Emyr und Gwendolyn Elias
(Austerlitz S. 65ff)
Ich bin aufgewachsen, so begann Austerlitz an jenem Abend in der Bar des Great Eastern Hotel, in dem Landstädtchen Bala in Wales, im Hause eines calvinistischen Predigers und ehemaligen Missionars, der Emyr Elias hieß und verehelicht war mit einer furchtsamen, aus einer englischen Familie stammenden Frau. Es ist mir immer unmöglich gewesen, zurückzudenken an dieses unglückliche Haus, das für sich allein etwas außerhalb des Orts auf einer Anhöhe stand und viel zu groß war für zwei Leute und ein einzelnes Kind.
Im oberen Stock gab es mehrere Zimmer, die abgesperrt waren jahraus und jahrein. Noch heute träumt es mir manchmal, daß eine der verschlossenen Türen sich auftut und ich über die
Schwelle trete in eine freundlichere, weniger fremde Welt. Auch von den nicht abgesperrten Zimmern waren einige außer Gebrauch. Nur spärlich mit einem Bett oder einem Kasten möbliert, die Vorhänge selbst untertags zugezogen, dämmerten sie in einem Halbdunkel dahin, das bald schon jedes Selbstgefühl auslöschte in mir. So ist mir aus meiner frühesten Zeit in Bala fast nichts mehr erinnerlich, außer wie sehr es mich schmerzte, auf einmal mit einem anderen Namen angeredet zu werden, und wie schrecklich es war, nach dem Verschwinden meiner eigenen Sachen, herumgehen zu müssen in diesen kurzen englischen Hosen, mit den ewig herunterrutschenden Kniesocken, einem fischnetzartigen Leibchen und
einem mausgrauen, viel zu leichten Hemd. Und ich weiß, daß ich in meiner schmalen Bettstatt in dem Predigerhaus oft stundenlang wachgelegen bin, weil ich versuchte, die Gesichter derjenigen mir vorzustellen, die ich, so fürchtete ich, verlassen hatte aus eigener Schuld; aber erst wenn die Müdigkeit mich lähmte und in der Finsternis meine Lider sich senkten, sah ich, für einen unfaßbaren Augenblick, die Mutter, wie sie sich herabneigt zu mir, oder den Vater, wie er sich lächelnd gerade den Hut aufsetzt.
Um so schlimmer war nach solchem Trost das Erwachen am frühen Morgen, das Jeden-Tag-von-neuem-Begreifenmüssen, daß ich nicht mehr zu Hause war, sondern sehr weit auswärts, in einer Art von Gefangenschaft. Erst neulich entsann ich mich wieder, wie sehr es mich bedrückte, daß in der ganzen Zeit, die ich bei dem Ehepaar Elias verbrachte, nie ein Fenster aufgemacht worden ist, und vielleicht habe ich deshalb, Jahre später an einem Sommertag, als ich, irgendwo
unterwegs, an einem Haus vorbeikam, dessen sämtliche Fenster offenstanden, mich auf eine so unbegreifliche Weise aus mir herausgehoben gefühlt. Beim Nachdenken über dieses Befreiungserlebnis entsann ich mich vor ein paar Tagen erst wieder, daß eines der beiden Fenster meines Schlafzimmers von innen zugemauert gewesen ist, während es von außen unverändert erhalten war, ein Umstand, hinter den ich, da man sich niemals zugleich innen und außen befindet, erst im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren gekommen bin, trotzdem er mich beunruhigt haben muß meine ganze Kindheit in Bala hindurch.
