="Max:Ich"



daß es einen Sinn hat, etwas weiterzugeben.
Unter diesem Aspekt stellt die Erklärung
unseres persönlichen und kollektiven Unglücks
ein Erlebnis mit bei,
über das das Gegenteil von Unglück,
und sei es mit knapper Not,
noch zu erreichen ist.


Mozart: 12 Variationen in C           











W.G. über Max


Selbstauskünfte der Ich-Erzähler


Achtung

10
Ich habe immer versucht, in meiner eigenen Arbeit denjenigen meine Achtung zu erweisen, von denen ich mich angezogen fühlte, gewissermaßen den Hut zu lüften vor ihnen, indem ich ein schönes Bild oder ein paar besondere Worte von ihnen entlehnte, doch ist es eine Sache, wenn man einem dahingegangenen Kollegen zum Andenken ein Zeichen setzt, und eine andere, wenn man das Gefühl nicht loswird, daß einem zugewinkt wird von der anderen Seite.

Handwerk

1
Ich habe an Tripps Bildern gelernt, dass man weit in die Tiefe hineinschauen muss, dass die Kunst ohne das Handwerk nicht auskommt und dass man mit vielen Schwierigkeiten zu rechnen hat beim Aufzählen der Dinge.

11
Weil Angst um vieles leichter zu machen ist als Freude, war eine überzeugende Repräsentation des Himmels auch in der Theologie immer das schwierigste Geschäft.

28
Zünftige Germanisten, deren verbohrte Untersuchungen regelmäßig umschlagen in eine Travestie von Wissenschaft ...

Kindheit

5
Der Blick herab auf die Erde könnte fremder nicht sein, und doch liegt die Kindheit, die wir auf ihr verbrachten, kaum weiter zurück als der gestrige Tag.

14
Ich entsinne mich sehr wohl, wie ich als Kind zum erstenmal an einem offenen Sarg gestanden bin mit dem dumpfen Gefühl in der Brust, daß dem Großvater, der da auf den Hobelspänen lag, ein schandbares, von keinem von uns Überlebenden mehr gutzumachendes Unrecht geschehen sei. Und seit einiger Zeit weiß ich auch: Je mehr einer, aus was für einem Grund immer, zu tragen hat an der der menschlichen Art wahrscheinlich nicht umsonst aufgebürdeten Trauerlast, desto öfter begegnen ihm Gespenster.

19
Über das, was ich mir damals ersonnen, als ich in den Krautgarten hinabsah, in dem die Klosterfrauen mit ihren weißen gestärkten Hauben so langsam sich zwischen den Beeten bewegten, als seien sie vor einem Augenblick noch Raupen gewesen, über das bin ich immer noch nicht hinaus.

Kontakt

15
Wie ich ja oft seither erfahren habe, daß Alleinreiscnde in der Regel dankbar sind, wenn sie, nach manchmal tagelang nicht unterbrochenem Schweigen, eine Ansprache finden. Verschiedentlich hat es sich bei solchen Gelegenheiten sogar gezeigt, daß sie dann bereit sind, sich einem fremden Menschen rückhaltlos zu öffnen.

26
... fanden sich in der Vorhalle allmählich die Passagiere des ersten um halb acht von Calvi abgehenden Charterflugs ein, lauter Strandurlauber & Bergwanderer, die, wie ich mit Schrecken feststellte, ausnahmslos in meiner heimatlichen Mundart redeten. Ihr Flugziel war Friedrichshafen & also kamen die meisten wohl von dort bzw. von Waldshut oder Wangen oder anderen von Friedrichshafen nicht weit entfernten Plätzen des schwäbischen Oberlands. Immer wieder begegnen mir, wenn ich unterwegs bin, Reisegruppen aus dieser Gegend oder sogar aus dem Allgäu. In London ist mir das mehrmals bereits passiert, vor dem Parlamentsgebäude, auf der Mall & in der U-Bahn, & auch in Paris & in Pisa & Potsdam, & immer bin ich dann, obgleich das ja keineswegs verwunderlich ist, eine zeitlang auf das unangenehmste berührt & ganz aus meiner Fassung gebracht, etwa so, habe ich mir öfters dabei schon gedacht, wie ein Landesverräter, der plötzlich fürchten muß, daß man ihm auf die Schliche gekommen ist. Sogar ein unvermutetes Zusammentreffen mit leblosen Wiedergängern aus meiner alpenländischen Vergangenheit wie beispielsweise mit diesen Oberstdorfer Jodlern & Trachtlern, die mir unlängst in einem Trödlerladen in Norwich zwischen die Finger geraten sind, ganz als hätten sie dort auf mich gelauert seit Jahr & Tag, selbst so eine an sich ganz unerhebliche Sache kann die seltsamsten Anwandlungen in mir auslösen & mich verunsichern auf eine mir von mal zu mal unbegreiflicher werdende Art.

