Mit dem Zug auf der Heimfahrt von München
mit Wehrpflichtigen im Abteil über
Türkenfeld,
weiter über Landsberg, dort die JVA mit zwei Türmen,
wo Hitler in Festungshaft "Mein Kampf" schreibt,
(die JVA wird dann KZ-Zentrale der Region),
und Uli Hoeneß seine Strafe absitzt,
weiter über
Buchloe mit dem Käsewerk,
über Kaufbeuren mit der so genannten Irrenanstalt
wo Ärzte "lebensunwertes" menschliches Leben vernichten,
und der
Klosterschule
nach Sonthofen, wo Sebald
das Gymnasium
besucht und wo sein Vater in der
Nazi-Ordensburg
als Bundeswehr-Hauptmann Dienst tut.
Schließlich Bamberger Reminiszenzen an die
Heilige Kunigunde - die nämlich und nicht Elisabeth
(ihr wird das "Rosenwunder" zugeschrieben)
läuft im Bamberger Dom, um als des Ehebruchs Bezichtigte
ihre Unschuld zu beweisen, über glühende Pflugscharen ...
Der Mord im Hotel Hahn aber ist rätselhaft ...
Im Herbst 1944 beginnt die Organisation Todt in Türkheim
Häuser und ein Außenlager (Frauen- und Männer) des KZs Dachau (Kaufering VI) für
2000 Häftlinge zu errichten, sie müssen unter elenden Bedingungen Zwangsarbeit zur unterirdischen
Rüstungsproduktion verrichten, wobei Hunderte zugrunde gehen.
Zu Türkheim gehört das Kommando Türkenfeld, eines der 94 Außenlager des KZs Dachau.
Sebald beschreibt eine kontaminierte Landschaft. Indem er das historische Faktum verschweigt, muss das
Gedicht die Aufgabe übernehmen, das Unausgesprochene poetisch auszusprechen. Und just dies gelingt dem Text, denn die
Kontamination beginnt in der Sprache: Türkenfeld erinnert an die Schlachtfelder der Türkenkriege; im Wort 'Tümpel' klingt
bereits etwas Abgründiges an; die Schonung wird zu einem Missklang. Und mit dem schmelzenden Märzeis versinkt die
Gewaltgeschichte im Moor. Bedrohung und Trostlosigkeit sprechen aus jeder Zeile.
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October Heat Wave
From the flyover
that leads down
to the Holland
Tunnel I saw
the red disk
of the sun
rising over the
promised city.
By the early
afternoon the
thermometer
reached eighty-
five & a steel
blue haze
hung about the
shimmering towers
whilst at the White
House Conference
on Climate the
President listened
to experts talking
about converting
green algae into
clean fuel & I lay
in my darkened
hotel room near
Gramercy Park
dreaming through
the roar of Manhattan
of a great river
rushing into
a cataract.
In the evening
at a reception
I stood by an open
French window
& pitied the
crippled tree
that grew in a
tub in the yard.
Practically defoliated
it was
of an uncertain
species, its trunk
& its branches
wound round with
strings of tiny
electric bulbs.
A young woman
came up to me
& said that although
on vacation
she had spent
all day at
the office
which unlike
her apartment was
air-conditioned &
as cold as the
morgue. There,
she said, I am
happy like an
opened up oyster
on a bed of ice.
Im Rahmen der US-Lesetournee zur Bewerbung der englischen Übersetzung von Die Ausgewanderten
liest Sebald am Abend des 6. Oktober 1997 erst im Goethe-Institut, um am darauffolgenden Tag im PEN-Club New York aufzutreten.
Uwe Schütte (DIE WIEDERHOLUNG November 2018):
"Er hat wohl vom Taxi aus den New Yorker Autoverkehr zur morgendlichen rush hour auf dem Weg zu seinem Hotel
erlebt. Jet-lagged ruht er sich dann in seinem verdunkelten Hotelzimmer bei laufendem Fernseher aus, während draußen
die nachmittägliche Hitze in der Riesenstadt ansteigt und er einschlummernd den beständigen Verkehrslärm für das Rauschen eines Wasserfalls hält.
