André Hilary
Austerlitz S. 101ff
In dem Lehrplan für die vorletzte Klasse war nämlich europäische Geschichte vorgesehen, die allgemein als ein komplizierter und nicht ungefährlicher Gegenstand galt, weshalb man sich auch in der Regel auf die mit einer englischen Großtat abschließende Zeit von 1789 bis 1814 beschränkte. Der Lehrer, der uns diese, wie er oft betonte, zugleich glorreiche und schreckensvolle Epoche nahebringen sollte, war ein gewisser André Hilary, der seinen Posten in Stower Grange nach der Entlassung aus dem Heeresdienst eben erst angetreten hatte und, wie es sich bald zeigte, mit der Napoleonischen Ära bis in das einzelnste vertraut war. André Hilary hatte am
Oriel College
studiert, war aber von kleinauf umgeben gewesen von einer in seiner Familie mehrere Generationen zurückgehenden Napoleonbegeisterung.
Auf den Vornamen André, so sagte er mir einmal, sagte Austerlitz, habe sein Vater ihn taufen lassen in Erinnerung an den Marschall Massena, der Herzog von Rivoli. Tatsächlich konnte Hilary die Bahn, die der von ihm so genannte korsische Komet über den Himmel gezogen hatte, von ihrem Anbeginn bis zu ihrem Erlöschen im Südatlantischen Ozean mit sämtlichen der von ihr durchquerten Konstellationen und von ihr illuminierten Ereignisse und Personen an jedem
beliebigen Punkt der Aszendenz oder des Niedergangs ohne die geringste Vorbereitung sich verge-
genwärtigen, nicht anders, als sei er selber dabeigewesen. Die Kindheit des Kaisers in Ajaccio, die Lehrzeit in der Militärakademie von Brienne, die Belagerung von Toulon, die Strapazen der ägyptischen Expedition, die Rückkehr über ein Meer voller feindlicher Schiffe, die
Überquerung des Großen St. Bernhard
die Schlachten von Marengo, von Jena und
Auerstedt, von Eylau und Friedland, von Wagram, Leipzig und Waterloo, das alles beschwor Hilary auf das lebendigste vor uns herauf, teils indem er erzählte - wobei er aus dem Erzählen oft in dramatische Schilderungen und aus diesen in eine Art Theater spiel überging mit verteilten Rollen, zwischen denen er mit erstaunlicher Virtuosität hin- und herwechselte -, teils indem er die Schachzüge Napoleons und seiner Gegner mit der kalten Intelligenz eines unparteiischen Strategen untersuchte, die gesamte Szenerie jener Jahre aus der Höhe überblickend, mit dem Auge des Adlers, wie er einmal nicht ohne Stolz angemerkt hat. Den meisten von uns haben sich die von Hilary gehaltenen Geschichtsstunden nicht zuletzt deshalb tief eingeprägt, sagte Austerlitz, weil er des öfteren, wahrscheinlich wegen eines Bandscheibenleidens, an dem er laborierte, auf dem Rücken am Fußboden liegend seinen Stoff uns vortrug, was wir in keiner Weise als komisch empfanden, denn Hilary sprach gerade dann mit besonderer Deutlichkeit und Autorität. Hilarys Glanzstück ist zweifellos die Schlacht von Austerlitz gewesen
.
Unsere Beschäftigung mit der Geschichte, so habe Hilarys These gelautet, sei eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starrten, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt.
