Gelesen haben wir nie
in dem für die dritte und vierte Volksschulklasse vorgesehenen,
von Paul als lächerlich und verlogen bezeichneten Schullesebuch,
sondern fast ausschließlich im Rheinischen Hausfreund,
von dem Paul, auf eigene Rechnung, wie ich vermute,
sechzig Exemplare angeschafft hatte.
Viele der darin enthaltenen Geschichten,
wie die von der heimlichen Enthauptung,
haben in mir den lebhaftesten,
bis auf heute nicht vergangenen Eindruck hinterlassen;
mehr aber als alles andere gegenwärtig geblieben -
warum, weiß ich auch nicht - sind mir die Worte,
die der Pilgrim im Baselstab zu der Wirtin sagte,
nämlich: Wenn ich wiederkomme, so will ich Euch
die heilige Muschel mitbringen
ab dem Meeresstrand von Askalon oder eine Rose von Jericho.
Hebel, Heidgegger und hohe Herkunft
Logis in einem Landhaus S. 11f
Tatsächlich gab es zwischen dem Lob, das Goethe und Jean Paul dem badischen Kalendermacher zollten und der späteren Wertschätzung durch Kafka, Bloch und Benjamin
kaum eine Stimme, die Hebel der bürgerlichen Leserschaft näher gebracht und ihr erklärt hätte, was sie mit ihm verloren hatte an eigenen besseren Vorstellungen von einer an den Idealen des Rechts und der Toleranz sich orientierenden Welt. Es ist auch ein Stück deutscher Geistesgeschichte, wie wenig die Fürsprache der jüdischen Autoren in den zehner und zwanziger ]ahren für den Nachruhm Hebels vermochte, und wie groß im Gegensatz dazu die Wirkung gewesen ist, als die Nationalsozialisten den Heimatschriftsteller aus dem Wiesentahl für sich reklamierten. Mit welch falschem neogermanistischem Zungenschlag diese Vereinnahmung sich präsentierte und wielange sie vorhielt, das hat Robert Minder anhand von
Heideggers
Rede über Hebel aus dem Jahr 1957 gezeigt, die sich in ihrem ganzen Duktus in nichts von dem unterschied, was während der Faschistenherrschaft vorgebracht wurde von Josef Weinheber, Guido Kolbenheyer, Hermann Burte, Wilhelm Schäfer und anderen Hütern des deutschen Erbes, die glaubten, ihr Jargon sei unittelbar aus der Sprache des Volks entsprungen.
Als ich 1963 in
Freiburg
mit dem Studium begann, war das alles noch kaum unter den Teppich gekehrt, und nicht selten habe ich mich seither gefragt, wie trüb und verlogen unser Literaturverständnis wohl geblieben wäre, hätten uns die damals nach und nach erscheinenden Schriften Benjamins und der Frankfurter Schule, die ja eine jüdische Schule zur Erforschung der bürgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte gewesen ist, nicht andere Perspektiven eröffnet. Jedenfalls was mich selber betraf, so hätte ich ohne die Beihilfe Blochs und Benjamins den Zugang zu dem von Heidegger umnebelten Hebel schwerlich gefunden.
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Heidegger:
Wir könnten meinen, Hebels Dichtung sage, weil sie Dialektdichtung sei, nur von einer beschränkten Welt. Man meint überdies, der Dialekt bleibe eine Mißhandlung
und Verunstaltung der Hoch- und Schriftsprache. Solches Meinen irrt. Die Mundart ist der geheimnisvolle Quell jeder gewachsenen Sprache. Aus ihm strömt uns all das zu, was der Sprachgeist in sich birgt.
Was birgt der Geist einer echten Sprache? Er verwahrt in sich die unscheinbaren, aber tragenden Bezüge zu Gott, zur Welt, zu den Menschen und ihren Werken, ihrem Tun und Lassen. Was der Sprachgeist in sich birgt, ist jenes Hohe, alles Durchwaltende, woraus jeglich Ding dergestalt seine Herkunft hat, daß es gilt und fruchtet.
Dieses Hohe und Gültige lebt in der Sprache auf. Aber es stirbt auch mit ihr ab, sobald eine Sprache den Zustrom aus jenem Quell entbehren muß, der die Mundart ist.
Johann Peter Hebel wußte dies klar. Darum schreibt er in einem Brief kurz vor dem Erscheinen der "Allermannischen Gedichte", diese blieben zwar "im Charakter und Gesichtskreis des Völkleins" [gemeint ist das alemannische], seien aber zugleich "edle Dichtung" (Briefe, S. 114).
