Leser
AUS: Austerlitz
AW: Die Ausgewanderten
BU: Beschreibung des Unglücks
CS: Campo Santo
LL: Logis in einem Landhaus
LK: Luftkrieg und Literatur
LW: Über das Land und das Wasser
NN: Nach der Natur
RS: Die Ringe des Saturn
SG: Schwindel.Gefühle
UH: Unheimliche Heimat



Die Sauce Tartare war von den rußigen Semmelbröseln gräulich verfärbt,
und der Fisch selber, oder das, was ihn hatte vorstellen sollen,
lag zur Hälfte zerstört unter den grasgrünen Erbsen
und
den Überresten der fettig glänzenden Chips






Essen und Kopulieren



Die Welt ist kein Genußartikel

Kaum ein amerikanischer Erzähler auch der gehobenen Art traut sich noch vor seine Leserschaft zu treten, ohne ihr spätestens auf der dritten Seite einen Blow Job wenn nicht an- so doch darzubieten. Die Zahl der Prosawerke, in denen wie rasend kopuliert wird, ist international Legion. So muß man es eher als Überraschung werten, wenn aus dem Kreis der jüngeren deutschen Autorenschaft unlängst erster Unmut gegenüber den Great Old Horny Men (kurz: GOHM) der USA laut wurde (Clemens Meyer im Interview).


Das Thema des Essens hat sich nicht zuletzt ausgehend vom Detektivroman her kommend auf den Vormarsch begeben. Rex Stout hat die Trinität von Detektieren, Lesen und Essen als gleichberechtigter Kunst- und Kulturformen exerziert, Manuel Vazquez Montalban dann etwa hat das Essensthema literarisch noch um einiges vorangebracht und auch für höhere literarischen Kreise hoffähig gemacht. Der literarische Aufschwung der beiden Themen, Essen und Kopulieren, ist Zeichen eines sich mit Immanenz bescheidenden Erzählens, das damit, wie immer auch überhöht und gebrochen, teilnimmt an der dominierenden Realphilosophie, wonach die Welt zuerst und vor allem zu genießen ist. Einen einprägsamen kleinen Gegenakzent hat Robert Altman in seiner schönen Verfilmung von Raymond Chandlers Long Goodbye gesetzt, indem er Philip Marlowe unter anderem dadurch ins mönchisch Entrückte verschiebt, daß er ihn ohne Pause rauchen und niemals essen läßt. Zum Essen angeboten wird Marlowe in dem fast zweistündigen Film einzig eine Dörrpflaume, und die verschwindet nach einer kurzen Bißprobe nicht in der Mundhöhle, sondern in der Reverstasche.

In Sebalds zwar schmalem, aber doch einige hundert Seiten starken erzählerischen Gesamtwerk ist die Liebe ständig anwesend, offen kopuliert wird insgesamt nur zweimal und damit, berechnet auf die zeitgenössische Literatur, weit unterdurchschnittlich. Parallel dazu gibt es auch nur zwei bedeutende Essensszenen. Diese vier Szenen sind ausnahmslos Szenen des Scheiterns und stehen im Zentrum einer größeren oder kleineren Katastrophe. Die vier Fälle drängen sich in den beiden Erzählwerke SG und RS, AU und AW sind demnach weitgehend genußfrei.

Die Essensszenen:
1.
Ich weiß nicht, wie ich mir in den fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht. So auch an diesem Abend des 5. November. (SG S. 88)


Der Verzehr, besser Nichtverzehr einer Pizza zu Preis von 1700 Lire begleitet von einem Wein zu 1100 Lire (der Abrechnungszettel ist im Buch abgebildet) führt zu einer inneren Katastrophe, deren Anlaß undeutlich bleibt, und führt zu einem überhasteten Aufbruch nicht nur aus dem Restaurant, bei Hinterlegung von 10 000 Lire ohne Einkassieren des Wechselgeldes, sondern aus Italien insgesamt, zum Abbruch der Erzählung und zu ihrer Wiederaufnahme erst sieben Jahre später. Man kann sagen, die Schwindelgefühle in den Erzählungen All’estero und Il ritorno in patria nehmen ihren Ausgang im wesentlichen von einem fehlgeschlagenen Versuch der Essensaufnahme, der sich dann im weiteren Verlauf auch nicht wiederholt.

