schulmäßige, offenbar ohne weiteres dem anatomischen Atlas entnommene Aufsetzung, durch die das sonst, wenn man so sagen kann, nach dem Leben gemalte Bild genau in seinem Bedeutungszentrum, dort, wo die Einschnitte schon gemacht sind, umkippt in die krasseste Fehlkonstruktion. Daß Rembrandt sich hier irgendwie vertan hätte, ist wohl kaum möglich. Vorsätzlich scheint mir vielmehr die Durchbrechung der Komposition. Die unförmige Hand ist das Zeichen der über Aris Kindt hinweggegangenen Gewalt. Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den starren Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht die Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten.
( Die Ringe des Saturn S. 22 ff)
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Kein Sebaldianer wird bei der Lektüre Grünbeins darauf verzichten, die beiden Beschreibungsversionen des Rembrandtbildes einander gegenüberzustellen, und wohl jeder kommt angesichts dieser Gegenüberstellung ins Grübeln. Wer je ein Portraitbild Rembrandts gesehen hat,
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sei es eines der Selbstbilder oder eins der unvorstellbar schönen Frauenportraits - und wer ist so arm, daß er noch nie eins gesehen hätte - kann sich nur schwer vorstellen, das in Auftrag gegebene Anatomiebild habe dem niederländischen Maler besondere Freude bereitet oder er habe wenigstens, wie Grünbein vermutet, weitgehenden Trost darin gefunden darzutun, daß Gott in den Details des geöffneten Körpers steckt. Rembrandt zählt ganz sicher zu den größten Erforschern des Menscheninneren ohne Verletzung der Epidermis, Sebalds Erwägung, er, Rembrandt, habe sich heimlich und doch mit einem gewissen, der Deutung zugänglichen Eklat aus dem Bild und der Gilde der anwesenden Anatomen verabschiedet, ist insofern ohne weiteres einleuchtend, und Grünbein tut sich und der Sache Descartes jedenfalls keinen Gefallen, wenn er zwar die ungewöhnliche veristische Leichenblässe des Delinquenten sieht, nicht aber das Antlitz des getöteten Menschen.
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Grünbeins Absicht ist es, Descartes aus der Position des bestgehassten Philosophen, des Urvaters aller Verirrungen der Moderne zu befreien, da mag er bei dem einen Leser mehr Bereitschaft finden für seine Unternehmung als beim anderen. Sebald, wäre ihm noch die Möglichkeit geblieben, das Buch zu lesen, hätte sich wohl eher renitent verhalten. Seine Einschätzung des von ihm als Amateuranatomen apostrophierten Descartes scheint festgezurrt, allerdings gibt es auch keine Hinweise auf eine vertiefte Auseinandersetzung von seiner Seite mit dem französischen Philosophen. Leicht ist jedenfalls zu erkennen, dass Grünbein den Verheißungen der Neuzeit in spürbar größeren Maße vertraut als Sebald.
Um Fragen dieser Art soll es hier aber nicht vordringlich gehen und auch gar nicht um Descartes, dem Grünbeins leidenschaftlicher und beeindruckender Rettungsversuch gilt, sondern nur um die Spiegelung des Rembrandtbildes in zwei Prosastücken. Die Zielvorgabe ist, aus dem Kontrast heraus eine bessere Vorstellung von Sebalds Bildversenkungskunst zu gewinnen, wie er sie sein Werk hindurch an verschiedenen Objekten und Malern demonstriert hat, Grünewald, Pisanello, Giotto. Sebalds Sprache, der tiefblaue Samtton seiner Prosa, erweist ihren Sinn an diesen Stellen vielleicht in besonderem Maße.
