Mit Jacques in Prag (Austerlitz)
- Stadt
- Brücken
- Türme
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... kam darüber zu dem Schluß, daß ich zwar nicht wußte, ob auch ich damals mit der PRAGUE oder ob ich mit einem anderen Schiff nach England gekommen war, daß aber allein die Erwähnung des Namens dieser Stadt in dem jetzt gegebenen Zusammenhang reichte, um mich davon zu überzeugen, daß ich dorthin nun würde zurückkehren müssen.... und bin dann, sofort nach meiner Ankunft auf dem Flughafen ... Ruzyne, ... in die Karmelitska auf der Kleinseite gefahren, wo das Staatsarchiv untergebracht ist in einem sehr sonderbaren, weit in die Zeit zurückreichenden, wenn nicht gar, wie so vieles in dieser Stadt, außerhalb der Zeit stehenden Bau.
... außerhalb der Zeit stehenden Bau.
Man betritt ihn durch eine enge, in das Hauptportal
eingelassene Tür und befindet sich zunächst in einem
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dämmrigen Tonnengewölhe, durch das früher einmal
die Kutschen und Kaleschen hineinrollten in den
von einer verglasten Kuppel üherwölbten, wenigstens
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zwanzig mal fünfzig Meter messenden inneren Hof,
der auf drei Stockwerken umgeben ist von einer Galerie,
über die man Zugang hat zu den Kanzleikammern, durch deren Fenster der
Blick hinabgeht auf die
Gasse, so daß also das ganze, von außen am ehesten
einem Stadtpalais gleichende Gebäude gebildet wird
von vier nicht viel mehr als drei Meter tiefen, um den
Hofraum herum in gleichsam illusionistischer Manier
aufgeführten Flügeln, in welchen es keine Korridore
und Gänge gibt, ähnlich wie man es kennt aus der
Gefängnisarchitektur der bürgerlichen Epoche, in der
sich das Muster der um einen rechtwinkligen oder
runden Hof gebauten, an der Innenseite mit Laufstegen versehenen Zellentrakte
als das für den Strafvollzug günstigste durchgesetzt hat. Aber nicht nur an
ein Gefängnis erinnerte mich der Innenhof des Archivs in der Karmelitská, ... sondern
auch an ein Kloster, an eine Reitschule, ein Operntheater und an ein Irrenhaus,
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Am folgenden Tag bin ich wieder in das Staatsarchiv in der Karmelitská
gegangen, wo ich zuerst ... einige Photoaufnahmen machte
von dem großen Innenhof und dem zu den Galerien hinaufführenden Stiegenhaus, das mich
in seiner asymetrischen Gestaltung erinnerte an die keinem bestimmten Zweck dienenden Turmbauten, die so viele englische Adelige für sich
aufrichten ließen in ihren Gärten und Parks.
... ich weiß nur noch, daß ich unweit der Karmelitzká, in einem kleinen Hotel
auf der Kampa-Insel ein Zimmer genommen habe ...
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... bevor ich den Fluß
überquerte, auf der Kleinseite beginnen sollte, nicht
mehr als zehn Minuten von hier, sagte sie, in der Šporkova, einer kleinen Gasse etwas bergaufwärts vom
Schönbornpalais, in der, nach dem Einwohnerregister
für das jahr 1938, Agata Austerlitzová ihre Wohnung
hatte in dem Haus Nr. 12. Und so ... habe ich, kaum daß ich angekommen war in Prag,
den Ort meiner ersten Kindheit wiedergefunden, von
dem, soweit ich zurückdenken konnte, jede Spur in
meinem Gedächtnis ausgelöscht war. Schon beim Herumgehen in dem Gewinkel der Gassen, durch Häuser
und Höfe zwischen der Vlašská und der Nerudova, und
vollends wie ich, Schritt für Schritt bergan steigend,
die unebenen Pflastersteine der Šporkova unter meinen Füßen spürte,
war es mir, als sei ich auf diesen
Wegen schon einmal gegangen, als eröffnete sich mir,
nicht durch die Anstrengung des Nachdenkens, sondern durch meine so lange betäubt gewesenen und
jetzt wiedererwachenden Sinne, die Erinnerung.
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Zwar konnte ich nichts mit Gewißheit erkennen, doch mußte
ich gleichwohl Mal für Mal einhalten, weil mein Blick
sich verfangen hatte an einem schön geschmiedeten
Fenstergitter, am eisernen Griff eines Klingelzugs oder
im Geäst eines Mandelbäumchens, das über eine Gartenmauer wuchs. Einmal bin ich eine ganze Zeitlang
vor einer Hauseinfahrt gestanden ... und
habe hinaufgeschaut zu einem über dem Schlußstein
des Torbogens in den glatten Verputz eingearbeiteten
und nicht mehr als einen Quadratfuß messenden Halbrelieff, das vor einem gestirnten,
seegrünen Hintergrund einen blaufarbenen Hund zeigte mit einem
Zweig im Maul ...
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Wenn wir zwischen den Birn- und Kirschbäumen über die Wiesenhänge
des Seminargartens gegangen seien oder, an warmen Tagen, durch die schattigeren
Gründe des Parks des Schönbornpalais ...