Es
hat mich immer gefroren in dem Predigerhaus, fuhr Austerlitz fort, nicht bloß im Winter, wenn oft nur der Herd in der Küche geschürt wurde und nicht selten der steinerne Boden des Eingangs von Reif überzogen war, sondern auch schon im Herbst und bis weit in das Frühjahr und die unfehlbar verregneten Sommer hinein. Und so wie in dem Haus in Bala
die Kälte herrschte, so herrschte in ihm auch das Schweigen. Die Frau des Predigers war ständig mit ihrem Haushalt beschäftigt, mit Abstauben und dem Aufwischen der Fliesen, mit der Kochwäsche, dem Polieren der Messingbeschläge an den Türen oder der Zubereitung der mageren Mahlzeiten, die wir dann wortlos meist einnahmen. Bisweilen ging sie auch
nur im Haus herum und sah nach, daß alles - unverrückt, wie es bei ihr stets sein mußte - noch an seinem Platz war. Einmal habe ich sie in einem der halbleeren Zimmer im oberen Stock auf einem Stuhl sitzen gefunden, mit Tränen in den Augen und dem nassen, zerknüllten Taschentuch in der Hand. Als sie mich unter der Türe stehen sah, erhob sie sich, sagte, es sei nichts, nur eine Erkältung, die sie sich geholt habe, und fuhr mir im Hinausgehen mit den Fingern durchs Haar, das einzige Mal, soviel ich weiß, daß dies geschehen ist.
Der Prediger saß indessen, wie das seine unabänderliche Gewohnheit war, in seinem Studierzimmer, das auf ein finsteres Eck des Gartens hinausging, und dachte sich seine am nächsten Sonntag zu haltende Predigt aus. Keine dieser Predigten hat er je niedergeschrieben, vielmehr erarbeitete er sie nur in seinem Kopf, indem er sich selber damit peinigte, wenigstens vier Tage lang. Völlig niedergeschlagen kam er jeweils am Abend aus seiner Kammer hervor, nur um am folgenden Morgen wieder in ihr zu verschwinden. Am Sonntag, wenn er vor die im Bethaus versammelte Gemeinde hintrat und ihr oft eine Stunde lang mit einer, wie ich noch zu hören glaube, sagte Austerlitz, tatsächlich erschütternden Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers, die Qualen der Verdammnis sowie, in den wundervollsten Stern- und Himmelsbildern, das Eingehen der Gerechten in die ewige Seligkeit vor Augen führte, war er ein verwandelter Mann. Immer gelang es ihm, anscheinend mühelos, so als erfände er noch die entsetzlichsten Dinge aus dem Stegreif heraus, die Herzen seiner Zuhörerschaft mit einem solchen Gefühl der Zerknirschung zu erfüllen, daß nicht wenige von ihnen am Ende des Gottesdienstes mit einem kalkweißen Gesicht nach Hause gingen. Er, der Prediger, hingegen, war den restlichen Sonntag in verhältnismäßig aufgeräumter Stimmung. Beim Mittagessen, das stets mit einer Sagosuppe begann, machte er in halb scherzhafter Form einige lehrreiche Bemerkungen gegen seine vom Kochen erschöpfte Gattin, erkundigte sich, in der Regel mit der Frage
»And how is the boy?«, nach meinem Ergehen und versuchte mich ein wenig aus meiner Einsilbigkeit herauszulocken.
Zum Beschluß des Mahls kam immer der Reispudding an die Reihe, der die Lieblingsspeise des Predigers war und über dessen Genuß er zumeist verstummte. Sowie das Essen vorüber war, legte er sich für eine Stunde auf dem Kanapee zur
Ruhe oder setzte sich, bei schönem Wetter, im Vorgarten unter den Apfelbaum und schaute ins Tal hinab, zufrieden mit dem geleisteten Wochenwerk nicht anders als der Herr Zebaoth nach der Erschaffung der Welt. Vor er am Abend in die Betstunde ging, entnahm er seinem Rolladenpult die blecherne Kassette, in welcher er das von der Kirche der calvinistischen Methodisten in Wales herausgegebene Kalendarium verwahrte, ein graues, ziemlich fadenscheinig schon gewordenes Büchlein, das die Sonn- und Feiertage der Jahre 1928 bis 1948 verzeichnete, und wo er, Woche für Woche, gegen jedes Datum fortlaufend seine Eintragungen gemacht hatte, indem er den dünnen Tintenblei aus dem Buchrücken zog, die Spitze mit der Zunge befeuchtete und sehr langsam und säuberlich, wie ein unter Aufsicht stehender Schüler, das Bethaus vermerkte, wo er an diesem Tag gepredigt hatte, und die Stelle in der Bibel, von der er ausgegangen war, also beispielsweise unter dem 20. Juli 1939: at the Tabernacle, Llandrillo - Psalms CXXVII/4 »He telleth the number of the stars and calleth them all by their names«, oder unter dem 3. August 1941: Chapel Uchaf, Gilboa — Zephanaiah III/6 »I have cut off the nations: their towers are desolate; I made their streets waste, that none passeth by«, oder unter dem
