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Über das Land und das Wasser S. 57ff
Schwindel.Gefühle. S. 295ff



September 1666
Zwei Tage und zwei Nächte wütet das "Große Feuer von London", das vier Fünftel der Stadt in Schutt und Asche legt.
Thomas Farryner, Bäcker Königs Charles II., löscht am Abend das Feuer im Ofen, vergißt aber, es mit Wasser auszulöschen. Herausfallende Glut setzt den nahen Holzstapel in Brand. Gierig fressen die Flammen sich weiter: Stroh auf dem Boden, hölzerne Tische, Balken. Als Farryners Lehrling vom Qualm und von der Hitze im Inneren des Hauses gegen ein Uhr erwacht, sind die Ausgänge durch Flammen versperrt. Er weckt alle, sie entkommen über eine Dachluke - bis auf das Dienstmädchen, die Angst vor dem Klettern hat, das erste Opfer der Flammen.
Die strohgedeckten Fachwerkhäuser sind reichlich Futter für das gefräßige Feuer. Der heftige Ostwind facht es zusätzlich an. Um vier Uhr wecken Schutzmänner Sir Thomas Bludworth, den Oberbürgermeister von London. Er sieht zum Fenster hinaus. Bevor er wieder zu Bett geht, sagt er zu den Wachleuten: "Pah! Das kann eine Frau auspinkeln!"
Niemand kann die sich rasend ausbreitenden Flammen stoppen. Mit Äxten, Seilen und Haken versuchen die Einwohner Fachwerkhäuser niederzureißen, Lücken zu schaffen. Doch das Feuer ist außer Kontrolle. Als es die Warenhäuser in der Thames Street erreicht - voll Talg, Öl und Kohle - erhitzt es sich so stark, dass kein Mensch mehr in der Nähe kann. Voller Verzweiflung packen die Londoner ihre Habseligkeiten auf Karren und Boote - deren Preise sich innerhalb kürzester Zeit verzehnfachen. Manche verstecken Musikinstrumente in der Kanalisation. Andere vergraben Wein und Parmesankäse im Garten. Die Hitze ist so groß, dass die Steine der St. Pauls Kathedrale wie Granaten durch die Luft fliegen. Tauben fangen Feuer und verbrennen.
Am Morgen, einem Sonntag, hat das Feuer bereits an die dreihundert Gebäude zerstört. Der König gibt Befehl, Häuser niederzureißen, um es so zu stoppen. Aber immer wieder überspringen die Flammen die Lücken. Die Londoner verlässt der Mut. Zu Zehntausenden strömen sie aus der Stadt auf die schützenden Hügel der Umgebung.
Erst mit dem Abflauen des Windes und Lücken, die man mit Hilfe von gezielten Explosionen in die Häuserzeilen reißt, ist das Feuer unter Kontrolle zu bringen. Das Ausmaß der Katastrophe: 9 Tote, 13.200 Häuser verbrannt, 87 Kirchen und zahllose Hauptgebäude zerstört, 200.000 Not Leidende müssen die kommenden Monate in provisorisch zusammengezimmerten Hütten und Schuppen ihr Dasein fristen. 10 Millionen Pfund kostet die Stadt der große Brand. Der Architekt Christopher Wren baut 49 neue Kirchen, darunter auch die St. Pauls Kathedrale.