Das Geheimnis dieser Sprache liegt, man darf das scheinbare Paradoxon nicht scheuen, in nicht geringen Maße in ihrer leichten Verständlichkeit. Dabei ist Verständlichkeit weniger das Ziel der sprachlichen Veranstaltung als Stilmittel zur Erreichung anderer Ziele. In Grünbeins Text muß der Leser innehalten, etwa wenn die Sprache darauf kommt, daß Gott im Detail steckt - wieso? Wird der Autor noch zusätzliche Hinweise geben, oder muß ich, der Leser, um zu verstehen, zurücksteigen in mein eigenes bisheriges Verständnis? Solche Augenblicke erspart Sebald seinen Lesern oder enthält sie ihnen vor, wie
man will, wir befinden uns nicht auf einer absoluten Skala der Werte. Sebalds Text ist immer sozusagen synchron auf der Höhe seiner Verstehbarkeit oder enthält doch aus dem Satzbogen heraus das Versprechen, Verstehbarkeit werde sich unmittelbar einstellen. Obendrein enthalten die Sätze zahlreiche nichttragende, allein satzmelodiöse Teile, die innersyntaktische Stille und Muße für allfällige Aufmerksamkeit schenken. Für seine Gänge durch die Monstrositäten und durch die Schönheit der Welt gewährt Sebald sich und seinen Lesern Logis in einem komfortablen Landhaus. Er nimmt uns gleichsam die Bürde des Denkens ab und legt es still zugunsten einer anderen, größeren Aufmerksamkeit, für den Rembrandtblick durch die Epidermis der Welt. Im Landhaus seiner Sätze gewinnt Sebald den Ausgangspunkt für den Übergang von der Bildanalyse zur Versenkung ins Bild.
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Natürlich kann man im souveränen Fortschritt der Sätze ein Trompe la raison-Element vermuten. Kann jemand sich und uns täuschen, der sich seiner Worte so sicher ist? Das ist, man muß es einräumen, möglich, die Worte sind nicht die Dinge. Will hier allein die Sicherheit des Schritts die Richtigkeit des Weges verbürgen? Ein Kritiker hat bemerkt, reduziert auf eine Sprache im Normalzustand sei das Austerlitzbuch voller wagemutiger und auch haarsträubender Annahmen, die seien aber nicht hörbar, da dem Dichter keinerlei Tonfehler unterläuft. Aber dann gibt es auch keine Täuschung, denn ohne Frage versetzt eine Sprache im Ausnahmezustand auch ihre Inhalte in einen anderen Aggregatzustand. Sprache im Ausnahmezustand, daran werden wir bei Sebald gründlich erinnert und haben es bereits gesagt, muß nicht Aufstand und Ekstase bedeuten, es kann auch in einem tiefblauen samtenen Gleichmaß jenseits aller Realität bestehen, und doch bereit für alle Realität.
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Nicht Grünbein, sondern Sebald ist es denn auch, der die zweite Schicht sieht hinter dem der Wissenschaft, ganz offenbar aber auch der Eitelkeit dienenden Prosektur, er sieht das Mittelalter, das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus und letztlich sieht er, durch Rembrandt hindurch, den panischen Halsknick an den in Grünewalds Werk überall vorkommenden Subjekten, der die Kehle freigibt und das Gesicht hineinwendet oft in ein blendendes Licht, als den äußersten Ausdruck der Körper dafür, daß die Natur kein Gleichgewicht kennt, sondern blind ein wüstes Experiment macht ums andre und wie ein unsinniger Bastler schon ausschlachtet, was ihr grad erst gelang. Wenn man versucht ist zu sagen, daß Grünbein das Bild von der Anatomievorlesung des Dr. Tulp mit den Augen des Descartes, Sebald es dagegen mit den Augen Rembrandts selbst sieht, kann es letztlich nicht überraschen, wenn es wiederum Sebald ist, der, versenkt wie er sich hat in den Maler, den gewollten Fehler sieht, die krasseste Fehlkonstruktion der geradezu grotesk proportionierten, auch anatomisch gänzlich verkehrten sezierten Hand. Zugleich ist es eigentlich kaum denkbar, Grünbein habe das übersehen. Er führt aus, es sei ein unterschobenes Präparat, ein in Spiritus aufbewahrter enthäuteter Unterarm aus der eigenen Raritätensammlung, verschweigt aber zugunsten seiner Argumentation die provokant fehlerhafte Einpassung in das Gemälde, um Rembrandt auf die Seite Descartes’ zu ziehen. Sebalds Text kennt er wohl nicht, sonst hätte ihm womöglich der Mut gefehlt für diesen kleinen Roßtäuschertrick.
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Rembrandts Portraits, der Frieden, der über dem zerfurchten Gesicht älterer Frauen liegt, der bereits ganz nach innen gekehrte und doch so welthaltige Blick, die kostbaren, schweren, monochromatischen Samtstoffe, eher Rot- als Blautöne, die den Körper einhüllen – auch das in vielem ein geeignetes Bild für die Eigentümlichkeiten der Sebaldschen Prosa.
Peter Oberschelp
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