21. Mai 1944: Chapel Bethesda, Corwen — Isaiah XLVIII/ 1 8 »O that thou hadst hearkened to my commandments!
then had thy peace been as a river and thy righteousness as the waves of the sea!« Die letzte Eintragung in diesem Büchlein, das zu dem wenigen gehört, was aus dem Besitz des Predigers nach seinem Tod auf mich übergegangen ist und das ich in der letzten Zeit oftmals durchblättert habe, sagte Austerlitz, wurde auf einem der zusätzlich eingelegten Blätter
gemacht. Sie datiert vom 7. März 1952 und lautet: Bala Chapel — Psalms CII/ 6 »I am like a pelican in the wilderness. I am like an owl in the desert.«
Natürlich sind die sonntäglichen Predigten, von denen ich mehr als fünfhundert angehört haben muß, mir als Kind größtenteils über den Kopf hinweggegangen, aber auch wenn die Bedeutung der einzelnen Wörter und Sätze mir lange verschlossen blieb, so begriff ich doch, gleich ob Elias sich des Englischen oder des Walisischen bediente, daß von der Sündhaftigkeit und der Bestrafung der Menschen die Rede war, von Feuer und Asche und dem drohenden Ende der Welt. Es sind allerdings nicht die biblischen Zerstörungsbilder, die sich in meiner Erinnerung heute mit der calvinistischen Eschatologie verbinden, sagte Austerlitz, sondern es ist das, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, wenn ich mit Elias auswärts gewesen bin. Viele seiner jüngeren Amtsbrüder waren bald nach Kriegsbeginn zum Heeresdienst verpflichtet worden, und Elias mußte darum seine Predigten jeden zweiten Sonntag wenigstens in einer anderen, oft ziemlich weit entfernten Gemeinde halten. Wir machten die Fahrten über das Land anfangs in einem zweisitzigen, von einem fast schneeweißen Pony gezogenen
Wägelchen, in welchem Elias, seiner Gewohnheit entsprechend, auf dem Hinweg immer in der allerdunkelsten Geistesverfassung hockte. Auf dem Rückweg aber erhellte sich sein Gemüt, wie zu Hause auch an den Sontagnachmittagen; ja, es kam sogar vor, daß er vor sich hinsummte und ab und zu die Geißel ein wenig schnalzen ließ über den Ohren des Pferdchens. Und diese hellen und dunklen Seiten des Predigers Elias hatten ihre Entsprechung in der
gebirgigen Landschaft um uns herum. Ich erinnere mich, sagte Austerlitz, wie wir einmal durch das endlose Tanat-Tal hinauffuhren, rechts und links an den Abhängen nichts als krummes Holz, Farne und rostfarbenes Kraut, und dann, das letzte Stück zu dem Joch hinauf, nur noch graues Felsengestein und treibende Nebel, so daß ich fürchtete, wir näherten uns dem äußersten Rand der Erde.
Umgekehrt habe ich einmal erlebt, als wir gerade die
Paßhöhe von Pennant erreicht hatten, daß in einer im Westen sich auftürmenden Wolkenwand eine Lücke sich auftat und die Strahlen der Sonne niedergingen in einer schmalen Bahn bis auf den weit drunten in schwindelerregender Tiefe vor uns liegenden Grund des Tals. Wo eben noch nichts als eine bodenlose Düsternis gewesen war, von dort leuchtete nun, umgeben von schwarzen
Schatten ringsum, eine kleine Ortschaft herauf, mit ein paar Obstgärten, Wiesen und Feldern, grün funkelnd gleich der Insel der Seligen, und indem wir über die Paßstraße hinabschritten neben dem Pferd und dem Wagen her, wurde alles lichter und lichter, die Bergseiten traten hervor hell aus der Dunkelheit, das feine, vom Wind gebeugte Gras schimmerte auf, drunten am Ufer des Baches erglänzten die silbernen Weiden, und bald kamen wir aus den leeren Höhen
wieder unter die Büsche und Bäume hinein, unter die leise raschelnden Eichen, die Ahorne und die Ebereschen, die schon überall voll waren mit roten Beeren.