Siehe auch Lexikon






Langsam bewegte sich der Zug aus dem Bahnhof Liverpool Street hinaus, vorbei an den rußigen Ziegelmauern, die mir wegen der in sie eingelassenen Nischen immer wie Teile eines weitläufigen und hier an die Oberfläche tretenden Katakombensystems vorgekommen sind. Aus den Fugen und Rissen des im letzten Jahrhundert fertiggestellten Mauerwerks sind im Verlauf der Zeit zahlreiche Schmetterlingssträucher gewachsen, die ja bekanntlich mit den ärmlichsten Bedingungen vorliebnehmen. Als ich im Sommer auf dem Weg nach Italien zuletzt an diesen schwarzen Wänden vorbeigefahren war, standen die spärlichen Gewächse gerade ein bißchen in Blüte. Und beinah hätte ich meinen Augen nicht trauen wollen, wie ich, während der Zug vor dem Signal wartete, von einer Staude zur anderen, bald oben, bald unten, bald links, immer in Bewegung, einen Zitronenfalter sich herumtreiben sah. Aber das war schon wieder Monate her, und die Erinnerung daran entsprang, wie ich mir nun sagte, möglicherweise nur meinem Wunschdenken. Hingegen war nicht zu zweifeln an der Wirklichkeit meiner armen Mitreisenden, die am frühen Morgen alle frisch geputzt und gestriegelt aufgebrochen waren, jetzt aber gleich einer geschlagenen Armee in ihren Sitzen hingen und, ehe sie ihren Zeitungen sich zuwandten, mit blind bewegungslosen Augen auf die Vorhöfe der Metropole hinausstarrten. Wo die Häuserwüste weiter sich auftat, erhoben sich in der Entfernung drei ganz und gar eingerüstete, von wabernden grünen Blachen umgebene Wohntürme, und noch viel weiter draußen, vor dem lichterlohen Himmelsstreifen am westlichen Horizont, wallte aus der die gesamte Stadt überziehenden blauschwarzen Wolkendecke wie eine ungeheure Trauerfahne ein Regenschauer herab. Als der Zug die Gleise wechselte, konnte ich einen Blick zurück tun auf die alles bei weitem überragenden, in ihrem obersten Bereich von dem aus Westen flach einfallenden Licht vergoldeten Wunderbauten der City. Die Vorstädte trieben vorbei - Arden und Maryland -, und bald gewannen wir das offene Land. Der westliche Horizont begann zu erlöschen. Schon senkten die Abendschatten sich über die Hecken und Felder. Ich blätterte ein wenig in der Dünndruckausgabe - Everyman's Library 1913 - des Tagebuchs von Samuel Pepys, die ich am Nachmittag erstanden hatte. Willkürlich las ich hier ein Stückchen und da in dem über eineinhalbtausend Seiten sich ausbreitenden Zehnjahresbericht, bis der Schlaf mich ankam und ich dieselben paar Zeilen wieder und wieder entziffern mußte, ohne sie doch verstehen zu können. Dann träumte mir, daß ich durch eine bergige Gegend gegangen bin. Lang zog sich die mit feinem weißem Schotter bedeckte Straße in endlosen Kehren durch die Wälder hinan und hinauf und führte zuletzt auf der Höhe des Passes durch einen tiefen Einschnitt auf die andere Seite des Gebirges hinüber, das, wie ich im Traum wußte, die Alpen gewesen sind. Alles, was ich von dort oben aus sah, war einerlei kalkfarben, ein helles, gleißendes Grau, in dem Myriaden von Quarzsplittern schimmerten. Dieses machte mir seltsamerweise den Eindruck, als zerstrahle der Stein. Von meinem Aussichtspunkt aus führte die Straße bergab, und in der Ferne erhob sich ein zweites, zumindest ebenso hohes Gebirge, das ich, wie ich ahnte, nicht mehr würde überwinden können. Zu meiner Linken ging es in eine wahrhaft schwindelerregende Tiefe hinab. Ich trat bis an den Rand der Straße, und es war mir bewußt, daß ich überhaupt noch nie in eine solche Tiefe hinabgeschaut hatte. Nirgends war ein Baum zu sehen, kein Strauch, kein Krüppelholz, kein Büschelchen Gras, sondern es war alles nur Stein. Die Schatten der Wolken liefen über die jähen Abhänge und durch die Schluchten. Nichts rührte sich sonst. Es herrschte die äußerste Stille, denn auch die letzten Spuren des Pflanzenlebens, das letzte raschelnde Blatt oder Rindenfetzchen waren längst verweht, und bloß das Gestein lag bewegungslos auf dem Grund. Als ein fast vergangenes Echo kehrten sodann in diese atemlose Leere die Worte zurück -
















Day Return

I

Vorsichtig die Geleise sortierend bewegt sich der Frühzug
durchs Weichbild des Bahnhofs
ein Tatzelwurm auf dem Weg in die Hauptstadt

