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Bildschirmschoner.Phantom.

Das Foto von Orford in den Ringen des Saturn stellt tatsächlich nicht(?) den Blick vom Orford Castle dar. Aber wir können sagen, ein Bild "good enogh". Mit den rau behauenen Steinen in der linken unteren Ecke überzeugt uns der Autor, dass er auf den Stufen der Burg stand. Wir haben keinen Grund, zu argwöhnen, es sei nicht Orford Castle.
Oder etwa doch?
Sebald macht oft von diesen historisch-geografischen Irreführungen Gebrauch - viele haben darauf hingewiesen. Ist er nur ein schlampiger Archivar? Tägliche Ausflüge inner- und außerhalb von Friedhöfen vernebeln des Forschers Erinnerung. Oder kannte er doch ganz genau Ort und Entstehung der falschen Bilder? Und - falls das so ist, muss er gewusst haben, dass diese Farce vor sich selbst nicht durchzuhalten ist. Sind diese falsch platzierten Fotos eine Art Morse-Code für den gebildeten Scholar, den leidenschaftlich Reisenden, oder den ahnungslosen Gelehrten auf dem Weg durch die verschiedenen Sebald-Welten? Oder einfach seine Vorliebe, visuelle Minen in seiner Prosa auszulegen, absichtlich diese "good enough"-Bilder überall zu streuen, um die von willigen Lesern ihm zuerkannte wahre Autorität zu untergraben. Denn ist es nicht wahr, dass gerade der naive Leser nicht völlig ahnungslos ist bezüglich dieser Differenzen - Sebalds Texte stimmen häufig nicht mit den begleitenden Visualisierungen überein. Sehr häufig wundert sich der Leser, ob der Autor schlampig hinschaut - kann er nicht sehen, dass es nur zwei Perlenstränge sind, wo er behauptet, es seien drei?
Jedoch, Sebald macht deutlich, und wir wissen es, welch scharfen Blick er hat.
Er vermag Szenen mit derartiger Detailgenauigkeit schildern, um es mit den nordeuropäischen Malern, die er so oft zitiert, aufzunehmen. Man muss sich nur seine Beschreibung von Ruisdaels Blick auf Haarlem ins Gedächtnis rufen.

Jacob Isaackszoon van Ruisdael Die Bleichen bei Haarlem

Durch Sebalds Schilderung entdecken wir das Bild neu, sehen uns eine Nasenlänge davor auf das Bild schielen und die Leute auf den Bleichfeldern zählen. Kein Platz für Schlamperei. Aber gerade wie die visuellen Fehler unsere Aufmerksamkeit fesseln, könnte es sein, diese "good enough"-Bilder tun das ebenso, sprechen mit niederer Frequenz, lassen uns dadurch zweifeln, dass es mit rechten Dingen zugeht unter der Oberfläche, machen uns hinter dem ins Auge Fallenden Glauben, die Wahrheit sei nicht auf diesem Bild vor uns zu finden - und zwar die, nach der wir suchen in den Ringen des Saturn, sondern außerhalb unserer (reinen) Sichtwiese, oder die, die wir dachten, gefunden zu haben in einem seiner Bücher, aber jetzt nicht finden können, oder die, die wir schon in der Zeitung gelesen zu haben glaubten, oder die er in der Tasche gehabt haben muss, und die er, oh, soviel wir auch trauern mögen, mit in sein Grab genommen hat.

Conclusio:
Archive erzeugen Archive.
Digitales Bildmaterial herzustellen, ist die mühsame Arbeit der Forscher. Image 10.16.04-27

brachte anfangs keine der Gegenden, die wir besuchten, in Erinnerung. Die riesige Ausdehnung des wüsten Felds und das einzige Gebäude am Horizont kamen uns undeutlich vertraut vor. Computer mit Müdigkeit gemischt können Bildschirmschonerphantome hervorbringen. Und so müssen wir bekennen, die meisten überraschenden Ergebnisse unserer Sebald-Feldforschung wurden gefördert durch Schlafmangel. Was dort auf dem Bildschirm zunächst wie ein schlechtes Bild eines vergessenen Orts auftauchte, rückte plötzlich in den Mittelpunkt als - wir können nur spekulieren - Sebalds Lieblingsbild. An den Küsten von Orford waren wir nicht in der Lage, zu erkennen, was unsere Kamera als Bild 10.16.04-27 eingefangen hatte. Auf unserem Computer-Bildschirm, nach einem Klick auf die Leertaste, erwachte das Bild aus seinem "Schlaf", war Sebalds Bild von Heimat.

Wir nannten die Datei "Sebald_s_Home.pict" und es war, als ob der Tastenklick uns daran erinnerte, dass Visionen nicht immer stumm sind, zum ersten Mal hörten wir die Sprache des Fetischisten in der Beschreibung Sebalds von Ruisdaels Malerei - den riesigen, zwei Drittel des Bildes einnehmenden Wolkenhimmel, die Stadt, die bis auf die alle Häuser überragende St. Bavokathedrale kaum mehr ist als eine Art Ausfransung des Horizonts, die dunklen Buschen und Gehölze, das Anwesen im Vordergrund und das lichte Feld, auf welchem die Bahnen der weißen Leinwand auf der Bleiche liegen und wo, soviel ich zählen konnte, sieben oder acht kaum einen halben Zentimeter große Figuren bei ihrer Arbeit sind. Wir stellen uns Sebald vor, wie er die Postkarte aus dem Mauritshaus-Gift-Shop studiert und jeden Zentimeter der Malerei Ruisdaels mit seinem Blick streichelt, wie er die meisterhafte Bildbeschreibung verfasst. Aber wir wissen jetzt auch, diese Beschreibung war nur ein Trick des Autors zusammen mit all den Fotos von der Insel und der irreführenden Ansicht von Orford castle, um den Screen zu erstellen. Sebald gab uns das "good enough"-Foto von Orford - eines, das aussah wie es war, aber es war es nicht - geschossen von Orford castle, weil er das eigentliche Bild von Orford nie aus der Hand gab.
Der Fetischist braucht seinen Fetisch.
Ist es dieses Bild von Sebald, wie er sein Foto von Orford macht, dass uns noch immer verfolgt, wir, die wir - jeder selbst ein Verbannter - des Autors Suche nach Heimat so gut verstehen. Hat Sebald auch der Geruch der toten Fische aus dem Konzept gebracht, als er da stand und starrte auf die Burg am Horizont? War er etwa zu diesem Zeitpunkt zu dem "obsessiven Fotografen" geworden, als den ihn einer seiner Kollegen nach seinem Tod apostrophierte, der alle paar Minuten stehen blieb, um Fotos einer versteckten Wahrheit zu machen, die "immer anderswo zu finden ist"? Hatte er die schwer zu begreifende Wahrheit akzeptiert, dass die Kamera mehr sehen kann als wir? Oder, am wichtigsten, sah Sebald Sebald_s__Home.pict genau wie wir, kaum dass er Orford verlassen hatte?
Die Antwort auf diese Frage macht uns unsäglich traurig.

Auszug aus "Searching for Sebald" S. 506f

Siehe auch Ruisdael