Werke



Es handelt sich um die Geschichte vom Jäger Gracchus,
die nur ein paar Seiten lang ist und
die sowohl eine der enigmatischsten Kafka-Geschichten ist -
es sind ja alle enigmatisch, die Kafka-Geschichten,
aber das ist wohl eine der undurchsichtigsten.
Gleichzeitig eine der faszinierendsten und
gleichzeitig eine der Geschichten,
bei denen man über die realen Hintergründe des Erzählens und
des Erzählers am genauesten Bescheid weiß,
weil Kafka diese Geschichte in Riva oder
mit Bezug auf seine Erlebnisse in Riva geschrieben hat.



Zwei Jäger



Kafka

Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer und spielten Würfel. Ein Mann las eine Zeitung auf den Stufen eines Denkmals im Schatten des säbelschwingenden Helden. Ein Mädchen am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte. Ein Obstverkäufer lag neben seiner Ware und blickte auf den See hinaus. In der Tiefe einer Kneipe sah man durch die leeren Tür - und Fensterlöcher zwei Männer beim Wein. Der Wirt saß vorn an einem Tisch und schlummerte. Eine Barke schwebte leise, als werde sie über dem Wasser getragen, in den kleinen Hafen. Ein Mann in blauem Kittel stieg ans Land und zog die Seile durch die Ringe. Zwei andere Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen trugen hinter dem Bootsmann eine Bahre, auf der unter einem großen blumengemusterten, gefransten Seidentuch offenbar ein Mensch lag.
Auf dem Quai kümmerte sich niemand um die Ankömmlinge, selbst als sie die Bahre niederstellten, um auf den Bootsführer zu warten, der noch an den Seilen arbeitete, trat niemand heran, niemand richtete eine Frage an sie, niemand sah sie genauer an.
Der Führer wurde noch ein wenig aufgehalten durch eine Frau, die, ein Kind an der Brust, mit aufgelösten Haaren sich jetzt auf Deck zeigte. Dann kam er, wies auf ein gelbliches, zweistöckiges Haus, das sich links nahe beim Wasser geradlinig erhob, die Träger nahmen die Last auf und trugen sie durch das niedrige, aber von schlanken Säulen gebildete Tor. Ein kleiner Junge öffnete ein Fenster, bemerkte noch gerade, wie der Trupp im Haus verschwand, und schloß wieder eilig das Fenster. Auch das Tor wurde nun geschlossen, es war aus schwarzem Eichenholz sorgfältig gefügt. Ein Taubenschwarm, der bisher den Glockenturm umflogen hatte, ließ sich jetzt vor dem Hause nieder. Als werde im Hause ihre Nahrung aufbewahrt, sammelten sich die Tauben vor dem Tor. Eine flog bis zum ersten Stock auf und pickte an die Fensterscheibe. Es waren hellfarbige wohlgepflegte, lebhafte Tiere. In großem Schwung warf ihnen die Frau aus der Barke Körner hin, die sammelten sie auf und flogen dann zu der Frau hinüber.
Ein Mann im Zylinderhut mit Trauerband kam eines der schmalen, stark abfallenden Gäßchen, die zum Hafen führten, herab. Er blickte aufmerksam umher, alles bekümmerte ihn, der Anblick von Unrat in einem Winkel ließ ihn das Gesicht verzerren. Auf den Stufen des Denkmals lagen Obstschalen, er schob sie im Vorbeigehen mit seinem Stock hinunter. An der Stubentür klopfte er an, gleichzeitig nahm er den Zylinderhut in seine schwarzbehandschuhte Rechte. Gleich wurde geöffnet, wohl fünfzig kleine Knaben bildeten ein Spalier im langen Flurgang und verbeugten sich.

