Jedenfalls haben sich in den paar Tagen, die ich auf der Insel verbrachte und während derer ich mehrere
Stunden im Fenster des Rousseauzmmers gesessen bin, nur zwei der Ausflügler, die zum Spazierengehen und
Brotzeitmachen auf die Insel herüberkommen, in die spärlich bloß mit einem Kanapee, einem Bett, einem Tisch
und einem Stuhl möblierte Kammer verirrt, und auch diese beiden sind, offenbar enttäsucht von dem
wenigen, das es da zu sehen gab, gleich wieder gegangen.
Keiner von ihnen hat sich über die Glasvitrine gebeugt, um die Schriftzüge Rousseaus zu entziffern,
keiner hat bemerkt, daß die bleichen, bis zu zwei Fuß breiten Fichtenbretter des Bodens gegen die Mitte
des Zimmers so abgetreten sind, daß sie eine flache Kuhle bilden, und daß die Stellen um die harten Äste
herum beinahe einen Zoll herausstehen aus dem übrigen Holz.
Keiner ließ seine Hand über den glatt geschliffenen Spülstein im Vorraum gleiten, nahm den rußigen Geruch wahr, der immer noch um die Feuerstelle hängt, und keiner warf einen Blick aus dem Fenster, von dem aus man über den Obstgarten und eine Wiese auf das Südufer hinuntersieht.
Mir aber war es in dem Rousseauzimmer, als sei ich zurückversetzt in die vergangene Zeit, eine Illusion, auf die ich umso leichter mich einlassen konnte, als auf der Insel dieselbe, von keinem noch so fernen Motorgeräusch gestörte Stille herrschte wie überall auf der Welt vor hundert oder zweihundert Jahren. Besonders gegen Abend, wenn die Tagesausflügler wieder heimgekehrt waren, tauchte die Insel ein in eine Ruhe, wie es sie sonst im Umkreis unserer Zivilisation fast nirgends mehr gibt, und in der nichts mehr sich rührte außer vielleicht die Blätter der mächtigen Pappeln in den Brisen, die manchmal entlangstrichen am See.
Immer heller wurden die mit feinem Kalkschotter befestigten Wege, als ich in der zunehmenden Dämmerung auf ihnen dahinging, vorbei an umzäunten Weiden, an einem blassen, reglosen Haberfeld, an einem Weinberg und einem Winzerhäuschen bis hinauf zu den Böschungen am Rand des schon nachtschwarzen Buchenwalds, von wo aus ich die Lichter angehen sah, eines ums andere am jenseitigen Ufer.
Die Dunkelheit schien aus dem See aufzusteigen, und einen Augenblick lang tauchte in mir, wie ich so hinabschaute, ein Bild auf, das etwa einer Farbtafel in einem alten Naturkundebuch glich und das, freilich um vieles schöner und genauer als solch ein kolorierter Druck, zahlreiche Seefische zeigte, wie sie schlafend in den tiefen Strömungen
standen zwischen den finsteren Wänden des Wassers, hinter- und übereinander, größere und kleinere, Rotaugen und Rotfedern, Elritzen und Lauben, Haseln und Hechte,
Saiblinge und Forellen, Welse, Zander und Barben und Schleien und Äschen und Karauschen.
Manche dieser Besucher haben mit dem Federmesser ihre Namen oder Initialen und das Datum ihres Besuchs in die Türopfosten und in die Sitzbank in der Fensternische des Rousseauzimmers geschnitten, und gerne möchte man, wenn man mit dem Finger die Kerben im Holz nachfährt, wissen, wer sie gewesen und wohin sie gegangen sind.
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Flora Petrinsularis
Ich machte mich daran, eine Flora Petrinsularis zu schaffen, ausnahmslos alle Pflanzen zu beschreiben und mit mit soviel Einzelheiten, dass ich für den Rest meiner Tage damit zu tun haben würde. Ein Deutscher soll ein Buch über eine Zitronenschale geschrieben haben. Ich hätte über jede Gräserart, jedes Moos im Walde, jede Gesteinsflechte eines verfassen können.
Kein Halmfäserchen, nicht ein Pflanzenatom sollte sich meiner Beschreibung entziehen. Diesem Vorhaben entsprechend suchte ich jeden Tag nach dem gemeinsamen Frühstück mit der Lupe in der Hand und dem Systema Naturae unter dem Arm einen Abschnitt der Insel ab. Ich hatte diese nämlich für meinen Zweck in kleine Gevierte aufgeteilt, die ich zu jeder Jahreszeit nacheinander zu durchstöbern gedachte.
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