Gottfried Keller:
Ideale Baumlandschaft 1849
Bleistift und Aquarell, 34 * 47,4 cm
Logis in einem Landhaus S. 112, 123
Im grünen Heinrich tritt Ludwig Feuerbach als "himmelsstürmerischer Philosoph" auf, der "gleich einem Zaubervogel den Gott aus der Brust von Tausenden hinwegsang".
1848/49 hat Gottfried Keller in Heidelberg Ludwig Feuerbachs Vorlesungen zum "Wesen der Religion" gehört und ließ dann in dessen Gefolge von seinem Unsterblichkeitsglauben ab. So erschien ihm die Welt "unendlich schöner und tiefer, das Leben wertvoller und intensiver, der Tod ernster, bedenklicher und fordert mich nun erst mit Macht auf, meine Aufgabe zu erfüllen, da ich keine Aussicht habe, das Versäumte in irgendeinem Winkel der Welt nachzuholen".
Feuerbach beeinflusst Kellers Leben aber auch in der Liebe. Des Dichters Zuneigung zu Johanna Kapp (1824-1883), künstlerisch begabte Tochter des Heidelberger Politikers und Philosophieprofessors Christian Kapp und Schauspielerin, endet unglücklich, denn diese ist seit langem in Feuerbach verliebt.
»Betrachtete man«, schreibt Heinrich Lee, »das Wirrsal genauer, so entdeckte man
den löblichsten Zusammenhang und Fleiß darin, indem es in einem fortgesetzten Zuge von Federstrichen und
Krümmungen, welche vielleicht tausende von Ellen ausmachten, ein Labyrinth bildete, das vom Anfangspunkte
bis zum Ende zu verfolgen war. Zuweilen zeigte sich eine neue Manier, gewissermaßen eine neue Epoche der
Arbeit; neue Muster und Motive, oft zart und anmutig tauchten auf, und wenn die Summe von Aufmerksamkeit,
Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit, welche zu dem unsinnigen Mosaik erforderlich war, auf eine wirkliche Arbeit
verwendet worden wäre, so hätte ich gewiß etwas sehenswertes liefern müssen. Nur hier und da zeigten sich
kleinere oder größere Stockungen, gewisse Verknotungen in den Irrgängen meiner zerstreuten gramseligen Seele,
und die sorgsame Art, wie die Feder sich aus der Verlegenheit zu ziehen gesucht, bewies, wie das träumende
Bewußtsein in dem Netze gefangen war. So ging es Tage und Wochen hindurch, und die einzige Abwechslung,
wenn ich zu Hause war, bestand darin, daß ich mit der Stirne gegen das Fenster gestützt den Zug der Wolken
verfolgte, ihre Bildung betrachtete und indessen mit den Gedanken in der Ferne schweifte.«
Die Beschreibung des hochgradig melancholischen Kritzelwerks erinnert an die blauen Papierbögen, die Keller, als er in Berlin an seinem Bildungsroman saß, zur Unterlage benutzte und auf die er den Namen seiner unerwiderten Liebe in langen verschlungenen Linien, Spiralen, Kolonnen und Schlaufen in vielhundertfacher Variation festgehalten hat - Betty Betty Betty, BBettytybetti,bettibettibetti, Betty bittebetti heißt es da in jeder nur denkbaren kalligraphischen und gesudelten Ausformung.
Und außer und zwischen diesen fünf, sechs Buchstaben ist
nichts als hier und da eine Skizze von einer gleichfalls
Betty überschriebenen Pforte zu einem ummauerten Gärtchen,
ein Betty-Spiegel,
ein Betty-Zimmer und
eine Betty-Uhr und daneben noch
ein Sensenmännchen und daneben noch
ein anderes Knochengerippe, das auf der Fidel spielt,
ein Totenglöckchen und
eine Art winziges Wappen, in dem man, durch das Vergrößerungsglas,
etwas erkennen kann, das aussieht wie ein von Nadeln durchbohrtes Herz.
Die Kunst des Schreibens ist der Versuch, das schwarze Gewusel, das überhand zu nehmen droht, zu bannen im Interesse der Erhaltung einer halbwegs praktikablen Persönlichkeit. Lange Jahre hat Keller sich dieser schweren Bemühung unterzogen, obwohl er früh schon wußte, daß sie letztendlich nichts verschlug. Der »ziemlich melancholische und einsilbige Amtsmann«, der zum Schluß seines Romans sagt, daß nichts mehr die Schatten aufhellen kann, die seine ausgeplünderte Seele erfüllen, ahnt bereits, daß auch die beste Anordnung der Buchstaben und Sätze und die Großzügigkeit, die er gegen seine Geschöpfe bewies, auf die Dauer kaum etwas vermögen gegen das Gewicht der Enttäuschung. Seine Laufbahn überblickend fühlt er, daß dies alles »kein Leben hieß und so nicht fortgehen könne«. Er spricht von einer neuen Gefangenschaft des Geistes, in die er geraten sei und brütet, wie er herauskommen könne aus ihr, aber so ausweglos erscheint ihm seine Lage, daß bisweilen und immer vernehmlicher, wie er sagt, sich der Wunsch in ihm regt, nun gar nicht mehr da zu sein.