Der Bootsführer kam die Treppe herab, begrüßte den Herrn, führte ihn hinauf, im ersten Stockwerk umging er mit ihm den von leicht gebauten, zierlichen Loggien umgebenen Hof und beide traten, während die Knaben in respektvoller Entfernung nachdrängten, in einen kühlen, großen Raum an der Hinterseite des Hauses, dem gegenüber kein Haus mehr, sondern nur eine kahle, grauschwarze Felsenwand zu sehen war. Die Träger waren damit beschäftigt, zu Häupten der Bahre einige lange Kerzen aufzustellen und anzuzünden, aber Licht entstand dadurch nicht, es wurden förmlich nur die früher ruhenden Schatten aufgescheucht und flackerten über die Wände. Von der Bahre war das Tuch zurückgeschlagen. Es lag dort ein Mann mit wild durcheinandergewachsenem Haar und Bart, gebräunter Haut, etwa einem Jäger gleichend. Er lag bewegungslos, scheinbar atemlos mit geschlossenen Augen da, trotzdem deutete nur die Umgebung an, daß es vielleicht ein Toter war.
Der Herr trat zur Bahre, legte eine Hand dem Daliegenden auf die Stirn, kniete dann nieder und betete. Der Bootsführer winkte den Trägern, das Zimmer zu verlassen, sie gingen hinaus, vertrieben die Knaben, die sich draußen angesammelt hatten, und schlossen die Tür. Dem Herrn schien aber auch diese Stille nochnicht zu genügen, er sah den Bootsführer an, dieser verstand und ging durch eine Seitentür ins Nebenzimmer. Sofort schlug der Mann auf der Bahre die Augen auf, wandte schmerzlich lächelnd das Gesicht dem Herrn zu und sagte: »Wer bist du?« - Der Herr erhob sich ohne weiteres Staunen aus seiner knieenden Stellung und antwortete: »Der Bürgermeister von Riva.«
Der Mann auf der Bahre nickte, zeigte mit schwach ausgestrecktem Arm auf einen Sessel und sagte, nachdem der Bürgermeister seiner Einladung gefolgt war: »Ich wußte es ja, Herr Bürgermeister, aber im ersten Augenblick habe ich immer alles vergessen, alles geht mir in der Runde und es ist besser, ich frage, auch wenn ich alles weiß. Auch Sie wissen wahrscheinlich, daß ich der Jäger Gracchus bin.«
»Gewiß«, sagte der Bürgermeister. »Sie wurden mir heute in der Nacht angekündigt. Wir schliefen längst. Da rief gegen Mitternacht meine Frau: ›Salvatore‹, - so heiße ich - ›sieh die Taube am Fenster!‹ Es war wirklich eine Taube, aber groß wie ein Hahn. Sie flog zu meinem Ohr und sagte: ›Morgen kommt der tote Jäger Gracchus, empfange ihn im Namen der Stadt.‹«
Der Jäger nickte und zog die Zungenspitze zwischen den Lippen durch: »Ja, die Tauben fliegen vor mir her. Glauben Sie aber, Herr Bürgermeister, daß ich in Riva bleiben soll?«

»Das kann ich noch nicht sagen«, antwortete der Bürgermeister.
»Sind Sie tot?«
»Ja«, sagte der Jäger »wie Sie sehen. Vor vielen Jahren, es müssen aber ungemein viel Jahre sein, stürzte ich im Schwarzwald - das ist in Deutschland - von einem Felsen, als ich eine Gemse verfolgte. Seitdem bin ich tot.«
»Aber Sie leben doch auch«, sagte der Bürgermeister.
»Gewissermaßen«, sagte der Jäger, »gewissermaßen lebe ich auch. Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat, ich weiß nicht, was es war, nur das weiß ich, daß ich auf der Erde blieb und daß mein Kahn seither die irdischen Gewässer befährt. So reise ich, der nur in seinen Bergen leben wollte, nach meinem Tode durch alle Länder der Erde.«
»Und Sie haben keinen Teil am Jenseits?« fragte der Bürgermeister mit gerunzelter Stirne.
»Ich bin«, antwortete der Jäger, »immer auf der großen Treppe, die hinauf führt. Auf dieser unendlich weiten Freitreppe treibe ich mich herum, bald oben, bald unten, bald rechts, bald links, immer in Bewegung. Aus dem Jäger ist ein Schmetterling geworden. Lachen Sie nicht.« »Ich lache nicht«, verwahrte sich der Bürgermeister.
»Sehr einsichtig«, sagte der Jäger. »Immer bin ich in Bewegung. Nehme ich aber den größten Aufschwung und leuchtet mir schon oben das Tor, erwache ich auf meinem alten, in irgendeinem irdischen Gewässer öde steckenden Kahn. Der Grundfehler meines einstmaligen Sterbens umgrinst mich in meiner Kajüte. Julia, die Frau des Bootsführers, klopft und bringt mir zu meiner Bahre das Morgengetränk des Landes, dessen Küste wir gerade befahren. Ich liege auf einer Holzpritsche, habe - es ist kein Vergnügen, mich zu betrachten - ein schmutziges Totenhemd an, Haar und Bart, grau und schwarz, geht unentwirrbar durcheinander, meine Beine sind mit einem großen, seidenen, blumengemusterten, langgefransten Frauentuch bedeckt. Zu meinen Häupten steht eine Kirchenkerze und leuchtet mir. An der Wand mir gegenüber ist ein kleines Bild, ein Buschmann offenbar, der mit einem Speer nach mir zielt und hinter einem großartig bemalten Schild sich möglichst deckt. Man begegnet auf Schiffen manchen dummen Darstellungen, diese ist aber eine der dümmsten. Sonst ist mein Holzkäfig ganz leer. Durch eine Luke der Seitenwand kommt die warme Luft der südlichen Nacht und ich höre das Wasser an die alte Barke schlagen. Hier liege ich seit damals, als ich, noch lebendiger Jäger Gracchus, zu Hause im Schwarzwald eine Gemse verfolgte und abstürzte. Alles ging der Ordnung nach. Ich verfolgte, stürzte ab, verblutete in einer Schlucht, war tot und diese Barke sollte mich ins Jenseits tragen. Ich erinnere mich noch, wie fröhlich ich mich hier auf der Pritsche ausstreckte zum erstenmal. Niemals haben die Berge solchen Gesang von mir gehört wie diese vier damals noch dämmerigen Wände. Ich hatte gern gelebt und war gern gestorben, glücklich warf ich, ehe ich den Bord betrat, das Lumpenpack der Büchse, der Tasche, des Jagdgewehrs vor mir hinunter, das ich immer stolz getragen hatte, und in das Totenhemd schlüpfte ich wie ein Mädchen ins Hochzeitskleid. Hier lag ich und wartete. Dann geschah das Unglück.«