Einmal, ich glaube in meinem neunten Jahr, bin ich mit Elias eine Zeitlang drunten im Süden von Wales gewesen, in einer Gegend, in der die Flanken der Berge zu beiden Seiten der Straße aufgerissen waren und die Wälder zerfetzt und niedergemacht. Ich weiß nicht mehr, wie der Ort geheißen hat, in dem wir bei
Einbruch der Nacht anlangten. Er war von Kohlenhalden umgeben, deren Ausläufer stellenweise bis in die Gassen hineinreichten. Als Quartier hatte man uns im Haus eines der Kirchenvorsteher ein Zimmer gerichtet, von dem aus man einen Förderturm sehen konnte mit einem riesigen Rad, das sich manchmal so und manchmal andersherum drehte in dem dichter werdenden Dunkel, und weiter talabwärts sah man in regelmäßigen Abständen von jeweils vielleicht drei
oder vier Minuten hohe Feuer- und Funkengarben aus den Schmelzöfen eines Hüttenwerks stieben bis hoch in den Himmel hinauf. Als ich schon im Bett lag, saß Elias lang noch auf einem Schemel am Fenster und schaute stillschweigend hinaus. Ich glaube, daß es der Anblick des einmal ums andere im Feuerschein aufleuchtenden und gleich darauf wieder in der Finsternis versinkenden Tales gewesen ist, der Elias die von ihm am nächsten Morgen gehaltene Offenbarungspredigt
eingab, eine Predigt über die Rache des Herrn, über den Krieg und die Verheerung der Wohnstätten der Menschen, mit der er, wie der Vorsteher zu ihm beim Abschied sagte, sich selbst übertroffen hatte bei weitem.
War die Zuhörerschaft während der Predigt vor Schrecken beinah versteinert gewesen, so hätte mir die von Elias beschworene Gottesgewalt wohl kaum nachhaltiger eingeprägt werden können als durch die Tatsache, daß in dem am Ausgang des Tales gelegenen Städtchen, in dem Elias am selben Abend noch den Vorsitz bei der Betstunde übernehmen sollte, am hellichten
Nachmittag eine Bombe in das Kinotheater eingeschlagen war. Die Trümmer rauchten noch, als wir die Ortsmitte erreichten. Die Leute standen in kleinen Gruppen auf der Straße, manche noch vor Entsetzen die Hand vor dem Mund. Die Feuerwehr war quer über das Blumenrondell gefahren, und auf dem Rasenplatz lagen in ihren Sonntagskleidern die Leichen derjenigen, die sich, wie Elias mir nicht erst zu sagen brauchte, versündigt hatten gegen das heilige Sabbat-Gebot. Nach und nach ist so in meinem Kopf eine Art von alttestamentarischer Vergeltungsmythologie entstanden, deren Hauptstück für mich übrigens immer der Untergang der Gemeinde Llanwddyn in den Wassern des Stausees von Vyrnwy gewesen ist.
Soweit ich mich entsinne, war es auf der Rückfahrt von einer seiner auswärtigen Verpflichtungen, entweder in Abertridwr oder in Pont Llogel, daß Elias den Wagen an dem
Seeufer angehalten hat und mich hinausführte bis auf die Mitte der Staumauer, wo er mir dann erzählte von seinem Vaterhaus, das dort drunten in einer Tiefe von vielleicht hundert Fuß unter dem dunklen Wasser stünde, und nicht bloß sein Vaterhaus allein, sondern noch mindestens vierzig andere Häuser und Höfe und die Kirche zum heiligen Johann von Jerusalem und drei Kapellen und drei Bierschenken, die samt und sonders ab dem Herbst 1888, nachdem der Damm fertiggestellt war, überschwemmt worden seien. Besonders bekannt, so, sagte Austerlitz, habe ihm Elias erzählt, sei Llanwddyn in den Jahren vor seinem Untergang vor allem dadurch gewesen, daß auf dem Anger des Dorfes, wenn im Sommer der Vollmond schien, oft die ganze Nacht hindurch Fußball gespielt wurde, und zwar von mehr als zehn Dutzend teilweise aus den Nachbarorten herübergekommenen Burschen und Männern beinahe jeden Alters zugleich. Die Fußballgeschichte von Llanwddyn hat mich lange Zeit in der Phantasie beschäftigt, sagte Austerlitz, in erster Linie sicher, weil Elias mir gegenüber weder je zuvor noch je später irgendeine Bemerkung machte über sein eigenes Leben.
