Erzbischof Theophon, mit einem ganz kleinen,
gelben Psittig in der Hand auf ihn zutritt
und im Lauf einer lateinischen Konversation
ihm eine Sage aus dem Bezirk Dolji erzählt,
die berichtet, daß Gott auf einmal
und wie aus heiterem Himmel
auf einem Lungenkrautblatt entstand.
Kaum etwas ist ja so unwandelbar wie die Bosheit, mit der die Literaten hinterrücks übereinander reden.
Confrères
John Burnside
geboren 1955
Schotte,
Software-Entwickler,
Professor für Kreatives Schreiben,
drogen-, dann schreibsüchtig
Er zeigte sie uns durch die Augen eines Stendhal oder eines Kafka oder, nüchtern und erschreckend intim, in den unruhigen, schwindelerregend phantasievollen und zuweilen paranoiden Gedanken eines gewissen W. G. Sebald - seines Alter Ego, des Erzählers seiner Werke: ein "Ich", das Genie und Jedermann ist, Autor und Leser, vertraute Figur und absolutes Rätsel, dessen Freuden und Schrecken die gleichen Freuden und Schrecken waren, die wir leugneten oder noch nicht als die unseren erkannt hatten.
Anselm Kiefer sagt, er lasse sich nicht von großartigen, sondern von banalen Dingen inspirieren, von alltäglichen Fundstücken. Ähnliches schreibt Sebald über Pisanello, einen seiner Lieblingsmaler: "Nicht allein die für die damalige Zeit ungeheuer hoch entwickelte Realismuskunst Pisanellos ist es, die mich anzieht, sondern die Art, wie es ihm gelingt, diese Kunst in einer mit der realistischen Malweise eigentlich unvereinbaren Fläche aufgehen zu lassen, in der allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird."
Hugo Dittberner
geboren 1944
Südniedersachse
Das, übrigens mit solch winzigen Signalen und also äußerst ökonomisch hergestellte, (alt)modisch Unzeitgemäße, was sich darin sogleich und für immer und immer wieder mitteilt, wird in Sebalds Werk vielfältig fortgesetzt. So heißt der Herkunftsort wie in einer Kleistnovelle W. (für Wertach im Allgäu) und die lange Erzählung über diesen Herkunftsort in »Schwindel. Gefühle.« mit einem italienischen Titel »II ritorno in patria«, wohl weil der Ich-Erzähler ein Italienreisender ist, ja ein Liebhaber des Landes wie weiland das große Muster Stendhal, dem die erste Erzählung mit einem wiederum spielerisch und gerade in dem Authentischen und historisch Korrekten befremdenden Titel »Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe« gilt.
Irritiert, amüsiert, fast geniert greift man diese affektiven Signale aus älteren Usancen auf, die gleichsam den antiquierten Menschen und seine Los- und heutige Auflösung ins Spiel bringen und die nicht nur die Titel schmücken, sondern fast jeden Satz, den Sebald geschrieben hat. Anspielungen auf Bildung sind es, aus Bildung, die vielfädig die Texte durchziehen und mit anderen Anspielungen und wieder anders zusammenstimmen und einen virtuosen - »Subtext« trifft vielleicht weniger als - Mittext bilden, der die europäische Geschichte und Literaturgeschichte und darin - mit einem
besonderen, intimen, fast möchte ich sagen: innig seufzenden und zürnenden Ton, wie er keinem anderen deutschen Gegenwartsautor zu Gesicht steht - die deutsche aufruft. Man nimmt das, im Rahmen seiner Kenntnisse, wahr und hin, das Anspruchsvolle daran, das Ironische, vor allem aber das tief Melancholische, denn das alles, die anrührende europäische Kultur-Geschichte, kann, in der herausgeprüften Gegenwartserzählung, als vertan, als verwirkt, als verloren gelten. Dem neu und doch wieder so alt, und gerade auf die falsche Art alt vereinigten Deutschland muss von Sebalds treulich mitgeschriebenen Bilanzen und den daraus kenntlich werdenden Verheerungen ganz schwindelig werden.
Und doch hat gerade Sebald in einer kurzen Passage seines Essays über "Luftkrieg und Literatur" vorgeführt, dass eine erzählerische Annäherung auch dem Nachgeborenen möglich ist: Auf wenigen Seiten zeichnet er den Hamburger Feuersturm höchst eindrucksvoll nach, getreu dem eigenen Anspruch, dass die Berichte der Augenzeugen durch einen "synoptischen, künstlichen Blick" ergänzt werden müssten. Ohne den distanzierten Blick aufzugeben, taucht der Erzähler tief hinein in die Hölle der Vergangenheit.