Wir seien bei unseren Spaziergängen ... über den Seminargarten, die Chotekschen Anlagen
und die anderen grünen Plätze auf der Kleinseite kaum hinausgekommen. Nur manchmal, im Sommer ...
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Nur manchmal, im Sommer, hätten wir mit dem Wägelchen, an dem ... ein buntes Windrädchen befestigt war, etwas weitere Ausflüge unternommen,
bis auf die Sofieninsel, in die Schwimmschule am Moldauufer oder zu der Aussichtsplattform auf dem Petřínberg, von der aus wir wohl eine Stunde
und länger die ganze vor uns ausgebreitete Stadt überschauten mit ihren vielen Türmen , die ich sämtlich auswendig gewußt hätte, ebenso wie die Namen der sieben Brücken
, die den glänzenden Strom überspannten.
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(Panorama Petrinberg )
so sehe ich uns beide ...von dem Aussichtsturm auf dem Petinberg hinabschauen
auf den grünen Hügel, wo sich soeben der Funiculaire gleich
einer dicken Raupe bergaufwärts bewegt, während
weiter draußen, auf der drüberen Stadtseite, zwischen den Häusern am Fuß des Vyšehrad der von
dir immer sehnlich erwartete Eisenbahnzug hervorkommt und langsam, eine weiße Dampfwolke hinter
sich herziehend, die Flußbrücke überquert.
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Manches Mal, wenn das Wetter ungünstig gewesen ist ..., sind wir meine Tante Otýlie besuchen gegangen
in ihrem Handschuhgeschäft an der Šeřiková, das sie
seit der Zeit vor dem Weltkrieg schon führte
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Sobald es draußen heller zu werden begann, habe ich meine Sachen zusammengepackt,
habe das Hotel auf der Kampa-Insel verlassen und bin über die von Frühnebeln umwehte Karlsbrücke,
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... quer durch die Gassen der Altstadt und über den noch unbelebten Wenzelsplatz gegangen,
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... bis hinauf zu dem Hauptbahnhof an der Wilsonova,
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... der, wie es sich zeigte, in keiner Weise der
Vorstellung entsprach, die ich mir nach der Erzählung Věras von ihm gemacht hatte.
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Das einst weit über Prag hinaus berühmte Jugendstilbauwerk war, offenbar in den sechziger Jahren,
umgeben worden mit häßlichen Glasfassaden und Vorwerken aus Beton, und es brauchte einige Zeit,
eh ich über eine ins Untergeschoß hinabführende Taxirampe einen Zugang gefunden hatte
zu der festungsartigen Anlage.
Der in seiner Gesamtheit gar nicht zu überblickende Lagerplatz war in ein rotlilafarbenes,
wahrhaft infernalisches Licht getaucht, das ausging von einer etwas erhöhten, gut zehn mal zwanzig Meter
messenden Plattform, auf welcher in mehreren Batterien gewiß an die hundert, in debilem Leerlauf
vor sich hin dudelnde Spielautomaten standen.
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... Gedächtnistafel, auf der es hieß, daß dieser Bahnhof 1919 zum Andenken an den
freiheitsliebenden amerikanischen Präsidenten Wilson eingeweiht worden sei.
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Als ich die Tafel entziffert und dem Beamten, der bei mir stehengeblieben war, dankend zugenickt hatte,
führte er mich um ein paar weitere Ecken herum und über einige Stufen auf eine Art Mezzanin,
von dem aus man emporblicken konnte in den mächtigen Kuppeldom des vormaligen Wilsonbahnhofs,
oder vielmehr nur in die eine Hälfte dieser Kuppel, denn die andere Hälfte war sozusagen weggeschnitten
durch die in sie hineinragende neue Konstruktion.
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Entlang dem Halbrund des Kuppelsaums verlief eine Galerie,
auf der Kaffeehaustischchen aufgestellt waren. Dort bin ich, nachdem ich mir eine Fahrkarte nach
Hoek van Holland gekauft hatte, bis zur Abfahrt meines Zuges noch eine halbe Stunde gesessen
und habe versucht zurückzudenken durch die Jahrzehnte, mich zu erinnern, wie es war ...
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Desto mehr erstaunte, ja erschreckte es mich, daß mir wenig später, als ich unmittelbar vor der Abfahrt
des Zuges um sieben Uhr dreizehn aus dem Gangfenster meines Waggons blickte, in vollkommener,
auch nicht den geringsten Zweifel zulassender Evidenz aufging, daß ich das aus Dreiecken,
Kreisbogen, waag- und senkrechten Linien und Diagonalen sich zusammenfügende Muster der Glas-
und Stahlüberdachung der Bahnsteige schon einmal im gleichen Halblicht gesehen hatte,
und wie der Zug nachher unendlich langsam aus dem Bahnhof hinausrollte, durch einen Korridor zwischen
den Rückseiten mehrstöckiger Wohnhäuser in den schwarzen, die Neustadt unterquerenden Tunnel
hinein und dann mit gleichmäßigem Klopfen über die Moldau, da war es mir wirklich, als sei die Zeit
stillgestanden seit dem Tag meiner ersten Abreise aus Prag. Es war ein dunkler, bedrückender Morgen.
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Nachtrag September 2011
(hätte Austerlitz sich das träumen lassen?):
PPS:
2013 Václav Klaus wegen Hochverrats angeklagt ...
Verfahren nicht eröffnet
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