Worauf das Gedicht abzielt, ist, die am Beispiel New Yorks
besonders prägnante Ahkopplung des urbanen Menschen von der Natur zu thematisieren als exemplarische
Entfremdungserfahrung der Moderne: Das nahezu blattlose Bäumchen erregt das Mitleid des Sprechers, der sich mehr für das elende, verkrüppelte Gewächs in seinem Plastíkeimerexil als den Jahrmarkt der Eitelkeiten des metropolitanen Kulturbetriebs interessiert.
Dieser zeigt sich auch im small talk der jungen Frau, die erzählt, wie sie sich vor der natürlichen Hitze ausgerechnet in ihr Büro
geflüchtet hat, wo die Klimaanlage eine unnatürliche Kälte erzeugt, die sie scherzhaft mit einem Leichenschauhaus
vergleicht. Man darf vermuten, dass der lyrische Sprecher hier eine authentische Aussage wiedergibt, wenn die Frau sich - zumal
mit einem erotischen Beiklang - selbstironisch mit einer Luxusspeise vergleicht, die in den von ihr vermutlich frequentierten
sozialen Zirkeln als Delikatesse verzehrt wird. Der Sprecher freilich mag in der Auster eher eine Kreatur erkennen, die man sich aus Distinktionsgründen lebendig einverleibt.
Zu solch einer dichotomisch entgegengesetzten Sichtweise der Welt passt die auffällig binäre Motivstruktur des Gedichts, die
sich nicht nur in der Klimadiskrepanz zwischen ausgeprägter natürlicher Hitze und artifizieller Kälte zeigt. Der degenerierte
Baum mit seinen bunten Lämpchen kontrastiert den glänzenden Türmen aus Stahl und Eisen, wobei gerade die Monstrosität
beider Dinge als Index eines aus dem Gleichgewicht gerückten Verhältnisses des Menschen zu seiner Umwelt fungiert."
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I remember
the day in
the year after
the fall of the
Soviet Empire
I shared a cabin
on the ferry
to the Hoek
of Holland with
a lorry driver
from Wolverhampton.
He & twenty
others were
taking super-
annuated trucks
to Russia but
other than that
he had no idea
where they were
heading. The gaffer
was in control &
anyway it was
an adventure
good money & all
the driver said
smoking a Golden
Holborn in the upper
bunk before
going to sleep.
l can still hear
him softly snoring
through the night,
see him at dawn
climb down the
ladder: big gut
black underpants,
put on his sweat-
shirt, baseball
hat, get into
jeans & trainers,
zip up his
plastic holdall,
rub his stubbled
face with both his
hands ready
for the journey.
l'll have a
wash in Russia
he said. I
wished him the
best of British. He
replied been good
to meet you Max.
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Uwe Schütte:
" ... darf ich hier so umstandslos das lyrische Ich mit der Person von Sebald gleichsetzen, in eklatanter Verkennung der Regeln philologischer Interpretation? Ja, ich darf, denn durch die Verabschiedungsformel am Ende des Gedichts gibt sich Sebald in
einem in seinem Werk einmaligen Akt selbst als Sprecher zu erkennen durch jenen Namen, den er seit den sechziger Jahren
im Umgang mit Familie, Freunden und Bekannten verwendete. Das ganze Gedicht läuft auf diesen Namen zu: Max. Dies zu
bemerken, setzt freilich voraus, dass der Leser diese biografische Information kennt.
Auch die Formel, die der Sprecher Max verwendet, um sich vom anonym bleibenden LKW-Fahrer zu verabschieden, setzt
auf Seiten eines deutschen Lesers etwas voraus: nämlich die genaue Kenntnis der benutzen Sprachformel. Jemandem »the
best of British luck« zu wünschen, besitzt nämlich neben der vordergründigen Bedeutung einen nicht zu vernachlässigenden
Unterton. Ein leicht ironisches Da hast Du dir aber ganz schön was vorgenommen schwingt spürbar mit, wenn Max dem Fahrer
alles Gute wünscht für sein russisches Abenteuer, das dieser mit einer gewissen, für die britische Arbeiterklasse typischen
Naivität angeht.