Es sind nur wenige Seiten, auf denen Sebald, der 2001 bei einem Autounfall ums Leben kam, vom Theoretiker des Luftkriegs zum Erzähler wird, aber sie zeigen doch, was vielleicht auch hinter seinen Thesen von der unzureichenden Nachkriegsliteratur steht: der Wunsch, dass die Lücke noch gefüllt werde, die Hoffnung, vielleicht sogar selbst die recherchierten Fakten irgendwann in literarische Form überführen zu können. Dazu ist er in größerem Maßstab nicht mehr gekommen - vielleicht hätte die Trostlosigkeit solcher Szenen ihn auch, wie andere, vorzeitig erschöpft. In einem Interview, wenige Monate nach Erscheinen seines Buches "Luftkrieg und Literatur", hat er geäußert: Man könne sich "mit all diesen Dingen" nicht sehr lange beschäftigen, "ohne Schaden zu nehmen, auch an der eigenen Gesundheit". Selbst wenn man nur versuche, "das zu skizzieren", sei das eigentlich mehr, "als man aushalten kann".
Dennoch: was Hamburg angeht, lässt sich von einer thematischen Lücke in der deutschen Literatur kaum sprechen. Geschrieben worden ist viel über die Juli-Nächte 1943 - erstaunlich ist, wie viel davon schnell wieder in Vergessenheit geriet. Das mag zum Teil mit der literarischen Qualität zu tun haben (ein Text wie Nossacks "Untergang" bleibt eine gültige, zu Recht viel gerühmte Darstellung der Tragödie), es hat aber gewiss auch mit einer prinzipiellen, bis heute anhaltenden Abwehr des Themas zu tun. Niemand wohl kann die Schreckensschilderungen lesen, ohne irgendwann genug davon zu haben - und zwar fast unabhängig von der Frage der Darstellungsweise.
Michael Hamburger
geboren 1924
Berliner Journalist aus jüdischer Familie,
Emigrant, britischer Soldat,
Universitätsprofessor,
Übersetzer, Apfelzüchter,
Freund, Nachbar in Suffolk
Überflüssige Grabschriften
Für ungenannte Freunde
2
Nacht nun,
Herbeikunft gefrorener Auferstehung,
Die blau-grüne, die blutrote Strahlung
Vom westlichen Himmel gewischt,
Und im Morgenmondschein nurmehr
Das Negativ, schwarz auf Weiß, graugetönt,
Phantom das ganze Spektrum.
Geblendet, verstümmelt, erschöpft
Wartete er, der sie bekämpft hatte und erlitten,
Wartete auf die Nacht, sehnte sich,
Dass die Nacht ihn lossprechen sollte, in sich auflösen,
Seinen Umriss zurücknehmen, seine Farben,
Behalten in der Dunkelkammer des Gedächtnisses,
Ihn ein für alle Mal heil machen sollte.
Nacht, ummantelt von Metall, prallte auf
Diesen anderen, der langsam, langsam
Fraktionen gesammelt hatte, Refraktionen des Lichts
Von den Dingen des Tages, den dunkelnden,
Sie liebevoll angeordnet hatte,
Er, der rasche Sammler von Schnappschüssen
Vor dem gleißenden Sonnenuntergang:
Das Zwielicht, das drunten fleckt.
Dann weiß,
Die Luft: des Tages diesig, opak,
Weiß auf Schwarz, egalisiert,
Skelettgezweig, übrige Pflanzenstengel
Krass auf der Leere der Schneedecke.
3
Nacht nun.
Ein Hund jault nach seinem verlorenen Gefährten,
Mentor und Wärter, der jüngst, vom Mitleid gerufen,
Die einsame Arbeit abbrach
Und über Land und Meer reiste, den kranken Hund zu heilen.
Ohne Nachtlicht der Sterne, der Kerze lebt der Hund fort,
In einer Abwesenheit, die kein Ruf durchreist.
Solange Augen hungern, Hände sich bewegen,
Leistet die Liebe der Menschen Widerstand,
Bestreut den Baum mit Flitter,
Mit Vogelfutter den Gartentisch,
Tauscht Zeichen, Geschenke,
Kleine Helligkeiten, selbst nach dem Bestattungsgottesdienst,
Wider Verlust, wider ewige Ungewissheit;
Der Gewohnheit des Selbst, den stets unerledigten Plänen
Nähern sich leerere Jahre.