Was ist dies - "edle Dichtung"? Es ist eine Dichtung, die Adel hat, d. h. eine hohe Herkunft aus dem, was in sich das Bleibende ist und dessen spendende Kraft niemals versiegt. Demgemäß ist Johann Peter Hebel kein bloßer Dialekt- und Heimatdichter. Hebel ist ein weltweiter Dichter. Somit hätten wir denn schon die Antwort auf unsere Frage, wer Johann Peter Hebel sei.
Minder:
Hebel, ein Unbekannter, in seiner tieferen Bedeutung kaum je erfaßt oder auch nur geahnt. An solch eherne Diktate ist man beim Verfasser von "Sein und Zeit" freilich gewöhnt. Seine Faszination beruht zum Teil - wie bei Stefan George - auf der Unerbittlichkeit des Spruchs "Der Zauber der Heimat hielt Hebel im Bann". Der Satz steht im Mittelpunkt der erbaulichen Betrachtung und macht gleich stutzig: das ist nicht nur der Tonfall Wagners, sondern das ganze magische Universum des "Rings". Hebel als Siegfried kostümiert wohlig gewiegt von Wagnerschen Ramsch-Assonanzen, die mit biblischen Reminiszenzen vermischt sind, zieht der Denker aus Meßkirch das Fazit für Hebel: eine pseudoromantisch mystifizierende Auffassung des Dichters, die uns keinen Schritt näher an Hebel heranbringt, sondern ihn gern vom Lärm des frechen Tages zum Priester des Weltmysteriums weiht ...
Blutrot beginnt das Wort "alemannisch" in einer dritten Phase zu schimmern, als 1933 ein hoch industrialisiertes, rassisch besonders buntgemengtes Volk sich arische Ahnen beilegte und bald darauf im ganzen besetzten und terrorisierten Europa Tod und Leben des Einzelnen davon abhängen ließ, ob er von Siegfried abstamme oder nicht ...
Es war die Zeit, wo auch Hebel als sippenverhafteter Bauer auftrat. Heidegger hat der "alemannischen Tagung" in Freiburg beigewohnt, auf der Hermann Burte ein Kleinepos
von 400 Strophen über den wiederentdeckten "arischen" Hebel vortrug: streicht man das ominöse Wörtchen, so deckt sich Heideggers Hebel von 1957 bis in die Einzelheiten mit Burtes arischem Hebel von 1936.
Demokraten, ein Begriff, der für Heidegger unverständlich, ja abwegig sein mußte, stammen doch beide aus den radikal umgeschichteten bäuerlich-bürgerlichen Kreisen der
Bismarck- und Hohenzollernzeit, die unter Verzicht auf politische Mündigkeit patriotisch strammstanden, nach 1918 das Fronterlebnis sakralisierten, die Weimarer Republik diabolisierten und wie reife Früchte auf den Boden klopften, als blutrot am Horizont der Führer aufgetaucht war.
Besondere Beachtung verdient die Einwurzelung oder Wiedereinwurzelung der deutschen Sprache im "vorlateinischen Deutsch", für die der Philosoph immer energischer einschritt und für die sein eigener Stil Musterbeispiele zu geben versucht.
Heidegger in seiner Hebel-Rede ebenso muffig treudeutsch und ländlich verzückt:
Hebel wählte nach eigenem dichterischem Ermessen die schönsten Stücke, die er in den Kalender des Rheinischen Hausfreundes gegeben hatte, aus. So schränkte er den Schatz auf das Kostbarste ein, baute ihm ein Schränklein und schenkte es im Jahre 1811 der ganzen deutschen Sprachwelt als "Schatzkästlein"
Der Philosoph und Polyhistor Heidegger markiert den Bauer, kehrt den Meßkircher heraus, pocht auf den schwäbischen Urkern seiner Herkunft Der Badener Hebel ist auf diese radikale Weise vom schwäbischen Philosophen verschlungen, verdaut und verheideggert worden, und dagegen sollte hier Einspruch erhoben werden. Denn Hebel gehört nicht zu Heidegger und nicht zum schwäbischen Heuberg: er gehört zum badischen Schwarzwald und zu jener Rheinebene, in der er den größten Teil seines Lebens zugebracht hat. Er gehört als Humanist und Kosmopolit in den Umkreis eines Mannes, den er zeitlebens verehrt und den Heidegger zeitlebens bekämpft hat: Goethe. Er ist gewissermaßen ein Goethe im Duodezformat, hoher Staatsbeamter und Dichter, treuer Diener seines Herrn und heimlicher Frondeur, eminent kritischer Kopf und wortverliebter Artist, toleranter Christ und urbaner Schüler der Antike ...