In diesem einen Augenblick auf der Staumauer von Vyrnwy, in dem er, aus Vorsatz oder aus Unachtsamkeit, mich hineinsehen ließ in das Innere seiner Predigerbrust, fühlte ich so sehr mit ihm, daß er, der Gerechte, mir wie der einzige Überlebende der Flutkatastrophe von Llanwddyn erschien, während ich die anderen alle, seine Eltern, seine Geschwister, seine Anverwandten, die Nachbarsleute und die übrigen Dorfbewohner, drunten in der Tiefe noch wähnte, wo sie weiterhin in ihren Häusern saßen und auf der Gasse herumgingen, aber ohne sprechen zu können und mit viel zu weit offenen Augen. Diese Vorstellung, die in mir entstand von der subaquatischen Existenz der Bevölkerung von Llanwddyn hatte auch etwas mit dem Album zu tun, das Elias am Abend unserer Heimkehr mir zum erstenmal zeigte und das diverse Ansichten von seinem in den Wellen versunkenen Geburtsort enthielt. Da es sonst keinerlei Bilder gab in dem Predigerhaus, habe ich diese paar wenigen Photographien, die später zusammen mit dem calvinistischen Kalender in meinen Besitz gekommen sind, immer wieder von neuem angeschaut, bis die Personen, die mir aus ihnen entgegensahen, der Schmied mit dem
Lederschurz, der Posthalter, der der Vater von Elias gewesen ist, der Hirt, der mit den Schafen durch die Dorfstraße zieht, und vor allem das Mädchen, das mit seinem kleinen Hund auf dem Schoß auf einem Sessel im Garten sitzt, so vertraut wurden, als lebte ich bei ihnen auf dem Grund des Sees.
Nachts vor dem Einschlafen in meinem kalten Zimmer war es mir oft, als sei auch ich untergegangen in dem dunklen Wasser, als müßte ich, nicht anders als die armen Seelen von Vyrnwy, die Augen weit offen halten, um hoch über mir einen schwachen Lichtschein zu sehen und das von den Wellen gebrochene Spiegelbild des steinernen Turms, der so furchterregend für sich allein an dem bewaldeten Ufer steht. Bisweilen bildete ich mir sogar ein, die eine oder andere der Photofiguren aus dem Album gesehen zu haben auf der Straße in Bala oder draußen auf dem Feld, besonders an heißen
Sommertagen um die Mittagszeit, wenn niemand sonst um die Wege war und die Luft etwas flimmerte. Elias untersagte mir, von derlei Dingen zu reden.
Um dieselbe Zeit herum verschlechterte sich der Gesundheitszustand Gwendolyns, zunächst kaum merklich, bald aber mit zunehmender Geschwindigkeit. Sie, die doch stets auf die peinlichste Ordnung gehalten hatte, fing nun an, zuerst das Haus und darauf sich selber zu vernachlässigen. In der Küche stand sie nurmehr ratlos herum, und wenn Elias, so gut er es vermochte, eine Mahlzeit zubereitete, nahm sie fast gar nichts zu sich.
Mit Gwendolyn war es im Verlauf meiner zweimonatigen Abwesenheit weiter noch abwärts gegangen. Sie lag jetzt den ganzenTag auf ihrem Bett und blickte starr an die Decke hinauf. Elias kam jeden Morgen und jeden Abend eine Zeitlang zu ihr, aber weder er noch Gwendolyn sprach ein einziges Wort. Es war, so scheint es mir, wenn ich daran
zurückdenke, sagte Austerlitz, als würden sie von der Kälte in ihren Herzen langsam ums Leben gebracht. Ich weiß nicht, an was für einer Krankheit Gwendolyn zugrunde ging, und glaube, daß sie es selbst nicht hätte sagen können. Ihr entgegenzusetzen hatte sie jedenfalls nichts als das eigentümliche Bedürfnis, das sie mehrmals am Tag und vielleicht auch während der Nacht überkam, sich einzupudern mit einer Sorte billigen Talkums, von der eine große Streudose auf
dem Tischchen neben der Bettseite stand.