Nähert erneutes Licht, neues Schaffen?
Die Liebe eines Hunds leugnet es.
4
Nacht denn,
Geräumig genug, zu enthalten
Die Eigenheiten, die Einzelheiten,
Die im Sonnenlicht leben, stets,
Das Licht reflektierend oder verborgen,
Bekannt, unbekannt,
Bewusst, unbewusst,
Noch zu entziffern oder kahl
Wie Grabsteine, von den Wettern verwaschen.
Zum offenen neuen Grab kam ein Rotkehlchen runter,
Ein eisiger Wind wehte
Auf den Vogel, in Sicherheit dort unter Lebenden,
Und auf jene, wahrhaftiger abgeglichen,
Als das Sonnenlicht seine Geschöpfe sein lässt -
Alle gemindert, unverminderbar da,
In einer einzigen Dunkelheit standen und lagen alle.
Ich weiß noch, als ich zum ersten Mal das Naturgedicht las - nun ist das rhythmische Prosa in Zeilen gebrochen - , da dachte ich, woher kommt denn die Sprache, die kenne ich doch? Die kommt aus Filbeln, aus Lehrfilbeln, die kommt von Johann Peter Hebel, und ist eminent süddeutsch alemannisch, hätte niemals von einem Lübecker geschrieben werden können, und das war mir natürlich sehr nah.
Wenn er einen speziellen Fund machte in der Historie oder in einer Beschreibung, sagen wir: "Ein Nebel löst sich", er macht wunderbare Naturbeschreibungen. Er trumpfte nie auf, sondern das war alles in lange Sätze eingebettet, es flutet dahin, man kann sich auf die Wellen verlassen, man lehnt sich fast zurück. Ich hab mich an die Sätze immer mit der rechten Schulter angelehnt. Und dachte: Keine Angst, da muss ich mich nicht ärgern. Ich überlasse mich einfach dieser lang dahinspringenden, dahinschwingenden, etwas ältlichen Prosa, die es gar nicht mehr gibt, als sei jemand vom Anfang des Jahrhunderts zurückgekehrt.
Ruth Klüger
geboren 1931
Wiener Jüdin
Vater und Burder von Nazis ermordet
im Alter von elf in KZ deportiert
1945 erfolgreiche Flucht
Abitur Straubing
1947 in die USA emigriert
Germanistik-Professorin
Das immer wiederholte Reisen und Wandern ist eine Art mit sich allein zu sein, obgleich gerade die Einsamkeit fast zur Verzweiflung führt. Eine unfreundliche Kellnerin kann den Reisenden unverhältnismäßig verstören, aber oft sprechen Fremde einander an und kommen sich unvermutet näher und tauschen vertrauliche Erinnerungen aus, wenn auch ohne bemerkbare Intimität. Die Sprache geht auf Distanz. Eine »Kunstsprache« nannte Sebald sie nach einer Lesung in Göttingen. Natürlich sei das kein Deutsch, sagte er, das irgend jemand spräche; aber auch andere Methoden der Distanzierung seien bei ihm zu finden, so zum Beispiel das wiederholte »er (sie) sagte «, das es ja übrigens auch bei dem von ihm bewunderten Thomas Bernhard gibt.
Trotz des Austausches im Gespräch fehlt die Beschreibung menschlicher Beziehungen fast gänzlich. Nicht nur Liebesaffären und Ehen sind abwesend oder nur kühl angedeutet, auch Eltern und Kinder leben nicht miteinander,
und selbst Freundschaften sind als solche kaum erkennbar, obwohl es Menschen gibt, die einander viel erzählen und erklären, denn das ist ja der Duktus von Sebalds Fiktionen. Anders gesagt, es fehlen genau diejenigen Konstellationen,
die wir vom Roman erwarten. Sebalds Gestalten sind praktisch Monaden, die allerdings darunter leiden. »Kaum lernte ich jemanden kennen, dachte ich schon, ich sei ihm zu nahe getreten, kaum wandte sich jemand mir zu, begann ich, mich abzusetzen«, sagt Austerlitz über sich. Von Liebe kann überhaupt nicht die Rede sein, von Herzenswärme nur selten, von Herzenskälte dagegen viel.
