Sebalds Bücher sind gespickt mit Zeitangaben und Jahreszahlen . Die eigenartigste Zahl bildet den vor-letzten Eintrag überhaupt in den Schwindel.Gefühlen: - 2013 -. Die Strichrahmung lässt für einen Augenblick an Paginierung denken und die Herzen aller Sebald-verfallenen höher schlagen, aber sie wissen ja, keines der Werke des Dichters hat auch nur annähernd diesen Seitenumfang erreicht. Leicht erschließt sich, dass eine Jahreszahl in der Zukunft gemeint ist.
Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe, die erste Erzählung der Schwindel.Gefühle, legt sich
um das Jahr 1813. Der Zenith der napoleonischen Zeit ist über-schritten. Beyle befindet sich im Herbst des Jahres
1813 in einer anhaltend elegischen Stimmung. Im vorher-gehenden Winter hat er den grauenhaften Rückzug aus
Russland mitgemacht (SG 27). Im Austerlitzbuch wird am Sylvesterabend von 1813 auf 1814 das Queue aus
der Hand gelegt, der Zählapparat, der Ständer für die Stöcke und die Verlängerungsschäfte, das Kabinett mit
den vielen Schubladen, in denen die Elfenbeinkugeln, die Kreiden, Bürsten, Polierlappen und sonstigen für das
Billardspiel unentbehrlichen Dinge verwahrt liegen, nichts ist je mehr angerührt worden (AUS 157). Der Titel
des Buches und gleichzeitig der Name seines Helden ist aus der napoleonischen Zeit generiert. Sebald soll
an einem Korsikabuch gearbeitet haben, Fragmente sind in Campo Santo veröffentlicht, bevor er auf
Austerlitz um-schwenkte.
Eine offene Beurteilung der napoleonischen Zeit tritt nicht auf im Werk. Mit Stendhal wurde ein glühender Anhänger
des Korsen zum Erzählgegenstand gewählt. Gleich auf die Offenbarung des wahren Namens des Titelhelden im
Austerlitzbuch folgt eine seitenlange Schilderung der Schlacht zu Austerlitz, in den nachgelassenen Fragmenten
zu einem Korsikabuch wird das Napoleonmuseum besucht. Die Beurteilung Napoleons ist offenbar zwiespältig und
ermöglicht Sebald die für ihn wichtige zwiespältige Beurteilung des zwischen Hoffen und Bangen schwankenden
neun-zehnten Jahrhunderts, das bis 1913 reicht.
Als Gottfried Keller im Vormärz mit dem Schreiben begann, trieb die Hoffnung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag
schöne Blüten, stand die Verwirklichung der Volksherrschaft noch zu erwarten, hätte alles noch anders kommen
können, als es dann tatsächlich kam (LL 97). Als Keller Mitte der fünfziger Jahre nach Zürich zurückkehrte
und das vorbildliche Gemeinwesen aus der Nähe studieren konnte, kamen ihm gelegentlich und im Laufe der
Zeit im stärker werdende Zweifel an dem Gang, den die Dinge auch in einem solchen, die persönlichen und politischen
Freiheiten garantierenden Staat nun nahmen (LL 99). Bereits Hebel, der Zeitgefährte Napoleons, hatte
ähnliches durchlebt. Dem blind und taub sich fortwälzenden Prozeß der Geschichte hält er Begebenheiten entgegen,
in denen ausgestandenes Unglück entgolten wird, auf jeden Feldzug folgt ein Friedensschluß, jedes Rätsel, das
uns aufgegeben wird, hat eine Lösung, und in dem Buch der Natur, das Hebel vor uns aufschlägt können wir studieren,
daß selbst die kuriosesten Kreaturen, wie zum Beispiel die Prozeßspinner und die fliegenden Fische ihren Platz
haben in der aufs sorgfältigste austarierten Ordnung (LL 17). Sebald geht auch direkt auf Hebels Verhältnis
zu Napoleon ein und vermutet, eine Weile zumindest waren auch seine politischen Hoffnungen auf den
Franzosenkaiser gerichtet gewesen und damit sei er unter den fortschrittsgesinnten Konservativen
seiner Zeit nicht allein gewesen (LL 31). In der Fortsetzung seines Berichts über die epochalen
Weltbegebenheiten ruft Hebel den Lesern seines Kalenders auch den am 6. Mai 1813 aus Berlin ergangenen
Befehl ins Gedächtnis für den möglichen ungünstigen Ausgang der Völkerschlacht. 'Noch nie',
schreibt der Hausfreund, 'ist eine solche schauerliche Maßregelung zur Zerstörung des eigenen Landes ergriffen
worden.' Wir heutigen können etwas ahnen von dem Entsetzen, das den Kalendermacher überfiel, als er
in diesen schon offenen Schlund der Geschichte hinabschaute (LL 33).
Zurück zu den Schwindel.Gefühlen, den Wanderungen und Abenteuern der Dreizehn. Noch im Herbst
1813 unternimmt Beyle/Stendhal eine Reise mit Mme Gherardi an die oberitalienischen Seen.
Beyle machte Mme Gherardi auf einen schweren alten Kahn aufmerksam, ... der anscheinend auch vor kurzer
Zeit erst angelegt hatte und von dem zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen gerade eine
Bahre an Land trugen, auf der unter einem großen, blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein
Mensch lag (SG 30), ohne Zweifel der Jäger Gracchus. Stendhal trifft Kafka, das Jahr 1813 stößt auf das Jahr
1913.