2.
Dieselbe verschreckte Person ist es auch gewesen, die später in dem großen Speisesaal, in dem ich an jenem Abend als einziger Gast saß, meine Bestellung entgegennahm und die mir bald darauf einen gewiß schon seit Jahren in der Kühltruhe vergrabenen Fisch, an dessen paniertem, vom Grill stellenweise versengten Panzer ich dann die Zinken meiner Gabel verbog. Tatsächlich machte es mir solche Mühe, ins Innere des, wie es sich schließlich zeigte, aus nichts als seiner harten Umwandung bestehenden Gegenstandes vorzudringen, daß mein Teller nach dieser Operation einen furchtbaren Anblick bot. Die Sauce Tartare, die ich aus einem Plastiktütchen hatte herausquetschen müssen, war von den rußigen Semmelbröseln gräulich verfärbt, und der Fisch selber, oder das, was ihn hatte vorstellen sollen, lag zur Hälfte zerstört unter den grasgrünen Erbsen und den Überresten der fettig glänzenden Chips (RS S. 58).


Hinter der humoristische Meisterleistung bleibt nicht verborgen, daß es hier direkt ins Herz der Dinge geht. Der Fisch, besser gesagt der fehlende Fisch auf dem Teller bezieht sich unmittelbar auf das anschließende große Kapitel vom Heringsfang. Sarah Friedrichsmeyer stellt in ihrem Aufsatz Sebalds Heringe und Seidenwürmer (in: Verschiebebahnhöfe der Erinnerung, 2007) den tierschützerischen Impuls des Autors heraus. Das ist sicher richtig, aber auch die Autorin beansprucht wohl nicht, damit schon den Kern erreicht zu haben. Melioristische Ansätze perlen an Sebalds allgegenwärtigen Verhängniszusammenhang in ähnlicher Weise ab wie an Luhmanns allgegenwärtigen Systemzusammenhängen, und vielleicht gibt es da auch gar keinen Unterschied. Der Kern, um den die Prosa kreist, ist offenbar eine Fundamentalschuld des Existierens, die zwar beliebig vergrößert (dem gilt das Holocaustthema im Austerlitzroman, der darüber hinaus aber keineswegs ein Holocaustroman ist), wohl auch verringert aber, wie uns schon jede einzelne aufmerksam betrachtete Mahlzeit zeigt, nicht beseitigt werden kann, sondern unabdingbar zum Jüngsten Gericht führt. In die Schilderung der Mahlzeit im Hotel Victoria in heruntergekommenen Seebad Lowestoft ist ein vorläufiges Jüngstes Gericht im Zwergenformat gleich unmittelbar eingelassen. Der in seiner Panade verschwundene Fisch nimmt das unvermeidliche Resultat unserer uns allmählich bewusst werdenden Bemühungen vorweg, uns und die Welt zum Verschwinden zu bringen.


Die Kopulationen:
3.
Es war der Jäger Schlag, der dort, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torfwasenbeige die Romana ausgebreitet und hatte, wie ich im Widerschein des Schneelichts erkennen konnte, die Augen genauso verdreht wie der Dr. Rambousek, als sein Kopf auf der Schreibtischplatte gelegen war. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten. Ich glaube nicht, daß die Romana oder der Schlag etwas von meiner Anwesenheit bemerkt haben; gesehen hat mich nur der Waldmann, der, angebunden wie immer an den Rucksack seines Herrn, still hinter diesem an der Erde stand und herüberschaute zu mir (SG S. 260).


Die Szene ist geschildert nicht aus der Sicht eines Beteiligten, sondern aus der eines beobachtenden und selbst in die Romana verliebten Kindes. Dessen nur halb verstehender Blick wird zurückgeworfen im Blick des dem Geschehen gegenüber völlig gleichgültigen Hundes. Der Tod des Dr. Rambousek, dessen Zeuge er unlängst geworden war, drängt sich dem Jungen als unübersehbares Tertium Comparationis auf. Am nächsten Morgen zerstört der einbeinige Engelwirt Sallaba, offenbar ein weiterer Verliebter, die gesamte Einrichtung der Gaststube. Wenig später nur ist auch der Jäger Hans Schlag tot, alles deutet hin auf einen Unfall, aber in dieser vom Erzähler ja selbst als Kriminalroman qualifizierten Geschichte (108) kann man nicht sicher sein. Hans Schlag, mit der am Oberarm eintätowierten Barke, ist aber vor allem die letzte Inkarnation von Kafkas Jäger Gracchus, der nicht sterben konnte, nun aber anscheinend erlöst wurde. Ist es aber Erlösung, wenn er vom Frost durchwachsen ist wie Satan im innersten Kern der Hölle? Wir sind in Bedeutungslabyrinthe geraten, die man ewig durchmessen muß.