Die Identitätskrise dieses Gedächtnislosen offenbart sich in der Auflösung der Worte in Buchstaben und der Buchstaben in zerbrochene Zeichen. Als er sich endlich aufmacht, um seine verschütteten Anfänge zurückzuerobern, und dann in Prag das Haus seiner Kindheit betritt, sind ihm alle Details dieses Hauses »lauter Buchstaben und Zeichen aus dem Setzkasten der vergessenen Dinge«. Eine glückliche Kindheit steigt auf. Verknüpfungen und Verbindungen lassen sich herstellen, die den Weg in ein lichteres Bewusstsein weisen. Daher ist es auch mehr als Spielerei, wenn die Dame, die im Prager
Archiv dem Suchenden die Adresse seiner ermordeten Eltern übergibt, den Namen zweier Gestalten trägt, denen wir schon in den »Ausgewanderten« begegnet sind. Sie heißt Tereza Ambrosová, nach dem schwermütigen Onkel
Ambros und der weinenden Tante Theres. Ein unvermutet romantischer Anflug, dieses »Alles ist ewig im Innern verwandt«, wenn auch mit anderen Vorzeichen als bei den Romantikern. Auf ein Happy End läuft Sebalds
Roman natürlich nicht hinaus, dazu ist es zu spät, und zu viele Verbrechen liegen zwischen der Kindheit und der Gegenwart. Austerlitz hofft auf Erlösung aus seiner fast unerträglichen Einsamkeit durch eine Geliebte, mit der
er nach Marienbad geht, wo er zuletzt im Alter von vier Jahren war. Ohne dass die Beziehung näher beschrieben ist, nur dass sie sich zunächst gut anlässt, wacht er am nächsten Morgen auf mit einem »abgründigen Gefühl der
Verstörung«. Was bleibt, ist ein offener Schluss, die Suche nach weiteren Spuren, zuletzt nach dem verschollenen Vater.
Man könnte sagen, das Fazit dieser Bücher ist, dass es keine Erlösung gibt aus der verfehlten Entwicklung des Menschen. Aber die Kinder, Tiere und Dinge sind nach wie vor da, und indem der Schreiber sie aufliest und in Worte fasst, spürt er eine Art Trost, nämlich, »(...) wie sich die Strömung der Zeit im Gravitationsfeld der vergessenen Dinge verlangsamt«. Daraus entsteht Mitgefühl mit allem, was leidet und sterben wird. Und so kann ich mich als Leserin des Eindrucks nicht erwehren, dass kaum ein anderer Zeitgenosse diese zum Untergang bestimmte Welt, auf deren baldiger Grabstätte er seine ausgedehnten Wanderungen unternahm, so geliebt hat wie er.
Robert Macfarlane
geboren 1976
britischer Autor
Literaturwissenschaftler
In der viel zu kurzen Zeit seines Schriftstellerlebens hat WG Sebald den Roman und damit auch den Reisebericht neu erfunden. Walter Benjamins Feststellung, dass alle großen Schriftsteller entweder eine neue Form schaffen oder eine alte zerstören, trifft im Fall von Sebald nur teilweise zu, denn er schuf mehrere neue Formen. Gewiss, es gibt kaum jemanden, der sich ernsthaft mit den Themen Ort und Erinnerung - sei es in der Belletristik, im Film, in der Fotografie oder in der Wissenschaft - auseinandersetzt, dann tut er dies jenseits von Sebalds Schatten (seine Anhängerschaft unter Schriftstellern ist Legion, sofort erkennbar an ihren melancholischen Überlegungen, die Schwarz-Weiß-Fotografien, die ihre Absätze zieren, ausgeprägte Fetische für Totenköpfe und Seide ...).
Seine vier großen "Prosaerzählungen" (Schwindel.Gefühle, Die Ausgewanderten, Die Ringe des Saturn, Austerlitz) eröffneten in ihren langen Sätzen und verschachtelten Erzählstrukturen, dem Roman neue Möglichkeiten, insbesondere in der Auseinandersetzung mit Trauma und Grausamkeit. Sebalds scheinbar passive Prosa war in Wirklichkeit - um Marianne Moores denkwürdige Formulierung zu zitieren- "eine gegen die Trägheit gerichtete Diktion". Ich erinnere mich noch daran, wie ich Die Ringe des Saturn zum ersten Mal las. Es war - die Verdunkelung des Lichts, die Zunahme des Drucks - wie ein Tauchgang in die Tiefe durch historisches Wasser. Die Nachwirkungen begleiteten mich noch lange, sie begleiten mich noch immer. Spät in seinem Leben schrieb Sebald einen kurzen, aber faszinierenden Essay über das Werk von Bruce Chatwin. "So wie Chatwin selbst letztlich ein Rätsel bleibt", bemerkte Sebald.