In solchen Mengen verwendete Gwendolyn diese staubfeine, etwas fettige Substanz, daß der Linoleumboden um ihr Lager herum und bald das ganze Zimmer und die Korridore im oberen Stock überzogen waren von einer weißen, durch die Feuchtigkeit der Luft leicht schmierig gewordenen Schicht. Mir ist dieses Einweißen des Predigerhauses erst neulich wieder in den Sinn gekommen, sagte Austerlitz, als ich bei einem russischen Schriftsteller in seiner Kindheits- und Jugendbeschreibung von einer ähnlichen Pudermanie las, die seine Großmutter gehabt hatte, eine Dame, die sich allerdings, trotzdem sie die meiste Zeit auf dem Kanapee lag und sich fast ausschließlich von Weingummis und Mandelmilch ernährte, einer eisernen Konstitution erfreute und immer bei sperrangelweit offenem Fenster schlief, weshalb es auch einmal geschah, daß sie eines Morgens, nachdem es draußen die ganze Nacht gestürmt hatte, unter einer Schneedecke erwachte, ohne dadurch auch nur den geringsten Schaden zu nehmen. So freilich ist es in dem Predigerhaus nicht gewesen. Die Fenster des Krankenzimmers blieben ständig geschlossen, und der weiße Puder, der sich Gran für Gran überall abgelagert hatte und durch den sich schon richtige
Wegspuren zogen, hatte nichts von glitzerndem Schnee. Eher erinnerte er schon an das Ektoplasma, von dem Evan mir einmal erzählt hatte, daß Hellseherinnen es aus ihrem Mund hervorbringen können in großen Blasen, die dann zu Boden sinken, wo sie schnell austrocknen und zerfallen zu Staub. Nein, es war kein frischgefallener Schnee, der in das Predigerhaus hinein wehte; was es erfüllte, war etwas Ungutes, von dem ich nicht wußte, woher es kam, und für das ich erst viel später in einem anderen Buch die zwar völlig unverständliche, mir aber doch, so sagte Austerlitz, sofort einleuchtende Bezeichnung »das arsanische Grauen« gefunden habe.
Es war im kältesten Winter seit Menschengedenken, daß ich zum zweitenmal von der Schule in Oswestry nach Hause kam und Gwendolyn kaum noch am Leben fand. Im Kamin des Krankenzimmers schwelte ein Kohlenfeuer. Der gelbliche Qualm, der von den glosenden
Brocken aufstieg und nicht recht abziehen wollte, vermengte sich mit dem im ganzen Haus hängenden Karbolgeruch. Ich stand Stunden am Fenster und studierte die wunderbaren Formationen der zwei bis drei Zoll hohen Eisgebirge, die sich über den Querleisten gebildet hatten durch das an den Scheiben herabrinnende Wasser. Aus der Schneelandschaft
draußen tauchten ab und zu einzelne Figuren auf. In dunkle Schultertücher und Decken gehüllt, das Regendach gegen das Flockengestöber aufgespannt, schwankten sie den Hügel herauf. Ich hörte sie drunten im Eingang ihre Stiefel abstoßen, ehe sie, begleitet von der Nachbarstochter, die nun für den Prediger das Hauswesen führte, langsam die Stiege
erklommen. Mit einem gewissen Zögern und so, als ob sie sich unter etwas bücken müßten, traten sie über die Schwelle und stellten das, was sie mitgebracht hatten - ein Glas eingewecktes Blaukraut, eine Dose Corned beef oder eine Flasche Rhabarberwein -, auf der Kommode ab. Gwendolyn bemerkte diese Besucher nicht mehr, und die Besucher ihrerseits
wagten nicht, sie anzuschauen. Meistens standen sie eine Weile bei mir am Fenster, sahen wie ich hinaus und räusperten sich manchmal ein wenig. Wenn sie sich wieder entfernt hatten, war es so still wie zuvor, bis auf die flachen Atemzüge, die ich hinter mir hörte und zwischen denen jedesmal eine Ewigkeit zu vergehen schien. Am Weihnachtstag richtete sich
Gwendolyn mit äußerster Anstrengung noch einmal auf. Elias hatte ihr eine Tasse gezuckerten Tee gebracht, aber sie netzte damit nur ihre Lippen. Dann sagte sie, so leise, daß man es fast nicht hören konnte: What was it that so darkened our world? Und Elias antwortete ihr: I don’t know, dear, I don’t know. Bis in das neue Jahr dämmerte Gwendolyn noch dahin. Am Tag Epiphanias aber war sie angelangt auf der letzten Stufe.