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Texte anderer Hüter des deutschen Erbes
Josef Weinheber
Guido Kolbenheyer
Denn Kolbenheyer lehrte schon 1925 und lehrt noch 1952, daß das "lebendige Plasma-Erbe"
nicht mehr bei allen Völkern gleich lebendig ist. "Biologisch jünger, plasmatisch mächtiger sind die germanischen Völker.
Ihnen fällt daher die Durchsetzung des Fortbestandes der abendländischen Kultur als Aufgabe zu."
Das können sie aber nur, wenn sie den "Geist des mediterranen Christentums" überwinden, der "in den deutschen Lebensboden eingedrungen ist und die Entwicklung des eigendeutschen Wachstums gehemmt und überfremdet hat".
Auch die Atmosphäre dieser Sätze ist vielen vertraut. Sie herrschte von 1933 bis 1945 in Deutschland. Vieles, was die damaligen Herrscher zu Papier brachten, schrieben sie von Kolbenheyer ab (nicht umgekehrt, denn er hatte ja schon 1900 so gedacht). "Daß Kunst als erbgeartete, gewachsene Erscheinung ihrem Ursprünge nach nicht anders als national sein kann, ist für den Bauhüttendenker selbstverständlich", bezeugt Franz Koch. Auch für Joseph Goebbels, den begabtesten Schüler Kolbenheyers, war es selbstverständlich - ebenso wie die Forderung, daß "die Bühne dem volk- und artbewahrenden Ethos wiedergegeben" werden müsse. Kolbenheyers Leibwache pflegt, wenn man auf solche Äußerungen ihres Führers hinweist, den Verdacht auszusprechen, man wolle dem Dichter und Bauhüttendenker Sätze "ankreiden", die er vor Zeiten geschrieben habe. Es muß daher ausdrücklich gesagt werden, daß Kolbenheyer mit dem ganzen "starken selbstbewußten Gefühl des Rechthabens", das Paul Fechter bei ihm konstatiert, an diesen Auffassungen auch heute festhält. In seinem "Dreigespräch über die Ethik der Bauhütte" von 1952 wiederholt er alles, ja, er zieht erst hier selbst die Folgerungen für die Ethik. Kants kategorischen Imperativ nennt er "biologisch steril" und formuliert seinerseits als einzige für den Deutschen unserer Tage gültige Maxime: "Handle so, daß du der Überzeugung lebst, mit deinem Handeln dein Bestes und Äußerstes dazu getan zu haben, die - Menschenart, aus der du hervorgegangen bist, bestands- und entwicklungsfähig zu halten."
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Hermann Burte
Das Deutsche Reich des achtzehnten Januar 1871 ist in Weltkrieg und Umsturz untergegangen; an seine Stelle trat das Deutsche Reich des neunten November 1918. Dessen Verfassung, die Weimarer, ist heute tatsächlich unwirksam. Die These des achtzehnten Januar ringt mit ihrer Antithese vom neunten November; aus diesem Kampfe entsteht die Synthese des kommenden Reiches! Wenn der Nationalismus sozial und der Sozialismus national geworden sind, wächst das dritte Reich in seine Kraft und bleibt (1924!).
1933: Unzählige Menschen haben mir gesagt und geschrieben, daß der Wiltfeber sie zu Kämpfern des Dritten Reiches gemacht hat.
Ich bekenne mich aus dem selben Grund zur Jugend unter dem Hakenkreuz, aus dem ich einst das zeitgemäße Wesen verwarf: aus der bedachten und beseelten Anschauung heraus. Wie sie aussehen, ist so wichtig, als wie sie aussagen. Und gut sehen sie aus!
Niemals habe ich mich in den Grundanschauungen geändert. Ich habe nach der großen Umwälzung geschwiegen, das ist alles. Ich erkannte, daß nun, nachdem die ungeheure Tat gelungen war, nachdem die Macht in die Hände des Führers kam, und das außerordentlichste Vertrauen ihn trägt, das Werk beginnen müsse: der Bau des Dritten Reiches als eines Kunstwerkes. Jetzt gilt es, vom Tun zum Sein, von der Geste zum Wesen, von Gewaltsamen zum Gewaltigen fortzuschreiten!
