& Entfaltung & Einfaltung in Lyrik & Prosa &
Im Nachwort zum aus dem Nachlaß herausgegebenen Lyrikband "Über das Land und das Wasser" zitiert der Herausgeber Sebald mit den Worten: Mein Medium ist die Prosa – und schränkt das mit Hinweis auf die fortgesetzte lyrische Produktion des Autors ein. Man mag darin zunächst Marketing für das Buch und allenfalls an zweiter Stelle einen Dissens zwischen Autor und Herausgeber sehen. Jedenfalls wird, wer den Prosadichter Sebald liebt und sich auf dem Boden der Lyrik generell unsicher fühlt, gern der Selbsteinschätzung des Autors folgen. Er wird dem Herausgeber dann auch großzügig nachsehen, daß er nicht mit offenen und obendrein mit gezinkten Karten spielt, das vollständige Zitat lautet nämlich: Mein Medium ist die Prosa und nicht der Roman – ein Unterschied, den zu betonen Sebald allen Anlaß hatte. Prosa ist also gar nicht der Lyrik konfrontiert, die Idee, sie, die Lyrik, könne sein endgültiges Medium sein, lag Sebald wohl eher fern. An dieser Stelle soll jedenfalls keine nähere Beschäftigung mit der Lyrik stattfinden, es sollen nur einige Reflexe ins Auge gefaßt werden, die entstehen, wenn man die Lyrik auf die Prosa projiziert.
In der angelsächsischen Kritik ist Sebald als easy read charakterisiert worden. In der Tat gibt es kaum einen zeitgenössischen Autor,
der sich vergleichbar, wie es scheint, um eine ganz und gar klare und ungetrübt durchsichtige Prosaoberfläche bemüht wie Sebald.
Immer wird noch ein zusätzliches klarstellendes Wort eingefügt, noch ein weiterer erläuternder Halbsatz aufgeklappt.
Die Klarheit der Oberfläche zieht aber sichtbar-unsichtbar das ganze vielgestaltige Dunkel der Welt hinter sich her.
Man könnte glauben, Sebald habe erst mit der Veröffentlichung künstlerischer Prosa begonnen, als dieses Prosaideal
für ihn feststand und auch erreichbar war. Der Einsatz fand mit den "Schwindel.Gefühlen" denn auch gleich auf dem höchsten, nicht mehr
zu übertreffenden, sondern nur noch zu variierenden Niveau statt. Wie verhält sich dazu die Lyrik?
Das erste Gedicht in dem Band lautet:
Schwer zu verstehen
ist nämlich die Landschaft,
wenn du im D-Zug von dahin
nach dorthin vorbeifährst,
während sie stumm
dein Verschwinden betrachtet.
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Weder entfaltet noch eingefaltet, ein Augenblick der Evidenz mit einer durchaus durchsichtigen Bedeutungsschicht überzogen, die aber, wie die spätere Prosa, das Dunkel der Unverständlichkeit im Nacken hat (Schwer zu verstehen...). Der knappe Vers enthält mit dem Reisen ein Generalthema der Prosa, und auch die Inversion, die den Blick vom Leblosen auf das Belebte lenkt, wird zum Prosathema: Was mich beunruhigte war die an sich unsinnige Vorstellung, daß die durch diese Verschuppung ihrer Oberfläche gewissermaßen ans Lebendige heranreichende gußeiserne Säule sich erinnerte an mich (AUS S. 319f).
Einige Gedichte weiter (LW S. 10):
Versiegelt die Absicht
bewahrter Zeichen.
Durch Regen gereist
verwischt die Adresse.
Vermute das „Wiederkehr“
am Ende des Briefes!
Zuweilen gegen das Licht
erscheint: „der Seele“.
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Eine Annäherung an das vermutete Prosaideal der Oberflächenklarheit hat auf den wenigen Seiten, die zwischen den beiden Gedichten liegen, nicht stattgefunden, die Sprache ist deutlich nicht entfaltend, sondern eingerollt, verrätselt.
Ganz anders sieht es aus bei der späten, parallel zur Prosaproduktion, man kann vermuten: zur Entspannung entstandenen Lyrik. Ein besonders ansprechendes Beispiel ist die auf 1999 datierte
Marienbader Elegie. Es ist eine Schriftstellervignette ähnlich der Rousseaus im Landhaus, Stendhals und Kafkas in den SG oder Chateaubriands und Swinburnes in den RS. Es ist die gleiche Mischung kollegialer Nähe zu Mitgliedern der Glücks- und Leidensgemeinschaft der Schreibenden, äußerster Dezenz der Annäherung, aber auch einer leicht spöttischer Distanz, die freilich umfassend auf die seltsamen Handwerke des Schreibens, des Lebens und des Liebens zielt und insofern selbstreflexiv den Autor selbst bewusst immer mit einbezieht. Noch weitergehend sind auch wir einbezogen, denn stilistisch sind wir alle als Teilnehmer einer Comédie Humaine verstanden. Dabei ergibt sich speziell an dieser Stelle zusätzlich Entlastung für alle, die dem Mittelteil der Trilogie der Leidenschaft nicht ohne ein gewisses hilfloses Stirnrunzeln gegenüberstehen:
Mir aber wollte es
nicht recht gefallen
dies herrliche Geflecht
verschlungener Minnen.
....Ein
Faksimile davon habe
Ich heute gesehen im Museum
Von Marienbad nebst
ein paar anderen Sachen
die mir viel näher
gingen & unter denen
eine Dochtschere gewesen
ist & ein Siegellacksatz,
ein Ablegeschälchen aus
Papiermaché & eine Feder-
zeichnung Ulrikes...
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Wenn das Gedicht insgesamt als eine Wortwelterinnerung zu charakterisieren ist, so gleitet es dann hin zu den aus den stummen Dingen des ANTIKOS BAZAR, auf den Selysses allenthalben stößt und aus denen sein Blick die tieferliegenden Erinnerungen der Wortlosigkeit löst. Man kann mutmaßen, daß in einem parallelen Prosatext die Entfaltungen noch über tausend Blütenblätter weiter gegangen wären. Die Nagelprobe ist möglich an zwei Gedichten, zu denen es eine derartige Prosavariante gibt. Dabei kann es natürliche nicht um absolute Maßstäbe gehen, da Lyrik ganz allgemein als eine einfaltende und Prosa demgegenüber als ein entfaltende Literaturform zu kennzeichnen wäre. Das Interesse zielt vielmehr auf das Verhältnis einer nur schwach einfaltenden, eigentlich schon entfaltenden Lyrik zu einer extrem entfaltenden Prosa.
Viele der Gedichte sind offenbar auf Reisen entstanden, einige von den späteren offenbar auf Reisen, die zu Prosazwecken unternommen wurden. Die Entstehung der Marienbader Elegie möchte man einer Reise in die Tschechei zuordnen, die für das Austerlitzbuch notwendig war. Man stellt sich den Dichter einsam in einem Hotelzimmer vor, wie er versucht, die rastlos sich bewegenden, noch nicht in Prosaform gebrachten Stoffmengen, die ihm den Schlaf rauben, durch das Gedicht zum Schweigen zu bringen, eine persönliche Mentalhygiene also. Der Beginn des Gedichtes In Bamberg:
In Bamberg
liege ich schlaflos
in einem steinernen
Haus
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scheint diese Phantasie zu bestätigen.
Das Gedicht New Jersey Journey verarbeitet in der angenommenen
Art Material der Erzählung Ambros Adelwarth (AW):
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