Lässt man sich ein auf den großen, blauen, einmal gefalteten Papierbogen, den Keller im Frühjahr 1855 in Berlin auf allen vier 'Seiten' in allen Richtungen aus allen Perspektiven mit allen Mitteln vollschrieb und -zeichnete, beginnt der Boden zu schwanken.
Ist es überhaupt eine Schreibunterlage?
Was wurde auf ihr (nicht) geschrieben?
Wie vermitteln sich Leben, Schreibunterlage und Schreiben?
Warum bewahrte Keller das nach seinem Tod als Ms.GK8b in der Zentralbibliothek Zürich archivierte Dokument einsamer Vergeblichkeit ein Leben lang auf?
Was 'bedeutet' der Wirbel der Zeichen, Zahlen, Worte, Bilder?
Ist es ein psychologisches, psychiatrisches, biographisches, literarisches, künstlerisches Dokument? écriture automatique, Triebabfuhr, kolossale Kritzelei à la Heinrich Lee, chinesischer Tempel à la Veit/Emanuel (in den "Drei gerechten Kammmachern"), Parergon, Paralipomenon, Palimpsest, dispositif, différance, désir, Prätext, Metatext, Subtext, Werk?? Wie lesen??? Was lesen????
Wenig bekannt ist, dass Gottfried Keller in frühen Jahren ebenfalls Maler werden wollte. Heroische Landschaften, aber auch skurrile
Skelette, Totenköpfe oder geschwänzte Teufel bevölkern seine Bildwelt. Der Dichter kann sich jedoch erst entfalten, nachdem der
Maler gescheitert ist. Die Art und Weise, mit der Keller sein intensives Verhältnis zur Natur, seine beklemmenden Seelenzustände
und seinen kritischen Blick auf Politik und Religion visuell zum Ausdruck bringt, hinterlässt deutliche Spuren in seiner Literatur.
Künstlerische und persönliche Identitätssuche, radikale Brüche, Rebellion gegen Autoritäten und existenzielle Konflikte in der Familie, Freundschaften und unerwiderte Liebe spielen eine große Rolle.
Keller, im Alter von fünfzehn Jahren von der Schule verwiesen, fasst den festen Entschluss, Landschaftsmaler zu werden. Mit der literarischen Figur des Malers Heinrich Lee beleuchtet Keller sich selbst. Die Entscheidung hat ihre Quelle ebenfalls in seinem spirituellen Natur- und Weltverständnis. Bei aller dichterischen Freiheit – Keller selbst verweist stets auf den fiktionalen Charakter des Romans – , viele Entwicklungen im Grünen Heinrich entsprechen den realen Gegebenheiten in Kellers Leben, über die er in Briefen, Tagebüchern, Skizzen- und Studienbüchern berichtet.
Auch einige der Frauenfiguren, etwa die Mutter, Anna oder Dortchen Schönfund, gehen dementsprechend auf real existierende Frauen aus seinem Leben zurück.
Der Schnepfenkönig
Die zweijährige Ausbildung beim dilettantisch arbeitenden Zürcher Kupferstecher Peter Steiger verläuft enttäuschend. Auch nach einem mehrmonatigen intensiven Naturstudium beim Schweizer Maler Rudolf Meyer gelingt es ihm nicht, sich als bildender Künstler zu etablieren.
Keller versucht nun, seinen Traum vom Malen durch einen Studienaufenthalt in der damaligen Kulturmetropole München zu
verwirklichen, wo sich viele Kunstschaffende unter König Ludwig I. an Werken der italienischen Renaissance orientieren.
Hier werden die klassizistisch-romantische Naturauffassung der Deutsch-Römer und die Stimmungslandschaften
Carl Rottmanns vorbildhaft. Aber auch in München kann Keller trotz seiner künstlerischen Fähigkeiten keine
Verkäufe erzielen, verbringt seine Tage planlos und zechend mit seinen Schweizer Künstlerfreunden. Desillusioniert
kehrt er in seine Geburtsstadt Zürich zurück und findet ab 1843 schließlich zur Literatur.
Kopfweide 1835
Eberjagd (Der Pfaffe) um 1836
Föhre 1836
An der Siehl 1837
Staubbach 1838
Uferlandschaft mit Angler 1841
Landschaft mit Gewitterstimmung 1841
Heroische Landschaft 1841/42
Sommerlandschaft am Zürichsee 1849
Gottfried Keller
1819 - 1890
Lehre in München (Landschaftsmaler), Studium in Heidelberg der Geschichte und Staatswissenschaften, Berlin Ausbildung
Theaterschriftsteller. Romane und Novellen, Der grüne Heinrich, Die Leute von Seldwyla.
1855 zurück in Zürich - brotlos, 1861 Erster Staatsschreiber des Kantons Zürich. Nach 10 Jahren nur noch Schriftsteller. Bedeutender Vertreter
des bürgerlichen Realismus.