»Ein schlimmes Schicksal«, sagte der Bürgermeister mit abwehrend erhobener Hand. »Und Sie tragen gar keine Schuld daran?«
»Keine«, sagte der Jäger, »ich war Jäger, ist das etwa eine Schuld? Aufgestellt war ich als Jäger im Schwarzwald, wo es damals noch Wölfe gab. Ich lauerte auf, schoß, traf, zog das Fell ab, ist das eine Schuld? Meine Arbeit wurde gesegnet. ›Der große Jäger vom Schwarzwald‹ hieß ich. Ist das eine Schuld?«
»Ich bin nicht berufen, das zu entscheiden«, sagte der Bürgermeister, »doch scheint auch mir keine Schuld darin zu liegen. Aber wer trägt denn die Schuld?«
»Der Bootsmann«, sagte der Jäger. »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe, niemand wird kommen, mir zu helfen; wäre als Aufgabe gesetzt mir zu helfen, so blieben alle Türen aller Häuser geschlossen, alle Fenster geschlossen, alle liegen in den Betten, die Decken über den Kopf geschlagen, eine nächtliche Herberge die ganze Erde. Das hat guten Sinn, denn niemand weiß von mir, und w üßte er von mir, so wüßte er meinen Aufenthalt nicht, und wüßte er meinen Aufenthalt, so wüßte er mich dort nicht festzuhalten, so wüßte er nicht, wie mir zu helfen. Der Gedanke, mir helfen zu wollen, ist eine Krankheit und muß im Bett geheilt werden. Das weiß ich und schreie also nicht, um Hilfe herbeizurufen, selbst wenn ich in Augenblicken - unbeherrscht wie ich bin, zum Beispiel gerade jetzt - sehr stark daran denke. Aber es genügt wohl zum Austreiben solcher Gedanken, wenn ich umherblicke und mir vergegenwärtige, wo ich bin und - das darf ich wohl behaupten - seit Jahrhunderten wohne.«
»Außerordentlich«, sagte der Bürgermeister, »außerordentlich. - Und nun gedenken Sie bei uns in Riva zu bleiben?«
»Ich gedenke nicht«, sagte der Jäger lächelnd und legte, um den Spott gutzumachen, die Hand auf das Knie des Bürgermeisters. »Ich bin hier, mehr weiß ich nicht, mehr kann ich nicht tun. Mein Kahn ist ohne Steuer, er fährt mit dem Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst.«

Sebald

Im Verlauf der nachfolgenden Jahre legten sich lange Schatten über die, wie Dr. K. sich gelegentlich sagte, ebenso schönen wie entsetzlichen Herbsttage in Riva, und aus den Schatten tauchten allmählich die Umrisse einer Barke auf mit unverständlich hohen Masten und finsteren faltigen Segeln.