Man weiß nie, wie man seine Bücher einordnen soll. Offensichtlich ist nur, dass sie aufgrund ihrer Struktur und ihrer Intentionen in keine bekannte Genre einzuordnen sind. Inspiriert von einer Art Begierde nach dem Unentdeckten bewegen sie sich auf einer Linie, bei der die Abgrenzungspunkte jene seltsamen Erscheinungen und Gegenstände sind, von denen man nicht sagen kann, ob sie zu den Phantasmen gehören, die von alters her in unseren Köpfen sind
Sebald hätte über seine eigenen erstaunlichen und rätselhaften Bücher schreiben können: heimgesucht von Phantasmen, die Archetypen sein könnten, polymorph in ihrer Form, scheckig in ihrer Erscheinung, weit in der Zeit reisend, wenn auch nicht weit im Raum, und inspiriert von einer Gier nach dem Unentdeckten.
Andrew Motion
geboren 1952
englischer Dichter, Romancier
Biograph
Sein Werk sah man "sehr schnell" als eine höchst originelle Verschmelzung von Formen an.
Es gibt eine Menge Dinge, die Max' Schreiben so außergewöhnlich machen ...
Er schafft es auf sehr subtile Weise, einen sehr direkten und kraftvollen Appell an uns zu richten, während er gleichzeitig ganz bescheiden zu sprechen scheint.
Landschaften, die unschuldig zu sein scheinen, entpuppen sich mit Elementen aus ihrer eigenen Vergangenheit beladen, die mit den Sorgen zu tun haben, die Max bereits hatte ...
Sehr oft sind es Dinge, die mit Verlust zu tun haben, sogar mit Tragödie.
Max's Tod war eine Tragödie. Das damit verbundene Pathos weckt zweifellos die Neugier auf sein Werk.
Will Self
geboren 1961
britischer Schiftsteller
Journalist
Es ist seltsam, dass ein solch solipsistisches "Ich" auch ein triumphierendes synoptisches Auge sein soll, denn Sebalds bemerkenswerteste Leistung besteht darin, seinen Lesern den Eindruck zu vermitteln, dass er ihnen alles vor Augen führt, was er selbst wahrgenommen hat. Die Klarheit der Sprache (und hier sollte ich als Monoglot eigentlich nur die Klarheit der Sprache seiner Übersetzer loben) macht Sebalds schleifenförmige und diskursive Prosa gut lesbar; doch diese langen Sätze, die sich im Raum auf und ab und in der Zeit vor und zurück zu winden scheinen, sind auch netzartig aufgebaut und fangen in ihrem Geflecht einen Schwarm von Fakten, Aperçus und Nebensächlichkeiten ein - den geistigen Zusammenbruch Schumanns, den Lebenszyklus der Seidenraupe, die Verwahrlosung des Manchester-Schiffskanals, walisische Vorstellungen vom zweiten Sehen usw. Wie in jenen Gemälden der Frührenaissance, in denen die Perspektive noch im Dienste des Verständnisses und nicht der visuellen Treue steht, wird Sebalds Weltanschauung vor uns ausgebreitet, mit einem klar umrissenen Vordergrund, der von einer Reihe von Nischen und Grotten überlagert wird, die voll von Figuren sind, die zugleich hieratisch und lebendig sind.
Dies, so scheint uns der Autor zu sagen, ist es, was war - und doch ist eine solche synoptische Betrachtung völlig unmöglich. Außerdem verwirrt Sebald auf Schritt und Tritt seine eigene Leistung und verschleiert seine eigene Klarheit: Die Toten sind nicht tot, die Zeit ist widersprüchlich - kein Fluss, der gleichmäßig von der Vergangenheit in die Zukunft fließt, sondern Strudel und Querströme der Chronologie -, während Zufälle nichtsdestotrotz von großer Bedeutung sind.
WG Sebald, der 2001 bei einem Autounfall ums Leben kam, war ein inspirierter Essayist, genauso wie er ein Romancier war; ich denke oft an seine gelungensten Fiktionen - Austerlitz und Die Ausgewanderen - ein Schreiben, das die Grenzen beider Formen austestet und sie an ihren Rändern mit einer Art von der Klarheit ihres Schöpfers verschmelzen, so vollständig ist das Erfundene und das Reale miteinander verbunden. Dieser Essay über die letzten Lebensjahre von Jean-Jacques Rousseau zeigt alle Stärken Sebalds als Schriftsteller - und alle seine seltsamen, gnomischen, geheimnisvollen Marotten.
