Onkel Kasimir (ca. 1909 - ?) Die Ausgewanderten S. 95ff. Die Sommerbesuche der Amerikaner waren wahrscheinlich der erste Beweggrund für die von mir als Heranwachsender gehegte Vorstellung, daß ich einmal nach Amerika auswandern würde. Wichtiger aber als diese gewissermaßen persönliche Verbindung mit meinem amerikanisehen Wunschtraum war die Zurschaustellung einer anderen Art von täglichem Leben durch die am Ort stationierte Besatzungsmacht, deren allgemeine Moral von den Einheimischen, wie man ihren halb hinter vorgehaltener Hand, halb lauthals gemachten Bemerkungen entnehmen konnte, als einer Siegernation unwürdig empfunden wurde. Sie ließen die von ihnen requirierten Häuser verlottern, hatten keine Blumen auf dem Balkon und statt Vorhänge Fliegengitter im Fenster. Die Weiber gingen in Hosen herum und warfen ihre lippenstiftverschmierten Zigarettenkippen einfach auf die Straße, die Männer hatten die Füße auf dem Tisch, die Kinder ließen die Fahrräder in der Nacht im Garten liegen, und was man von den Negern halten sollte, das wußte sowieso kein Mensch. Gerade diese abschätzigen Bemerkungen sind es gewesen, die mich damals bestärkten in meiner Sehnsucht nach dem einzigen Ausland, von dem ich überhaupt eine Ahnung hatte. In den endlosen Schulstunden vor allem und in der Abenddämmerung habe ich mir meine amerikanische Zukunft in allen Einzelheiten und Farben ausgemalt. Diese Phase der imaginären Amerikanisierung meiner Person, während der ich streckenweise zu Pferd, streckenweise in einem dunkelbraunen Oldsmobile die Vereinigten Staaten in allen Himmelsrichtungen durchquerte, erreichte ihren Höhepunkt zwischen meinem sechzehnten und siebzehnten Lebensjahr, als ich die Geistes- und Körperhaltung eines Hemingway-Helden in und an mir auszubilden versuchte, ein Simulationsprojekt, das aus verschiedenen Gründen, die man sich denken kann, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Unsereiner ist eben damals, so fing er an, als es mir nach einer gewissen Zeit gelungen war, das Gespräch auf das Thema der Auswanderung zu lenken, in Deutschland auf keinen grünen Zweig gekommen. Nur ein einziges Mal habe ich, wie ich mit der Spenglerlehre in Altenstadt fertig war, eine Arbeit gehabt, anno 28 als ein neues Kupferdach auf die Augsburger Synagoge gemacht worden ist. Das alte Kupferdach haben die Augsburger Juden im ersten Krieg für die Kriegshilfe geopfert, und erst im achtundzwanziger Jahr haben sie dann den für ein neues Dach benötigten Betrag wieder beieinander gehabt.
Das hier bin ich, sagte der Onkel Kasimir, indem er eine postkartengroße, gerahmte Fotografie, die er von der Wand genommen hatte, mir über den Tisch zuschob, der ganz rechts außen, von dir aus gesehen. Aber nach diesem Auftrag
war es wochenlang wieder nichts, und einer von meinen Arbeitskollegen, der Wohlfahrt Josef, der auf dem Synagogendach droben immer noch voller Zuversicht gewesen ist, hat sich nachher aufgehängt aus Hoffnungslosigkeit. Die Fini hat natürlich begeisterte Briefe geschrieben aus der neuen Heimat, und also war es kein Wunder, wenn ich mich schließlich entschloß, den Schwestern nach Amerika nachzufolgen.
Jeschiwa,
wo sie brauchen Blechschmiede wie dich. Er hat mir auch gleich die Anschrift gegeben - 500 West 187th Street corner Amsterdam Avenue -, und am nächsten Tag schon bin ich zuoberst auf dem Turm gestanden, wie zuvor auf der Augsburger Synagoge, nur viel höher, und habe die fast sechs Meter breiten Kupferbänder anschmieden helfen an die Kuppel, die das halb wie ein Bahnhof, halb wie ein morgenländischer Palast aussehende Gebäude krönte. Ich habe in der Folgezeit noch viel zu tun gehabt in den Gipfelregionen der Wolkenkratzer, die trotz der Depression in New York bis in die frühen dreißiger Jahre hinein gebaut worden sind.
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