Draußen die Kälte war immer schwerer
geworden, und immer lautloser wurde es auch. Das gesamte Land, erfuhr ich später, war in diesem Winter zum Stillstand gekommen. Sogar den Bala-See, den ich bei meiner Ankunft in Wales für das Weltmeer gehalten hatte, bedeckte eine dicke Schicht Eis. Ich dachte an die Rotaugen und Aale in seiner Tiefe und an die Vögel, von denen mir die Besucher gesagt hatten, daß sie steifgefroren von den Zweigen der Bäume fielen. All diese Tage über war es nie richtig hell geworden, und wie zuletzt, in einer ungeheuren Entfernung, die Sonne ein wenig aus dem nebligen Blau hervorkam, da machte die Sterbende die Augen weit auf und wollte ihren Blick nicht mehr von dem schwachen Licht wenden, das durch die Scheiben des Fensters drang. Erst beim Dunkelwerden senkte sie ihre Lider, und nicht lange danach kam mit jedem
Atemzug ein gurgelndes Geräusch aus ihrem Rachen herauf. Ich saß die ganze Nacht hindurch mit dem Prediger zu ihrer Seite. Im Morgengrauen hörte das Röcheln auf. Dann wölbte sich Gwendolyn ein wenig nach oben, ehe sie wieder in sich zusammensank. Es war eine Art von Sich-Strecken, gerade so, wie ich es einmal gespürt hatte an einem verletzten Hasen, dem, als ich ihn vom Feldrain aufhob, vor Angst das Herz aussetzte in meiner Hand. Gleich nach der
Todesanspannung aber war es, als verkürzte sich der Körper Gwendolyns um ein Stückchen, so daß ich denken mußte an das, was Evan erzählt hatte. Ich sah die Augen in ihre Höhlen zurücktreten und die Reihe der schief ineinander gewachsenen unteren Zähne, die zur Hälfte entblößt worden waren von den dünnen, nun straff nach hinten gespannten Lippen, während draußen, zum erstenmal seit langem, das Morgenrot über die Dächer von Bala streifte.
Elias hat den Tod seiner Frau nie verwunden. Trauer ist nicht das richtige Wort für den Zustand, in den er geraten war, seit sie im Sterben lag, sagte Austerlitz. Obzwar ich es damals als Dreizehnjähriger nicht begriff, sehe ich heute, daß das in ihm aufgestaute Unglück seinen Glauben genau in der Zeit, da er ihn am meisten brauchte, zerstört hatte. Als ich im Sommer wieder nach Hause kam, war es ihm seit Wochen schon nicht mehr möglich, sein Predigeramt zu versehen. Einmal ist er noch auf die Kanzel gestiegen. Er schlug die Bibel auf und las, mit gebrochener Stimme, und so, als läse er nur für sich, aus den Klageliedern den Spruch:
He has made me dwell in darkness as those who have been long dead. Die Predigt dazu hat Elias nicht mehr gehalten. Er stand bloß eine Zeitlang da und schaute über die Köpfe seiner vor Schrecken gelähmten Gemeinde hinweg, mit den unbeweglichen Augen eines Erblindeten wie mir schien. Dann stieg er langsam von der Kanzel wieder herunter und ging aus dem Bethaus hinaus. Noch vor Ende des Sommers überführte man ihn nach Denbigh. Ich habe ihn dort nur ein einziges Mal besucht, in der Vorweihnachtszeit, zusammen mit einem Vorsteher der Gemeinde. Die Kranken waren untergebracht in einem großen steinernen Haus. Ich erinnere mich, sagte
Austerlitz, daß wir warten mußten in einem grüngestrichenen Raum. Nach einer Viertelstunde vielleicht kam ein Wärter und führte uns zu Elias hinauf. Er lag in einem Gitterbett, mit dem Gesicht gegen die Wand. Der Wärter sagte: Your son’s here to see you, parech, aber Elias war auch durch eine zweite und dritte Anrede zu keiner Antwort zu bringen. Als
wir das Zimmer wieder verließen, zupfte einer der anderen Insassen, ein struppiges, eisgraues Männlein, mich am Ärmel und flüsterte mir hinter vorgehaltener Hand zu: he's not a full Shilling you know, was ich seltsamerweise damals, sagte Austerlitz, als eine beruhigende, die ganze trostlose Lage für mich erträglich machende Diagnose empfand.