Über diesem unergründlichen Liebesdrama schweben in den Schwindelgefühlen die zwei federleichten Trauungen, in denen die alemannische Utopie einer in Ordnung gebrachten Welt bewahrt ist, wie sie Sebald, Logis nehmend in einem Landhaus, bei Keller und Hebel so einnehmend dargestellt hat. Es sind dies die phantasierten Trauungen des erzählten Knaben mit dem Lehrerfräulein Rauch (275) sowie des Erzählers mit Luciana Michelotti, feengleiche Begebenheiten, die sich schneller noch auflösen als der Rauch von Sebalds Zigarette.

4.
... war es mir, als hätte ich auf dem Uferstreifen etwas seltsam Fehlfarbenes sich bewegen sehen. Ich kauerte mich nieder und blickte, erfüllt von plötzlicher Panik, hinab über den Rand. Es war ein Menschenpaar, das dort drunten lag, auf dem Grund der Grube, dachte ich mir, ein Mann, ausgestreckt über dem Körper eines anderen Wesens, von dem nichts sichtbar war als die angewinkelten, nach außen gekehrten Beine. Und in der eine Ewigkeit währenden Schrecksekunde, in der dieses Bild mich durchfuhr, kam es mir vor, als sei ein Zucken durch die Füße des Mannes gefahren wie bei einem gerade Gehenkten. Jetzt jedenfalls war er still, und still und reglos war auch die Frau. Ungestalt gleich einer großen, ans Land geworfenen Molluske lagen sie da, scheinbar ein Leib, ein von weit draußen hereingetriebenes, vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, letztes Exemplar einer monströsen Art, das mit flach aus den Nüstern entströmendem Atem seinem Ende entgegen dämmerte (RS S. 88).


Wieder nicht die teilnehmende, sondern die von fern beobachtende Perspektive eines unfreiwilligen Voyeurs, wieder der Tod im Zentrum. Die literarische Brücke vom Sexualakt zum Tod ist natürlich schon bis zur Gefährdung ihrer Statik überschritten worden, aber selten war der Übergang so direkt und trocken, ohne jede vorbereitende oder begleitende Himmelfahrtsmetaphorik. Die zitierte Stelle findet sich im dritten Kapitel der englischen Wallfahrt, hinter uns haben wir bereits die Strandfischer, den Heringsfang, Bergen Belsen und die Herde der Säue, vor uns nur noch das Todesland Tlön. Nach der alemannischen Utopie, deren letztes Licht spätestens 1933 (das Jahr auch, in dem, wie wir von Matthias Zucchi wissen, Sebald sein deutsches Wörterbuch geschlossen hat) erloschen ist, bleibt nur noch die saturnische Ödnis. Nicht zu beantworten die Frage, warum wir sie an Sebalds Seite so gern und endlos durchmessen. Aber einiges spricht dafür, daß sich auch Dante an Vergils Seite wohl gefühlt hat im Inferno.


Sebald äußert auch explizite theoretische Vorbehalte gegenüber pornographischen Erzählpassagen:
Pornographische Texte sind angelegt, den Leser, mit dessen voyeuristischen Disposition sie ihr Kalkül machen, gefangenzusetzen. Ob der rezeptiven Lust des Lesers dabei in einer Art Gleichung jeweils exhibitionistische Tagträume des Autors entsprechen, mag unentschieden bleiben; und es soll auch nicht unterschlagen werden, daß die damit umrissene Problematik die Crux einer jeden erzählten Geschichte ist – Konfession und Mitwisserschaft gehören unabänderlich zu den dynamischen Grundstrukturen der erzählenden Literatur.

Andererseits gelangen unsere Geschichten nur in dem Maß über die Verabredungen des zweifelhaften Genres hinaus, in dem es ihnen gelingt, sich als ein eigenständiges Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers einzurichten. Es ist fraglich, ob Pornographie mit den Präzepten erzählerischer Prosa überhaupt vereinbar ist. Die künstlerische Verkürzung der imaginierten Realität, die jede Form von Prosa ins Werk zu setzen hat, nimmt im pornographischen Text, der, als die entsentimentalisierte Fiktion par excellence, nie geschwind genug zur Sache kommen kann, leicht Züge unfreiwilliger Komik an. Der hohe Grad der Explizität paßt einfach nicht zum Tempo und zu den offenkundigen Ellipsen in der beschriebenen Handlung. (BU S. 153f)

Oberschelp