Gastone Novelli
(W. G. Sebald: Austerlitz S. 38ff)


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Der erfundene Novelli

... denn erst - so beginnt die Biografie Novellis - ein paar Jahre später las ich bei Jean Amery von der furchtbaren Körpernähe zwischen den Peinigern und den Gepeinigten, von der von ihm in Breendonk ausgestandenen Folter, in welcher man ihn, an seinen auf den Rücken gefesselten Händen, in die Höhe gezogen hatte, so daß ihm mit einem, wie er sagt, bis zu dieser Stunde des Aufschreibens nicht vergessenen Krachen und Splittern die Kugeln aus den Pfannen der Schultergelenke sprangen und er mit ausgerenkten, von hinten in die Höhe gerissenen und über den Kopf verdreht geschlossenen Armen in der Leere hing: la pendaison par les mains liées dans le dos jusq'à évanouissement — so heißt es in dem Buch Le Jardin des Plantes, in dem Claude Simon von neuem in das Magazin seiner Erinnerungen hinabsteigt und wo er, auf der zweihundertfünfunddreißigsten Seite, die fragmentarische Lebensgeschichte zu erzählen beginnt eines gewissen Gastonc Novelli, der wie Améry dieser besonderen Form der Tortur unterzogen wurde. Dem Bericht voran steht eine Eintragung vom 26. Oktober 1943 aus dem Tagebuch des Generals Rommel, dahingehend, daß man, aufgrund der völligen Machtlosigkeit der Polizei in Italien, jetzt selber dort das Heft in die Hand nehmen müsse. Im Zuge der daraufhin von den Deutschen eingeleiteten Maßnahmen wurde Novelli, so Simon, festgenommen und nach Dachau verbracht. Auf das, was ihm dort widerfuhr, sei Novelli ihm gegenüber, so Simon weiter, nie zu sprechen gekommen, außer dem einzigen Mal, da er ihm sagte, daß er nach seiner Befreiung aus dem Lager den Anblick eines Deutschen, ja den eines jeden sogenannten zivilisierten Wesens, gleich ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, so wenig zu ertragen vermochte, daß er, kaum halbwegs wieder hergestellt, mit dem erstbesten Schiff nach Südamerika gegangen sei, um sich dort als Diamanten- und Goldsucher durchzubringen. Eine Zeitlang lebte Novelli in der grünen Wildnis bei einem Stamm kleiner, kupfrig glänzender Leute, die eines Tages, ohne daß auch nur ein Blatt sich gerührt hätte, neben ihm aufgetaucht waren wie aus dem Nichts. Er nahm ihre Gewohnheiten an und stellte, so gut es ging, ein Lexikon ihrer fast nur aus Vokalen und vor allem aus dem in unendlichen Variationen betonten und akzentuierten Laut A bestehenden Sprache zusammen, von der, wie Simon schreibt, an dem Institut fur Sprachwissenschaft in São Paulo nicht ein einziges Wort verzeichnet ist. Später, in sein Heimatland zurückgekehrt, begann Novelli mit dem Malen von Bildern. Das Hauptmotiv, dessen er sich dabei in immer neuen Ausprägungen und Zusammensetzungen bediente — filiform, gras, soudain plus épais ou plus grand, puis de nouveau mince, boiteux -, war das des Buchstabens A, den er in die von ihm aufgetragene Farbfläche hineinkratzte, einmal mit dem Bleistift, dann mit dem Pinselstiel oder einem noch gröberen Instrument, in eng in- und übereinander gedrängten Reihen, immer gleich und doch sich nie wiederholend, aufsteigend und abfallend in Wellen wie ein lang anhaltender Schrei.