Vernietet das Grau eiserner Brücken und quer durch den Nebel
ein stiller Kanal
darauf eine Barke
der Jäger Gracchus
ist schon an Land

Rückwärtige Ansichten minderer Häuser
Blech und Bretterverschläge
Hundehütten ausgeweidete
Autos und winzige
selber gebastelte Glaspaläste
mit erhängten Tomatenstauden
die Hoffnungen vom vergangenen Jahr

Am Stadtrand das Kraftwerk auf dem Rücken liegend
ein kranker Elefant
ganz leis durch den Rüssel
noch atmend

Gold im Mund verbirgt sich mir gegenüber ein kleiner Kleriker
hinter den Neuigkeiten des Tages
die Druckerschwärze der Gottlosigkeit
an den rosanen Fingerchen
eines tagblinden Pelztiers

Wer schrieb die Warnung Hands off Caroline
an die Brandmauer
in Ipswich wer kennt die Namen
unserer Brüder der Enten
in den städtischen Anlagen von Chelmsford
unter der Weide auf der Insel im Teich

Who knows the noises
made by the animals
in Romford at night
and who will teach
the King's starling
to whistle a new song

Einfahrt in die nordöstlichen
Vorhöfe der Metropole
Gilderson's Funeral Service

Merton's Rubbish Disposal
die A1 Wastepaper Company
Stratford die Wälder von Arden
und die ersten Kolonisten
auf dem Bahnsteig von Maryland
himmlisches Jerusalem
Skyline der City
Ziegelkatakomben
Liverpool Street Station

Fragmente aus dem Bericht über das große Feuer von London. Ich sah es wachsen mehr und mehr. Es war nicht hell, es war ein grausig blutig böses Lohen, vom Wind getrieben durch die ganze Stadt. Zu Hunderten die toten Tauben auf dem Pflaster, das Federkleid versengt. Ein Haufen Plünderer in Lincoln's Inn. Die Kirchen, Häuser, Holz und Mauersteine, alles brennt zugleich. Am Gottesacker die immergrünen Bäume fangen Feuer. Ein rasend kurzer Fackelbrand, ein Krachen, Funkenstieben und Erlöschen. Des Bischofs Braybrookes Grab ist aufgetan. Ist dies die letzte Stunde? Ein dumpfer, ungeheurer Schlag. Wie Wellen in der Luft. Das Pulverhaus fliegt auf. Wir fliehen auf das Wasser. Um uns der Widerschein, und vor dem tiefen Himmelsdunkel in einem Bogen hügelan die ausgezackte Feuerwand bald eine Meile breit. Und ändern Tags ein stiller Aschenregen - westwärts, bis über Windsor Park hinaus.

- 2013 -

Ende
















II

Die untergehende Stadt im Rücken lese ich abends auf dem Heimweg
den Bericht des Samuel Pepys
über das große Feuer von London

People taking to boats many pigeons killed panic on the river looting near Lincoln's Inn Bishop Baybrooke's corpse exposed fragments blown to Windsor Park

Der Tatzelwurm zieht durch die Landschaft
Nachtschatten Hecken und Felder
und milde leuchtend im Finstern
der inzwischen vollends
verschiedene Elefant


Zu Samuel Pepys siehe Lexikon
Zu Jäger Gracchus siehe Lexikon fiktiver Gestalten
Liverpool Street Station 1874 fertig gestellt. Londoner Endstation der ehemaligen Great Eastern Railway, die ursprünglich Verbindungen nach Norwich über Ipswich anbot. An dieser Linie Stratford, Maryland, Chelmsford und Romford
Wald von Arden Fiktiver Ort in Shakespeares "Wie es euch gefällt"
King's starling Anspielung auf Mozarts Liebe zu Vögeln. Er hielt sich u.a. einen Star (das 'Starl'), der das Thema Klavierkonzert G-Dur KV 453 zwitschern konnte, mit allen Ehren beigesetzt wurde und dem Mozart eine lange Grabinschrift dichtete
Himmlisches Jerusalem siehe Lexikon