Lesen

20
Eines der Lieblingsbücher Chatwins waren die Trois Contes Gustave Flauberts und darin besonders die Erzählung vom heiligen Julian, der das blutige Laster seiner Jagdleidenschaft sühnen muß auf einer langen Fahrt durch die heißesten und kältesten Zonen der Erde: Die Glieder frieren ihm fast vom Leib, als er die Eisfelder überquert, und in der Sonnenglut der Wüsten fängt das Haar Feuer auf seinem Kopf. Ich kann keine Seite dieser schreckensvollen, aus der zutiefst hysterischen Disposition ihres Autors entstandenen Geschichte lesen, ohne Chatwin zu sehen, so wie er gewesen ist, ein von panischem Wissens- und Liebesbedürfnis umgetriebener ingénu, der noch mit dreißig Jahren einem Heranwachsenden glich.

Manie

25
der in mir bald nach meiner Einschulung zum Ausbruch gekommenen Erdkundemanie, eines in meiner weiteren Lebensentwicklung stets zwanghafter werdenden Topographismus, dem ich, über Atlanten und Faltblätter jeder Art gebeugt, endlose Stunden geopfert habe.

Melancholie

30
Ich meine, ich könnte von mir selbst nicht behaupten, daß ich der lebensfrohste oder lustigste Mensch bin, dem man seit längerer Zeit begegnet ist, das bestimmt nicht. Aber es ist natürlich auch so, daß der Erzähler des Buches mit mir selbst nicht unbedingt identisch ist, daß es da also auch Trennungslinien gibt. Das heißt, daß ich mich sehr wohl unter Umständen hinwegsetzen kann über die Melancholie, die dem Text zugrunde liegt. In Wirklichkeit läuft das wahrscheinlich so, daß wohl jeder Mensch in seiner tagtäglichen Existenz dieses Gefühl der Schwermut kennt, daß man aber aufgrund des Sozialkontextes, in dem man sich aufhält, diesem Gefühl nicht immer nachgeben kann.
Es ist also tatsächlich ein Versuch, also dieser Figur eine gewisse Identität zu geben, die ich in meinem normalen Leben nicht unbedingt habe. Weil ich ja wohl zwar an einem Nachmittag mich übel befinden mag, aber am Abend wieder ein frohes Gesicht machen muß und so weiter. Also in der Wirklichkeit sind die Bücher ja furchtbare Vereinfachungen dessen, was tatsächlich geschieht, auch dieses Buch [Schwindel.Gefühle.]

Nerven

16
Spürte ich doch in zunehmendem Maß, daß die rings mich umgebende Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen, das Geschick, mit dem man alles bereinigt hatte, mir Kopf und Nerven anzugreifen begann.

19
... und fuhr durch das mir von jeher unbegreifliche, bis in den letzten Winkel aufgeräumte und begradigte deutsche Land. Auf eine ungute Art befriedet und betäubt schien mir alles, und das Gefühl der Betäubung erfaßte bald auch mich.