Drei ganze Jahre dauert es, bis die Barke, als werde sie über das Wasser getragen, leise in den kleinen Hafen von Riva schwebt. In den frühen Morgenstunden legt sie an. Ein Mann mit blauem Kittel steigt ans Land und zieht die Taue durch die Ringe. Zwei andere Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen tragen hinter dem Bootsmann eine Bahre, auf der unter einem großen, blumengemusterten Tuch offenbar ein Mensch Hegt. Es ist der Jäger Gracchus. Seine Ankunft ist Salvatore, dem Podestà von Riva, schon um Mitternacht angesagt worden von einer Taube von der Größe eines Hahns, die an das Fenster seines Schlafgemachs und dann an sein Ohr geflogen war. Morgen, hatte sie gesagt, kommt der tote Jäger Gracchus, empfange ihn im Namen der Stadt. Nach kurzem Bedenken war Salvatore aufgestiegen und hatte alles Nötige in die Wege geleitet. Als er jetzt in der Morgendämmerung, den Stock und den Zylinderhut mit dem Trauerband in der schwarzbehandschuhten Rechten, das Bürgermeisteramt betritt, stellt er zu seiner Genugtuung fest, daß seine Anweisungen richtig befolgt worden sind. Die fünfzig Knaben stehen, ein Spalier bildend, in dem langen Flur, und in einem der hinteren Räume im oberen Stock liegt, wie ihm der Bootsführer, der ihn im Vorhaus empfängt, bedeutet, aufgebahrt bereits der Jäger Gracchus, ein Mann, so zeigt es sich nun, mit wild durcheinandergewachsenem Haar und Bart und mit gebräunter, um nicht zu sagen gegerbter Haut.
Viel erfahren wir, die Leser, die einzigen Zeugen der Unterredung zwischen dem Jäger und dem Vorsteher der Gemeinde von Riva, nicht über das Schicksal des Gracchus, außer daß er vor vielen, ungemein vielen Jahren im Schwarzwald, wo er aufgestellt war gegen die damals dort noch herumstreifenden Wölfe, beim Verfolgen einer Gemse - und ist das nicht eine der eigenartigsten Falschmeldungen aller Erzählungen, die je erzählt worden sind? -, beim Verfolgen einer Gemse also aus einer Felswand zu Tode gestürzt ist und daß der Kahn, der ihn an das andere Ufer hätte hinüberbringen sollen, durch eine falsche Drehung des Steuers, einen Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch die wunderschöne dunkelgrüne Heimat des Jägers, die Fahrt verfehlt hat, weshalb er, Gracchus, seither ruhlos, wie er berichtet, auf den irdischen Wassern kreuze und einmal hier und einmal dort versuche, an Land zu gelangen. Ungeklärt bleibt die Frage, wer die Schuld trägt an diesem zweifellos großen Unglück, ja selbst die Frage, worin die Schuld, die offensichtliche Ursache des Unglücks, überhaupt besteht.

(Schwindel.Gefühle. S. 185ff)

