als sänke man langsam zum Meeresgrund
Manfred Poser, 15. Dezember 2006:
Seit fünf Jahren schreibt uns Sebald nichts mehr. Der Roman Austerlitz ist sein großes Vermächtnis. Wenn man ihn liest, wird einem, als sänke man langsam zum Meeresgrund, und mein Freund Fritz Schütte hat das so empfunden: Wenn man Sebald lese, meinte er, habe man das Gefühl, die Zeit vergehe langsamer. W. G. Sebald wurde am 18. Mai 1944 in Wertach im Allgäu geboren und entschwand als junger Mann nach England, wo er drei Jahrzehnte an der University of East Anglia in Norwich Literatur lehrte. Am 14. Dezember 2001, vor fünf Jahren, ist er bei einem Autounfall in England ums Leben gekommen, 56 Jahre alt. Herzinfarkt am Steuer.
Immerhin hatte er noch die enthusiastische Aufnahme seines Romans miterlebt, galt sogar als Kandidat für den Literaturnobelpreis, und knapp einen Monat vor seinem Tod hielt er die Rede zur Eröffnung des Stuttgarter Literaturhauses. Dort war bis Mitte November eine Ausstellung der Maler Tripp (Vater und Sohn) zu sehen, und die erste Ausstellung in dem Haus überhaupt hieß Unerzählt – Bilder von Jan Peter Tripp (Sohn) zu Texten von W. G. Sebald, der sich gerne "Max" nennen ließ. Er war ein melancholischer, zerquälter Mensch, der unter der Hässlichkeit litt, die der Mensch über seinen Planeten bringt, unter der Geschichte, dem Grauen.
Er schreibt präzise, mit Abschweifungen und Einschüben und Aufzählungen (wie schön sind diese Namen im Sprachuniversum), mit lang dahinschwingenden Sätzen, die auch viele Zeilen lang werden können. Er hat in Archiven recherchiert und immer etwas zu erzählen, und seinen Büchern sind eigene Schwarz-Weiß-Fotografien beigegeben. So hat er Sprache und Geschichte aufgehoben, sie wie unter Bernstein eingeschlossen. Wie schön er schreibt! Wie er Landschaften schildert! Ich erinnere mich, wie ich einmal, nachdem ich ein paar Seiten von ihm gelesen hatte, meinen gewohnten Radweg im Norden von Rom abfuhr und nun Häuser und Uferstreifen und Gehölz sah und Dinge, die mir vorher nie aufgefallen waren! Mein Bewusstsein war geweitet, mein Blick richtete sich in die Ferne, und der Wunsch, die Welt sprachlich zu bannen, schloss sie sich mir optisch auf.
Ende September bin mit dem Rennrad nochmals nach Wertach gefahren. Gut dreißig Jahre war ich nicht mehr in W. gewesen, schrieb Sebald 1994 in Il ritorno in patria (Schwindel. Gefühle). Auch beim Engelwirt, wo wir im ersten Stockwerk mehrere Jahre hindurch zur Miete gewohnt hatten, schaute ich vorbei. Ich wollte dort einen Apfelstrudel essen, der auch auf einem Schild feilgeboten wurde; es war drei Uhr, und der leibhaftige Engelwirt sagte, nicht sehr freundlich, aufgemacht werde erst um fünf. Die Allgäuer sind rauhe Gesellen, Leute vom Bergland, die Fremde erst einmal skeptisch beäugen. Davor floh Sebald.
Wie viele Autoren war er immer nah am Verstummen. Jetzt aber war mir - erzählt der Protagonist Austerlitz - das Schreiben so schwer geworden, dass ich oft einen ganzen Tag brauchte für einen einzigen Satz ... Immerzu dachte ich nur, so ein Satz, das ist nur etwas vorgeblich Sinnvolles, in Wahrheit allenfalls Behelfsmäßiges, eine Art Auswuchs unserer Ignoranz, mit dem wir, so wie manche Meerespflanzen und -tiere mit ihren Fangarmen, blindlings das Dunkel durchtasten, das uns umgibt.
-->
|