21
Schaurige Wirkung des Höllentälers auf meine Nerven
Kommt eine farblose Zeit, Du inmitten der Schönheit der Obszönität werden Dich mein Nächte erinnern ein gebleichtes Stück Eis das langsam zergeht

Omen

27
Ich begann meinen Körper zu spüren, den tauben Fuß, die schmerzende Stelle in meinem Rücken, registrierte das Tellergeklapper, mit dem draußen auf dem Gang der Krankenhaustag anhob, und sah, als das erste Frühlicht die Höhe erhellte, wie, anscheinend aus eigener Kraft, ein Kondensstreifen quer durch das von meinem Fenster umrahmte Stück Himmel zog. Ich habe diese weiße Spur damals für ein gutes Zeichen gehalten, fürchte aber jetzt in der Rückschau, daß sie der Anfang gewesen ist eines Risses, der seither durch mein Leben geht

Ordnung

9
Unzweifelhaft ist, daß beide gestorben sind im selben Jahr, 1956, Walser bekanntlich auf einem Spaziergang am 25. Dezember und der Großvater am 14. April, in der Nacht auf Walsers letzten Geburtstag, in der es noch einmal geschneit hat mitten in den schon angebrochenen Frühling hinein. Vielleicht sehe ich darum den Großvater heute, wenn ich zurückdenke an seinen von mir nie verwundenen Tod, immer auf dem Hörnerschlitten liegen, auf dem man den Leichnam Walsers, nachdem er im Schnee gefunden und fotografiert worden war, zurückführte in die Anstalt. Was bedeuten solche Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Korrespondenzen? Handelt es sich nur um Vexierbilder der Erinnerung, um Selbst- oder Sinnestäuschungen oder um die in das Chaos der menschlichen Beziehungen einprogrammierten, über Lebendige und Tote gleichermaßen sich erstreckenden Schemata einer uns unbegreiflichen Ordnung?

Seele

3
Wie unsere Körper und wie unsere Sehnsucht haben die von uns ersonnenen Maschinen ein langsam zerglühendes Herz.

4
Was ich in Kapellen gesehen und gespürt habe, vieles ist in mir geblieben: Die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille.

29
... weiß genau um den aus Identifikationsschmerz und Entfremdung seltsam gemischten Affekt, der darin besteht, daß man im äußersten, aber im Kino oft sich wiederholenden Fall, sich selber sterben sieht.



Sehen

31
Rational gesprochen sehe ich nicht ein, warum ein anderes Wesen, das auf diesem Planeten herumirrt, weniger Lebensrecht haben sollte als wir. Es sind die Machtverhältnisse, die bestimmen, wer eingesperrt und wer gefressen wird, wer frißt und wer einsperrt. Wir sitzen alle ganz oben, als die obersten Parasiten. Hühner rühren mich, sie sind eine seltsame Mischung von etwas Freiem und gleichzeitig Gezähmtem. Das ist das Eigenartige am Federvieh. Früher scharrten die Hühner frei auf dem Hof, heute tun sie das nicht mehr, sie sind eingesperrt. Ja, die Augen sind der empfindlichste Teil eines Menschen oder eines Tiers. Ich habe schreckliche Angst vor jeder Art von Chirurgie. Ich darf gar nicht daran denken, daß ich mich am Star operieren lassen müßte. Dieses Gefühl der Blendung, die Furcht, nicht mehr sehen zu können, hängt wahrscheinlich auch mit Kastrationsangst zusammen. Es gibt eine sehr schöne Geschichte von E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, in der Kindern erzählt wird, daß, wenn sie nicht einschlafen wollen, der Sandmann kommt, ihnen die Augen wegnimmt und in einen großen Sack steckt, um sie der Eule im Mond zu verfüttern. Das sind Alpträume, von denen viele Kinder geplagt werden. Wer Angst hat, versucht sich so klein wie möglich zu machen, weil das Kleine der Aufmerksamkeit entgeht. Auch in den Märchen ist die Verwandlung in unscheinbare Wesen, die Miniaturisierung ins Winzige, eine Perspektive, die eine Chance auf Rettung bietet. Umgekehrt ist alles, was groß, riesig und siegessicher ist, wie die faschistische Architektur, mit Machtausdruck verbunden. Je größer, desto paranoider.

Skrupel

17
Dieser Skrupulantismus bezog sich sowohl auf den Gegenstand meiner Erzählung, dem ich, wie ich es auch anstellte, nicht gerecht zu werden glaubte, als auch auf die Fragwürdigkeit der Schriftstellerei überhaupt. Hunderte von Seiten hatte ich bedeckt mit meinem Bleistift- und Kugelschreibergekritzel. Weitaus das meiste davon war durchgestrichen, verworfen oder bis zur Unleserlichkeit mit Zusätzen überschmiert. Selbst das, was ich schließlich für die 'endgültige' Fassung retten konnte, erschien mir als ein mißratenes Stückwerk.