Für sich allein saß, unbeachtet von allen, einzig der Jäger Hans Schlag, von dem es hieß, daß er von auswärts, und zwar aus Koßgarten am Neckar stamme und mehrere Jahre im Schwarzwald ein weitläufiges Revier versehen habe, ehe er, man wußte nicht genau, aufgrund welcher Umstände, aus dem Schwarzwald in die Gegend von W. gekommen und bis zu seiner Übernahme durch die bayerische Forstverwaltung gut ein Jahr stellungslos gewesen war. Der Jäger Schlag war ein stattlicher Mann mit dunklem, lockigem Haupt- und Barthaar und ungewöhnlich tiefliegenden, überschatteten Augen. Stundenlang, oft bis tief in die Nacht hinein, saß er bei seinem Glas, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln. Zu seinen Füßen schlief der Waldmann, festgebunden an den an der Stuhllehne hängenden Rucksack. Immer wenn ich in die Wirtschaft hinuntergekommen bin, um für den Vater eine Schachtel Zuban zu holen, saß der Jäger Schlag so an seinem Tisch. Meist war sein Blick gesenkt auf die auffallend kostbare goldene Taschenuhr, die er vor sich liegen hatte, als dürfe er irgend einen wichtigen Termin nicht versäumen, aber zwischenhinein schaute er auch durch seine halbgeschlossenen Augen zur Romana hinüber, die hinter dem hohen Schanktisch in einem fort die Schnaps- und Biergläser füllte. An einem mir überdeutlich in Erinnerung gebliebenen Abend freilich, es war Anfang Dezember und hatte gerade zum erstenmal bis ins Tal herunter geschneit, saß der Jäger, wie ich nach dem Nachtmahl in die Gaststube hinabkam, nicht an seinem Platz, und auch die Romana war rätselhafterweise nirgends zu sehen. In der Absicht, die Fünferschachtel Zuban beim Adlerwirt zu holen, ging ich durch das hintere Haus hinaus in den Hof. Dort glitzerten um mich her die Kristalle im Schnee, und es glitzerten über mir in ihrer Unzahl die Sterne am Himmel. Der kopflose Riese Orion mit dem kurzen funkelnden Schwert im Gürtel stieg soeben hinter den blauschwarzen Schatten der Berge herauf. Lang bin ich inmitten dieser Winterpracht stehengeblieben und habe gehorcht auf das Klirren der Kälte und das Klingen der Himmelslichter in ihrer langsamen Bahn. Dann dünkte es mich auf einmal, als rührte sich in der offenen Tür des Holzschopfs ein Schemen. Es war der Jäger Schlag, der dort, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torf wasenbeige die Romana ausgebreitet und hatte, wie ich im Widerschein des Schneelichts erkennen konnte, die Augen genauso verdreht wie der Dr. Rambousek, als sein Kopf auf der Schreibtischplatte gelegen war. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenruckte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten. Ich glaube nicht, daß die Romana oder der Schlag etwas von meiner Anwesenheit gemerkt haben; gesehen hat mich nur der Waldmann, der, angebunden wie immer an den Rucksack seines Herrn, still hinter diesem an der Erde stand und herüberschaute zu mir.

(Schwindel.Gefühle. S. 269ff)