André Hilary ist der einzige gewesen, dem ich selbst gesagt habe, wie ich in Wahrheit heiße. Es war kurz nachdem wir einen Aufsatz hatten einreichen müssen über die Begriffe Imperium und Nation, daß Hilary, außerhalb der regulären Stunden, mich zu sich auf sein Zimmer rief, um mir meine Arbeit, die er mit einem A und drei Sternen bewertet hatte, persönlich und nicht, wie er sich ausdrückte, zusammen mit all den anderen Elaboraten zurückzugeben. Er selber, der doch dies und jenes in historischen Fachblättern veröffentlichte, hätte eine derart scharfsinnige Untersuchung in so einer vergleichsweise knappen Frist unmöglich verfassen können, sagte er und wollte wissen, ob ich vielleicht von Haus aus, durch meinen Vater oder einen älteren Bruder, mit der Geschichtswissenschaft vertraut sei. Als ich Hilarys Frage verneinte, hatte ich Mühe, meine Beherrschung nicht zu verlieren, und in dieser für mich, wie es mir schien, nicht mehr haltbaren Lage ist es gewesen, daß ich ihm das Geheimnis meines richtigen Namens gestand, worüber er sich dann lang nicht beruhigte.
Einmal ums andere faßte er sich an die Stirn und brach in Rufe des Erstaunens aus, so als habe die Vorsehung ihm endlich den Schüler geschickt, den er sich von jeher gewünscht hatte. Hilary hat mich während der mir in Stower Grange noch verbleibenden Zeit auf jede nur erdenkliche Art unterstützt und gefördert. In erster Linie ihm verdanke ich es, sagte Austerlitz, daß ich in den Abschlußprüfungen in den Fächern Geschichte, Latein, Deutsch und Französisch den Rest meines Jahrgangs weiter hinter mir ließ und mit einem großzügigen Stipendium versehen meinen eigenen Weg gehen konnte ins Freie, wie ich damals zuversichtlich noch meinte. Zum Abschied überreichte mir Andre Hilary aus seiner napoleonischen Memorabiliensammlung einen goldgerahmten dunklen Karton, auf welchem hinter dem blinkenden Glas drei etwas brüchige Weidenblätter befestigt waren von einem Baum auf der Insel St. Helena und eine Steinflechte, die einem blassen Korallenzweiglein glich und die einer der Vorfahren Hilarys, wie aus der winzigen Unterschrift hervorging, am 31. Juli 1830 abgelöst hatte von der schweren Granitplatte über dem Grab des Marschalls Ney.
Dieses an sich wohl wertlose Memento befindet sich bis heute in meinem Besitz, sagte Austerlitz. Es bedeutet mir mehr als beinahe jedes andere Bild, einmal, weil die in ihm aufgehobenen Relikte, die Steinflechte und die verdorrten, lanzettförmigen Baumblätter trotz ihrer Zerbrechlichkeit unversehrt geblieben waren über mehr als ein Jahrhundert hinweg, und zum anderen, weil es mich jeden Tag an Hilary erinnert, ohne den ich gewiß nicht hätte heraustreten können aus dem Schatten des Predigerhauses von Bala. Hilary war es ja auch, der nach dem Anfang 1954 in der Heilanstalt von Denbigh erfolgten Tod meines Ziehvaters die Auflösung des spärlichen Nachlasses übernahm und anschließend den in Anbetracht der Tatsache, daß Elias jeden Hinweis auf meine Herkunft getilgt hatte, mit nicht wenigen Schwierigkeiten verbundenen
Prozeß meiner Einbürgerung in die Wege leitete. Er hat mich zu jener Zeit, zu der ich, wie er selber vor mir, bereits am Oriel College studierte, regelmäßig besucht, und wir haben miteinander, so oft es ging, Exkursionen gemacht zu den verlassenen und verfallenden Landhäusern, die es in den Nachkriegsjahren auch in der Umgegend von Oxford überall gab.
Es war, als sei hier die Zeit, die sonst doch unwiderruflich verrinnt, stehengeblieben, als lägen die Jahre, die wir hinter uns gebracht haben, noch in der Zukunft, und ich entsinne mich, sagte Austerlitz, daß Hilary, als wir mit Ashman in dem Billardzimmer von Iver Grove gestanden sind, eine Bemerkung machte über die sonderbare Verwirrung der Gefühle, die selbst einen Historiker überkämen in einem solchen, vom Fluß der Stunden und Tage und vom Wechsel der Generationen so lange abgeschlossen gewesenen Raum.
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