Störung

2
Eine sonderbare Verhaltensstörung, die jedes Gefühl in Buchstaben verwandeln muß und mit erstaunlicher Präszision vorbeizielt am Leben. Die dem Laster der Schriftstellerei Verfallenen fahren in ihm fort, sogar wenn ihnen die Lust am Schreiben schon längst vergangen ist.

6
Man könnte das Schreiben auch verstehen als eine stets weiter sich forttreibende Zwangshandlung, die beweist, daß der Schriftsteller von allen am Denken erkrankten Subjekten vielleicht das unheilbarste ist.

7
Die Gespaltenheit unserer Sehnsucht und unseres rationalen Lebenskalküls: Der Widerspruch zwischen einer restrospektiven Utopie und dem unweigerlich an den Rand des Abgrunds führenden Fortschritt.

8
Gauklergeschäft des Schreibens: dieses ein wenig ersatzweise Laster, von dem, wer einmal angefangen hat damit, meist nicht mehr loskommt.

18
Überkommt mich heute, wo man zumeist mit einer Vielzahl von Menschen auf das entsetzlichste zusammengezwängt und von der beständigen Betulichkeit des Personals aus der Fassung gebracht wird, nicht selten eine kaum mehr einzudämmende Flugangst, so erfüllte mich damals das gleichmäßige Durchqueren des nächtlichen Luftraums mit einem, wie ich inzwischen weiß, falschen Gefühl der Zuversicht.

23
bemannt Wolf Büttel
Trieb Schäfchen trudelt
Dame Rad quer
Naum Frauen Kirche
Katastrophen offen Porno
Rosa Rosen Jäger
Bärte & Baseball Goldgräber
wiederver

Träume

12
Herr, mir hat es geträumt, die Alexanderschlacht anschaun sei ich eigens nach München geflogen.

13
Also denkt sich Kara Ben Nemsi der Sohn des Deutschen, fließet die Zeit ein rubinrotes von Ziffer zu Ziffer springendes Zeichen verrint sie geräuschlos vom Dunkel der Nacht in das Grauen des Morgens genau wie vordem der Sand durch das Stunden Glas lief

24
Die ganze Republik hat für mich etwas eigenartig Irreales, so ungefähr wie ein nicht enden wollendes Déjà-vu. In England nur gastweise zuhause, schwanke ich auch hier zwischen Gefühlen der Vertrautheit und der Dislokation. Einmal, in einem Traum, wurde ich schon, wie Hebel, gleichfalls in einem Traum, in Paris, als Landesverräter und Hochstapler entlarvt.

22
Du solltest sagen, ich bin ganz dein, nichts als bloß diese Worte, und hast sie auch gesagt, seltsamerweise dich jedoch um keinen Zoll gerührt.
Auf der Heimfahrt Phantasien von einem tödlichen Unfall


Man hinterläßt
Sein Porträt
Ohne Absicht


LL=Logis in einem Landhaus, RS=Die Ringe des Saturn, SG=Schwindel.Gefühle, BU=Beschreibung des Unglücks, NN=Nach der Natur, LW=Über das Land und das Wasser, CS=Campo Santo, AUS=Austerlitz, AW=Die Ausgewanderten

1) LL 7
2) LL 6
3) RS 203
4) SG 204
5) LL 40f
6) LL 62
7) LL 59
8) LL 93
9) LL 137f
10) LL 139
11) BU 24
12) NN 96
13) LW 78
14) CS 25
15) AUS 11
16) AW 338
17) AW 344f
18) AW 219 f
19) SG 287f
20) CS 216
21) LW 54
22) LW 67f
23) LW 90f
24) CS 50
25) CS 241
26) Aufzeichnungnen aus Korsika 177
27) RS 29
28) CS 195
29) CS 197
30) Auf ungeheuer dünnem Eis 69
31)Auf ungeheuer dünnem Eis 73f.