Am folgenden Morgen, in der Küche brannte noch das Licht, erzählte der Großvater, der gerade vom Wegmachen hereingekommen war, aus dem Jungholz sei die Nachricht gebracht worden, daß man den Jäger Schlag eine gute Stunde außerhalb seines Reviers, auf der Tiroler Seite, auf dem Grund eines Tobels liegen gefunden habe. Offensichtlich sei er, sagte der Großvater, indem er, wie es seine tägliche Gewohnheit war, den für ihn auf dem Herdschiffchen eigens warm gehaltenen, von ihm aber verabscheuten Milchkaffee nach und nach, wenn die Mutter gerade nicht hersah, in den Ausguß schüttete, offensichtlich sei er beim Überqueren des Tobels von der sogar im Sommer gefahrvollen, im Winter so gut wie ungangbaren Riese zu Tode gestürzt. Er hielte es, so meinte der Großvater, für ausgeschlossen, daß der Schlag, der doch auf das genaueste mit den Grenzen seines Reviers vertraut gewesen sein müsse, versehentlich auf die andere Seite hinübergeraten sei. Hinwiederum wüßte auch niemand zu sagen, was der Jäger, wenn er gewissermaßen vorsätzlich fehlgegangen sei, ausgerechnet in dieser Jahreszeit und bei diesem Wetter im Österreichischen drüben zu suchen gehabt habe. Wie man es wende, schloß der Großvater, es bleibe eine undurchsichtige, nicht recht geheure Geschichte. Ich für meinen Teil habe die Sache den ganzen Tag hindurch nicht aus dem Kopf gebracht. Ich brauchte während der Schularbeit bloß ein wenig die Lider zu senken, und gleich sah ich den Jäger mit gebrochenem Auge auf dem Grunde des Tobels liegen. Es verwunderte mich darum auch nicht, daß ich ihm auf meinem Heimweg am Mittag tatsächlich begegnete. Ich hatte schon einige Zeit die leisen Schellen eines Pferdegeschirrs gehört, eh aus der grauen Luft und dem langsam herabkreiselnden Schnee der von dem Apfelschimmel des Pfeiffermühlenbesitzers gezogene Holzschlitten auftauchte, auf dem unter einer weinroten Roßdecke offenbar ein Mensch lag. Der Schlitten hielt ein an der Kreuzung mit der langen Gasse, weil soeben und sozusagen wie bestellt der Dr. Piazolo auf seiner den kniehohen Schnee durchpflügenden Zündapp gegen den von dem Pfeiffermühlenbesitzer geführten und von dem Junghölzer Gendarmen begleiteten Schlitten zugefahren kam. Dr. Piazolo, der anscheinend bereits über das geschehene Unglück in Kenntnis gesetzt war, stellte die Maschine ab und trat an das Fuhrwerk heran. Er zog die Decke zur Hälfte zurück, und darunter befand sich in einer, wie man sagen kann, absonderlich entspannten Pose wahrhaftig der Körper des aus Koßgarten am Neckar gebürtigen Jägers Hans Schlag. Das graugrüne Habit war kaum derangiert oder sonst in Mitleidenschaft gezogen. Ohne weiteres hätte man glauben können, der Schlag sei bloß eingeschlafen, wäre nicht die entsetzliche Blässe seines Gesichtes gewesen und das vom Frost durchwachsene, steif- und festgefrorene Haupt- und Barthaar. Dr. Piazolo, der die schwarzen Motorradhandschuhe ausgezogen hatte und den sowohl von der Kälte als auch durch das längst erfolgte Eintreten der Leichenstarre unbeweglich gemachten Körper mit einer für ihn ungewöhnlichen Scheu an verschiedenen Stellen betastete, äußerte die Vermutung, der Jäger, an dem kein Anzeichen irgendeiner Verletzung zu sehen war, habe den Sturz von der Riese allem Anschein nach zunächst überlebt. Es sei sehr wohl möglich, sagte er, daß der Jäger gleich im Augenblick des Ausgleitens vor Schreck das Bewußtsein verloren habe und daß sein Fall durch den aus dem Tobel heraufwachsenden Jungwald abgefangen worden sei. Und der Tod ist dann wahrscheinlich erst nach einiger Zeit durch Erfrieren eingetreten. Der Gendarm, der den Mutmaßungen Dr. Piazolos zustimmend gefolgt war, berichtete nun seinerseits, daß der arme Waldmann, der jetzt stocksteif zu Füßen des Jägers lag, sogar noch lebendig gewesen sei, als man das vorgefallene Unglück entdeckt habe. Seiner Ansicht nach sei der Dachshund von dem Jäger vor dem Überqueren der Riese in den Rucksack gesteckt und dieser im Sturz irgendwie abgestreift worden. Der Rucksack habe nämlich ein Stück weit entfernt gelegen, und es habe von dort eine Spur hinübergeführt zu dem Jäger, an dessen Seite der Dachshund sich eine flache Kuhle in den nur an der Oberfläche gefrorenen Waldboden gegraben hatte. Eigenartigerweise sei der Dachshund, als man ihm und dem Jäger sich annäherte, auf einmal und obschon kaum mehr ein Hauch Leben in ihm war, toll geworden, so daß man ihn auf der Stelle habe erschießen müssen. Dr. Piazolo beugte sich zum wiederholten Mal über den Jäger, fasziniert, wie es schien, von der Tatsache, daß die Schneeflocken auf dessen Antlitz liegenblieben, ohne sich aufzulösen. Dann zog er behutsam die Roßdecke über den reglosen Körper, und zugleich, ausgelöst von weiß Gott was für einer winzigen Bewegung, spielte die Repetieruhr in der Westentasche oder im Hosensack des Jägers ein paar Takte des Lieds 'Üb immer Treu und Redlichkeit'. Die Männer blickten sich gegenseitig mit einem Ausdruck der Bestürzung an. Dr. Piazolo schüttelte den Kopf und stieg auf seine Maschine. Der Schlitten ruckte wieder an, und ich, den niemand bemerkt hatte, machte mich auf das letzte Stück meines Heimwegs. Die Leiche des Jägers Schlag, der anscheinend keinerlei Anverwandte hatte, ist, wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht habe, im Bezirksspital einer Autopsie unterzogen worden, aus der sich aber, über die bereits von Dr. Piazolo festgestellte Todesursache hinaus, keine weiteren Aufschlüsse ergaben, es sei denn, man bezeichnete es als bemerkenswert, daß auf dem linken Oberarm des Toten, wie aus dem Obduktionsbericht hervorgeht, eine kleine Barke eintätowiert war.

(Schwindel.Gefühle. S. 279ff)