Der wahre Novelli




Novelli (1925 bis 1968) wird in Wien in eine jüdische Familie geboren und geht in Italien zur Schule. Im Zweiten Weltkrieg schließt er sich der Resistenza an und muss dem Tod in die Augen schauen, wird im Oktober 1943 verhaftet, gefoltert und zum Tode verurteilt, am 3. Juli 1944 befreit. 1947 und 1949 hält er sich in Zürich auf, promoivert in Politik- und Sozialwissenschaften und beginnt zu malen. Er trifft Max Bill, erste Grafiken entstehen. Er arbeitet auch in Keramik, Fotografie, Collagen, Plexiglas und Drahtkonstruktionen. Von 1950 bis 1954 ist er Dozent für Design und Komposition in São Paulo. Beeinflusst von Enrico Prampolino wendet er sich zu Beginn der 1950er Jahre dem neokonkreten Stil zu. Ein weiterer wichtiger Weggefährte ist Achille Perilli, mit dem ihn ab 1950 eine enge Freundschaft verbindet. Seine Experimentierfreudigkeit führt Novelli vom Bereich der geometrischen Abstraktion zu einer informellen Formensprache.
1951, 1953, 1964 und 1968 Teilnahme an der Biennale di Venezia, wo er - 1968 - in einem eigenen Raum ausstellt. Als am Tag der Eröffnung die Polizei die Ausstellung stürmt, schließt er aus Protest seinen Saal - wie viele andere Künstler, und schreibt auf die Rückwand eines seiner Bilder - die anderen hat er alle zur Wand gedreht: "La Biennale è fascista".
Seit 1955 in Rom, wo er u. a. Afro, Corrado Cagli, Enrico Prampolino, Achille Perilli und Cy Twombly kennenlernt. Reisen führen ihn nach Paris, wo er Man Ray, Tristan Tzara und Andre Masson trifft, und 1962 nach Griechenland. Seine Eindrücke hält er in einem gezeichneten Reisetagebuch fest. 1967 in Venedig; im Oktober erhält er einen Lehrauftrag der Accademia di Belle Arti di Brera in Mailand, den er, weil er im Dezember an den Folgen einer Schilddrüsenoperation stirbt, nicht beenden kann.
In den 1950er und 1960er Jahren gehört Novelli zu den wichtigsten Künstlern seiner Zeit. Zusammen mit Cy Twombly setzt er sich mit Schrift und Dripping-Malerei auseinander: Über dicke Farbschichten sind zarte Schlieren getröpfelt und Worte eingefügt. In Novellis informeller Formensprache verdichten sich die Elemente zu einer neuen Einheit. Übereinandergeschichtete Farbe, unregelmäßig abgekratzt, durch Schrift und durchscheinende Leinwand durchbrochen, erzeugen einen poetischen Gesamteindruck.
2005 versteigert Sotheby das Bild Per una rivoluzione permanente (Per Lev Trotzky) von 1965 für gut 270.000 € ...


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Un mondo multiforme
1961, ein fast expressionistisches Schriftbild,
das manche Einflüsse erkennen lässt,
sich aber auch durch eine höchst eigenständige Gestaltung von Fläche,
Raum und sinnstiftenden Zitaten auszeichnet.


Il Grande Linguaggio
1963


Con un Segnale


Paura Clandestina
1959


Perché non se ne parli più
1958


Goldbrille
1968


The Man who Drowns in his Own Blood
1968


L'Oriente risplende in Rosso
1967


L’alfabeto di un naufragio
1967


ohne Titel
1961

Dieses A als Schmerzensschrei, der bei Novelli als einziges von der Sprache übrig bleibt, durchzieht Austerlitz. Unendlich viele Personen- und Ortsnamen beginnen mit diesem Buchstaben, und auch die sternförmigen Festungen können als eine Reihe von A's gelesen werden.

So ist die Verbindung der Namen Améry und Austerlitz mit dem Bild/Schrei AAAAA Novellis Leitmotiv im Buch. AAA ist nicht nur der Schrei Novellis unter der Folter, sondern auch ein Ausdruck des Erzählers für seine eigene über Seiten kommentierte Sprachlosigkeit angesichts der Festung Breendonk.
Sebald hat die Spuren der Fiktionalität von Simons Text bei seiner Übernahme getilgt und täuscht die Biografie Novellis als wahre Lebensgeschichte vor, ebenso stellt er den Erzähler Simon als solchen dar und führt im Zuge seiner Beglaubigungsstrategie die genaue Seitenangabe des angeblichen Passus an, obwohl er andere Auszüge, Streichungen und Veränderungen vornimmt. Er verkürzt Novellis ganzes malerisches Werk auf die Serie der A's.












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