Es war, als die Dunkelheit
einbrach, und weit unter mir
sah ich das Dach meines Hauses,
sah die Schatten sich legen
über die ostenglische Landschaft,
den Saum der Insel sah ich,
die Wellen auflaufen am Sand
und in der Nordsee die Schiffe
unbeweglich vor ihrer schaumweißen Spur.
So, wie ein Rochen schwebt in der Tiefe
des Meeres, so glitt ich lautlos,
kaum einen Flügel rührend,
hoch über die Erde hin. Nach der Natur
Sebalds Muse
Sebalds Muse hieß Melancholie, und seine Prosa umgibt eine stille Extremität, die mit solch
unaufdringlicher Eleganz vorgetragen wird, dass der Leser oft erst im Nachhinein erkennt,
an welche Abgründe er gerade herangeführt wurde.
Gegensätze sind darin so kunstvoll verwoben,
Worte so sorgsam gewählt, Satzkadenzen so meisterlich austariert, dass Dinge, die an sich nicht
zusammengehen, allein mittels Sprache eine notwendige Paarung bilden: Ein Fisch ist ein Vogel.
Ein Ozean eine Einfallstraße. Eine Stadt ein Flammenmeer, jeder Passant in ihr vielleicht ein
Wiedergänger aus weit entfernten Zeiten. Diesen mit gängiger Logik nicht beizukommenden
Gleichungen lässt sich nur Sinn entlocken durch ein aus der Mode gekommenes
Analogiedenken und eine Metaphorik der Lücke, die von dem erzählt, was ungesagt bleibt.
Unerzählt ist auch der Titel eines posthum erschienenen Gemeinschaftswerks zwischen
Sebald und dem Maler Jan Peter Tripp, die seit ihrer Schulzeit in Oberstdorf eine enge
Künstlerfreundschaft verband. Die Prosaminiaturen bilden darin ein komplementäres
Ganzes mit Tripps fotorealistischen Gemälden, die ebenso kunstvoll in die Texte eingewebt
sind wie die meist historischen Fotografien in Sebalds Erzählungen und Romanen.
Wie ein roter Faden zieht sich durch sein Werk eine »Aufhebung« der Zeit im doppelten Sinn:
einerseits das Bewahren, andererseits das Transzendieren jener weitaus künstlichsten menschlichen
Erfindung, wie die Titelfigur in »Austerlitz« bemerkt. Zumindest kraft der Sprache wird die Zeit
aufgehoben in jenen Passagen, in denen Sebald sich mit ans Schwerelose grenzender
Leichtigkeit in der Zeit vor- und zurückbewegt und so in Fahrwasser vordringt,
in denen andere Gesetze als der Fluss der Zeit walten. Er öffnet Schleusen
zu einer Welt hinter der Welt, und wir folgen ihm wie Schwemmgut den Gezeiten
weiter und weiter hinaus aufs uferlose Meer der Melancholie ...
Am 14. Dezember 2001 kommt W.G. Sebald in East Anglia bei einem Autounfall,
erlitten infolge eines Infarkts der Koronargefäße, ums Leben. Seine Tochter, die
er zum Flugzeug hatte bringen wollen, überlebt schwer verletzt.
In der literarischen Welt hinterlässt sein Tod eine Lücke, die nichts zu schließen
vermag, nichts außer das Andenken an einen Meister und sein Werk.
Matthias Fersterer, oya 11/2011
Michael Sethe meint, die Forschung habe häufig den Hinweis Sebalds übersehen, er sei
Anhänger archaischer Denkweisen. Eine Untersuchung dieser Denkweisen zeige, dass Sebald
einer Realitätsauffassung anhing, die archaisch und mit der heutigen,
nachsokratischen Realitätsauffassung nicht vereinbar, sondern
kulturell mit der Melancholie überliefert worden sei.
Michael Sethe: W.G. Sebald und die Melancholie, 2021