Auffällig ist, dass wir über das Reiseziel des Sprechers nichts erfahren. Vielleicht handelt es sich um jene Reise, für die auch
er sich wohl mehr vorgenommen hat, als am Ende herauskam: Mit leeren Händen kehrte Sebald Ende Juni 1990 aus Klagenfurt zurück, wo er eine Fassung der späteren "Paul Bereyter"-Geschichte aus den Ausgewanderten vorgelesen hatte, oder die
Reise nach Tübingen im Februar 1992, wo er einen bemerkenswerten, kulturkritischen Vortrag zum Thema "Europäische Peripherien" hält.
Darin beklagt er, dass die Ränder in Europa verschwinden und die Peripherien ihren Status als Schutz- wie Rückzugsraum einbüßen aufgrund der wirtschaftlichen Kolonisierung der zuruckgebliebenen Regionen; deren Konsequenz wiederum ist die endgültige Aufhebung der Ungleichzeitigkeit der Zeit, die wohl eine der wichtigsten Inspirationsquellen jeder kreativen
Arbeit ist. Wir werden bald ausschließlich in der Jetztzeit leben und auch nirgends mehr hinfahren können, wo wir nicht in der
Jetztzeit sind.
Diese so melancholischen wie sich als mittlerweile bestätigt zeigenden Überlegungen wiederum laden ein, sie in Bezug zu setzen zum Gedicht. Darin geht es ja offenkundig wesentlich um den kapitalistischen Kolonisierungsprozess des vormals 'roten'
Ostens. Für den im Gedicht in Bezug auf Sprachweise und Kleidung erstaunlich präsenten LKW-Lenker ist die Überführung
nach Russland nur ein spannender Job; für den die größeren Entwicklungslinien überblickenden Sebald erweist sich im Verhökern der veralteten Laster der Beginn eines Prozesses der Einebnung nicht nur kultureller Unterschiede.
Ich vermag nicht von meiner Bekanntschaft, meinen Gesprächen mit Sebald zu abstrahieren, wenn ich diese zwei Gedichte
lese. Ich weiß, dass er die Nähe zu solch 'einfachen' Personen wie dem LKW-Fahrer suchte, während er die formellen, offiziellen Situationen verachtete, bei denen er eine Krawatte tragen musste, zumal wenn es dabei um ihn ging, etwa bei Preisverleihungen oder eben Lesungen. Typisch für Sebald war auch die leichte Ironie, die sich daraus ergibt, dass ein aus dörflichen
Verhältnissen stammender deutscher Professor dem Engländer ein verschmitztes »best of British« für seine russische Reise
wünscht, denn gerade für solche Idiome oder altmodischen englischen Ausdrücke besaß er ein Faible und es war stets kurios,
sie mit seinem nie abgelegten Allgäuer Akzent zu hören.
Metropolen wie London oder New York waren für den Provinzmenschen Sebald ein Graus, weshalb seine metaphorische
Übertragung des urbanen Verkehrslärms zum Wasserfallgeräusch als Symptom einer Verlusterfahrung intendiert ist. Dass
der Hinweis auf den Smog, der sich um die monströsen Betontürme sammelt, mit dem utopischen Expertengerede auf der
Klimakonferenz im Weißen Haus verkoppelt wird, soll keine Hoffnung benennen: den Glauben, dass wir das aus dem Gleichgewicht gebrachte Ökosystem mit Hilfe der Technik wieder ins Lot rücken können, teilte Sebald nicht.
Die Auswandererstadt New York wird daher ironisch als promised city apostrophiert. Tatsächlich betrachtete Sebald die
Metropole als einen handfesten Beweis für seine pessimistische Weltanschauung, derzufolge der Zivili-sationsprozess die
»Aberration einer Species«“ darstellt, wie er in seinem letzten Interview formulierte.
Heiner Müller schrieb einmal: »Bevor man stirbt, sollte man New York gesehen haben, einen der großen Irrtümer der Menschheit.«
Es ist dies eine Aussage, der sich W.G. Sebald vorbehaltlos angeschlossen hätte."
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