Mehr als ein Jahr nach dem Besuch in der Anstalt in Denbigh, zu Beginn des Sommertrimesters 1949, als wir gerade
mitten in den Vorbereitungen auf die unseren weiteren Weg entscheidenden Prüfungen standen, so nahm Austerlitz nach einer gewissen Zeit seine Erzählung wieder auf, ließ mich der Schuldirektor Penrith-Smith eines Morgens zu sich rufen. Ich sehe ihn jetzt vor mir in seinem ausgefransten Talar, wie er, um wölkt vom blauen Qualm seiner Tabakspfeife, in dem durch das Gitterwerk der bleiverglasten Fenster schräg hereinfallenden Sonnenlicht stand und in der für ihn bezeichnenden wirren Art mehrmals, vorwärts und rückwärts, wiederholte, ich hätte mich vorbildlich gehalten, unter den Umständen, ganz vorbildlich, in Anbetracht der Geschehnisse in den vergangenen zwei Jahren, und wenn ich in den nächsten Wochen die von meinen Lehrern zweifellos zurecht in mich gesetzten Hoffnungen erfüllte, so stünde mir für die Absolvierung der Oberstufe ein Stipendium der Stower Grange Trustees zur Verfügung. Vorderhand allerdings sei er verpflichtet, mir zu eröffnen, daß ich auf meine Examenspapiere nicht Dafydd Elias, sondern Jacques Austerlitz schreiben
müsse. It appears, sagte Penrith-Smith, that this is your real name. Meine Zieheltern, mit denen er bei meinem Schuleintritt des längeren gesprochen habe, hätten die Absicht gehabt, mich rechtzeitig vor Beginn der Prüfungen über meine Herkunft aufzuklären und, womöglich, zu adoptieren, aber so wie die Dinge nun liegen, sagte Penrith-Smith, sagte Austerlitz, sei das ja ausgeschlossen, bedauerlicherweise. Er selber wisse nur, daß das Ehepaar Elias in seinem
Haus mich aufgenommen habe zu Beginn des Krieges, als ich noch ein kleiner Knabe gewesen sei, und könne mir deshalb nichts Näheres sagen.
Natürlich habe ich, wenn wir in der Halbwegstation Bala haltmachten, an das Predigerhaus zurückdenken müssen, das man droben auf seiner Anhöhe stehen sah, doch ist es mir stets dabei unvorstellbar gewesen, daß ich zu seinen unglücklichen Insassen gehört hatte beinahe mein ganzes bisheriges Leben lang. Jedesmal beim Anblick des Bala-Sees,
besonders im Winter, wenn er aufgerührt war vom Sturm, ist mir auch die Geschichte wieder eingefallen, die der Schuster Evan erzählt hatte von den beiden Quellflüssen Dwy Fawr und Dwy Fach, von denen es heißt, daß sie den See, weit drunten in seiner finsteren Tiefe, der Länge nach durchströmen, ohne sich zu vermengen mit seinen Wassern. Ihre Namen trügen die beiden Flüsse, so, sagte Austerlitz, habe Evan gesagt, nach den einzigen Menschenwesen, die
dereinst nicht untergegangen waren, sondern gerettet wurden aus der biblischen Flut.
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