In der nachfolgenden Erzählung All’estero wird weiter auf Kafka und das Jahr 1913 vorbereitet.
Ich nahm den nächstbesten Zug nach Verona, wo ich hoffte etwas ausfindig machen zukönnen über den
untröstlichen Nachmittag, den Dr. Kafka, wie er selbst berichtet hat, im September 1913 auf dem Weg von
Venedig zum Gardasee in Verona verbrachte (SG 97). Im Pissoir des Bahnhofs von Desenzano, der im Jahr
1913 noch nicht lange fertiggestellt gewesen sein dürfte, fragte ich mich beim Händewaschen, ob Dr.
Kafka, der, von Verona herüberkommend, gleichfalls an diesem Bahnhof ausgestiegen sein mußte, nicht
auch in diesem Spiegelglas sein Gesicht betrachtet hatte. Es wäre eigentlich kein Wunder gewesen. Und eines
der Graffiti neben dem Spiegel schien mir geradezu darauf hinzudeuten. Il cacciatore, stand da in einer
ungelenken Schrift (SG 98f).
Dr. K.s Badereise nach Riva ist dann ganz Kafka und einer seinem Tagebuch entnommenen
Episode aus dem Jahre 1913 gewidmet. Die Schwindel.Gefühle reihen sich damit ein, nicht ohne
das sebaldtypische Zwinkern des Auges, in die endlose Zahl der auf das Jahr 1914 auflaufenden Zeitbruchromane
mit dem "Zauberberg" und dem "Mann ohne Eigenschaften" an der Spitze. Wie Hans Castorp sieht auch
Dr. K. dem Kommenden in einem Sanatorium entgegen.
Sebald hat die der Zahl Dreizehn zugedachte Konnotation des Unglücks sicher gern gesehen. Sein
Fortschrittsengel ist ohne Zweifel derjenige Benjamins, der mit Blick auf das für ihn inzwischen wohl
kaum noch sichtbare Paradies rückwärts fortgeblasen wird von den Stürmen der Zeit. Das zwanzigste
Jahrhundert wollte Sebald schon nicht mehr zwiespältig erleben, sondern eindeutig. Was, welche Wende
wird uns das Jahr 2013 bringen, auf das erzählerisch noch einmal kurz vorbereitet wird durch den
Hinweis, dass es sich bei dem Tagebuch von Samuel Pepys um die Dünndruckausgabe der Everyman’s
Library aus dem Jahre 1913 handelt (SG 285). Die Antwort auf die Frage, was sein wird 2013, erfolgt unmittelbar
im Buch selbst und mit äußerster Lakonie, es folgt nur noch das: Ende.
Wenn Sebald sich hier als Weltuntergangsprophet profiliert, dann erneut nicht ohne das Zwinkern beider Augen.
Fraglos, so wird er gedacht haben, ist die Menschenwelt inzwischen in einem Zustand, der für ein
plötzliches Ende jederzeit gut ist und warum dann nicht sinnigerweise im Jahre 2013. Wahrscheinlicher aber,
das Land Tlön hat sich bis 2013 derart ausgestreckt, daß alle es sehen müssen, oder bereits niemand es
mehr sehen kann, weil es ein anderes zu Vergleichzwecken nicht mehr gibt. Wir erinnern uns:
Die labyrinthische Konstruktion Tlöns steht im Begriff, die bekannte Welt auszulöschen. Tlön hat das
Antlitz der Erde verwandelt. Alle Sprachen, selbst Spanisch, Französisch und Englisch, werden vom Planten
verschwinden. Die Welt wird Tlön sein (RS S. 91).
Dass es auch das Englische erwischen soll, ist, in der Situation, wie wir sie im Augenblick haben, schon
fast wieder ein von Schadenfreude genährter Trost.
Keineswegs soll hier hinter der Zahl Dreizehn eine Geschichtsphilosophie Sebalds ans Tageslicht gefördert werden.
Es ist überhaupt nicht sicher und eher fraglich, ob hinter den Zahlenspielen allzu viel Tiefe steckt.
Nach Sebalds Überzeugung ist die Welt sinnlos, und alle wissen das. Umso mehr komme es darauf an
alles zu nutzen, was für den Augenblick Sinn verspricht. Nichts komplettiert den Eindruck von Sinnlosigkeit mehr,
als mit leerem Blick dem vorrückenden Sekundenzeiger zu folgen oder mit leerem Kopf den Jahreszahlen.
Das Zahlenspiel ist wie ein erstes zaghaftes Einsetzen einer Sinnmelodie, Telegin, der im Onkel Wanja
die Gitarre stimmt und dann einige zusammenhanglose und doch schon - die Gitarre kann nicht anders -
schöne Akkorde schlägt. Zur gleichen Tonfamilie wie die Zahlenspiele zählen in Sebalds Werk die
Begegnungen mit Dante oder König Ludwig im Menschengewühl moderner Großstädte oder das wiederholte,
exorbitant unwahrscheinliche Zusammentreffen mit Austerlitz. Es gehört zur Schönheit der voll
orchestrierten Erzählung, die uns sinnvoll und glückhaft durch das Elend trägt, dass diese schlichten und gar
nicht einmal zu kräftig gezupften Töne hörbar bleiben.
Oberschelp
Und hat etwa Florian Illies Sebald noch genauer gelesen??