Der Führer
Wie sieht er aus - Wie Unser Einer
Groß oder stark, das weiß ich nicht.
Mir scheinen seine Hände feiner
Als Kinn und Stirne, wenn er spricht.
Er redet in gelinder Weise,
doch klar vernehm ich jedes Wort,
wach, wahr und wesentlich - im Kreise
die Geister dienten ihm sofort.
Was sagte er? - Was alle spüren
und finden nur die Worte nicht.
Er kann dich aus dem Nebel führen
In eine Landschaft voller Licht:
Da siehst du Fluren ausgebreitet
In Saat und Segen allerwärts -
Dein banger Busen wird geweitet
Und hegt als Heiligtum sein Herz.
Und was verspricht er uns, der Retter?
Er fordert Opfer, unbedingt,
aus einem Willen, der durch Wetter
und Wahn zum Reich der Guten dringt.
Es riß mich hin, ich musste schwören,
du wirst, wenn du ihn kennen lernst,
und anhörst, ihm auch angehören - !
Was aber will er machen? - Ernst!
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Wilhelm Schäfer
Heidegger liest
Die Dichter, die NSDAP und das Beschweigen danach
Es IST ein Stück von ihnen
"Als wär's ein Stück von mir" - mit dieser Zeile aus einem Gedicht von Ludwig Uhland überschrieb Carl Zuckmayer seine Lebenserinnerungen, in denen er überwiegend den Kameraden nachrief, die er hatte. Doch dieser Irrealis, sich verselbständigend, hat viel intellektuelles und moralisches Unheil angerichtet. Ihn in den Indikativ umbiegend, muss man leider den Walsers und Grassens, muss man einem Dieter Hildebrandt und Siegfried Lenz und Walter Jens entgegenhalten: Es IST ein Stück von ihnen. Die NSDAP- oder SS-Mitgliedschaft, ob bewusst herbeigeführt oder von anderen - zweifellos nicht ohne Grund - lanciert (denn, wie gesagt, die Nazis nahmen nicht jeden): Sie sind ein Teil ihres Lebens. Die Betreffenden täten gut daran, es sich (und uns) nicht nur einzugestehen, sondern sich auch zu fragen, was daraus in ihrem Leben, in ihrem Werk geworden ist. Sonst tragen sie nämlich dazu bei, dass eine halbe Generation unter Generalverdacht gerät. Ohnehin fragt man sich ja schon unwillkürlich: Was wird wohl noch herauskommen über die NS-Nähe von Tankred Dorst, Dieter Wellershoff, Gerhard Zwerenz (Jahrgang 1925) oder von Ludwig Harig (1927)? Wenn sie nicht vor der Nachwelt so blamiert dastehen wollen wie Eich und Andersch, sollten sie jetzt reden.
Siehe
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Moralität des Ästhetischen
Es gibt eine Fotografie, auf der Michael zu sehen ist vor einem mächtigen Maulbeerbaum in seinem Garten. Bald nachdem diese Aufnahme gemacht worden war, wurde der Baum in einer Sturmnacht zu Boden gedrückt, hielt aber jahrelang noch aus gegen den Tod.
Besser sehen wir jetzt, schreibt Michael, was bleibt. Weniger als der gewesene Baum und mehr doch durch die Verminderung, an die Erde gelegt, gebettet ins Gras, bei Mohn und bei saftdunklem Balsam, dort, wo der Schatten war, den grösseres Gedeihen einst warf.
An der vollkommen unsentimentalen Präzision solcher Zeilen ist mir aufgegangen, dass Zuneigung und Sachverstand einander nicht ausschliessen, dass eine gewisse Befähigung zum richtigen Schreiben nicht reicht, dass es so etwas gibt wie eine Moralität des Ästhetischen, die, letztlich, auf der wahren Anschauung der Dinge beruht.
Für die falsche Anschauung weiss ich kein besseres Beispiel als das Unwesen, das die Hüter und Heger des deutschen Geistes, allen voran der Freiburger Rektor mit dem Hitlerbärtchen, mit dem armen Hölderlin trieben. Damals, in den dreissiger und vierziger Jahren, ist der wahre Platz Hölderlins nicht, wie es hiess, im Erlebnis des deutschen Volkes gewesen, sondern einzig in den englischen Übersetzungen, die der junge Exilant Michael Hamburger von den Elegien, Oden und Hymnen anzufertigen begann in einer dann über lange Jahre noch fortgesetzten Arbeit, neben der für mich vieles von dem, was sonst Literatur heisst, verblasst.
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