Die scheinbar geradlinige Schilderung von Rousseaus Wanderschaft im Exil beginnt mit seinem ersten Blick auf die Ile Saint-Pierre in der Schweiz im Jahr 1965, wo Rousseau die erste Zeit seines staatenlosen Exils verbrachte und wo er - in seinen Erinnerungen eines einsamen Wanderers - behauptete, dass er dort glücklicher war als irgendwo sonst.
Sebald erzählt dann von seiner eigenen Landung auf der Insel im Jahr 1996 und nutzt diese Parenthese seines eigenen Lebens, um die seltsame Auflösung und das Nachleben des herausragenden Ideologen der französischen Revolution zu beschreiben. Es ist eine Technik, die wir aus Sebalds Romanen kennen: Der Autor ist in diesen Zeilen sehr präsent und gleichzeitig abwesend. Dies entspricht Sebalds Themen des Exils und der Zweckentfremdung, denn obwohl er über einen anderen spekulativen Denker schreibt, der 200 Jahre zuvor gelebt hat, versucht er wie immer, die verborgenen Verbindungen zu entdecken, die das menschliche Denken sowohl mit sich selbst als auch mit der übrigen Welt verbinden.
Natürlich war das, was zwischen 1965 und 1996 geschah, für Sebald sein eigenes Exil: Nach den Enthüllungen der Frankfurter Auschwitz-Prozesse im Sommer des Jahres, in dem Sebald die Insel besuchte (Prozesse, die er aus erster Hand miterlebte und die ihm das Ausmaß der Mitschuld der Generation seiner Eltern am Holocaust vor Augen führten), unternahm der junge Akademiker Schritte, die schließlich zu seinem Wohnsitz auf einer anderen Insel führten, nämlich in Großbritannien, wo er die nächsten drei Jahrzehnte an der University of East Anglia verbrachte. Sebald lässt dies unter dem Text liegen - ein entdeckbarer und psychischer Subtext; und so, wie er es versäumt, uns darüber zu informieren, warum Rousseaus paranoide und verfolgten letzten Jahre eine solche Resonanz für ihn hatten, lässt dieser zwanghaft peripatetische und ambulante Schriftsteller auch den größten britischen Wanderschriftsteller von allen, Worsdworth, der 1788 den ganzen Weg dorthin wanderte, auf der Liste der bedeutenden schriftstellerischen Pilger zu Rousseaus glücklicher Insel aus.
Susan Sontag
geboren 1933
Amerikanerin
regierungskritische Intellektuelle
Menschrechtlerin
Wann hat man im Englischen je eine Stimme vernommen, die so selbstsicher und präzise ist, so unmittelbar im Ausdruck von Gefühlen und doch so respektvoll der Aufzeichnung »des Realen« verpflichtet? D. H. Lawrence fällt einem ein, und Naipaul in The Enigma of Arrival. Aber sie haben wenig von der leidenschaftlichen Trostlosigkeit der Stimme Sebalds. Dazu muß man schon eine deutsche Ahnenreihe bemühen. Jean Paul, Franz Grillparzer, Adalbert Stifter, Robert Walser, Hofmannsthal im Chandosbrief sowie Thomas Bernhard sind einige der Vorläufer dieses zeitgenössischen Meisters einer Literatur der Klage und der geistigen Rastlosigkeit. Hinsichtlich der englischen Literatur fast des gesamten letzten Jahrhunderts lautet der Konsens, daß sich alles erbarmungslos Elegische und Lyrische für Romane nicht eigne, weil es zu schwülstig sei, zu prätentiös. (Selbst ein so bedeutendes Werk, eine so große Ausnahme wie Virginia Woolfs Roman Die Wellen blieb von dieser Kritik nicht verschont.) Die deutsche Nachkriegsliteratur - eingedenk
dessen, wie kongenial sich schwülstige Kunst und Literatur vergangener Zeiten (vor allem die Werke der deutschen Romantik) für die Mythenbildung eines totalitären Regimes eigneten - mißtraute allem, was nur irgendeinen romantischen oder nostalgischen Bezug zur Vergangenheit zu haben schien. Andererseits konnte vielleicht nur ein deutscherSchriftsteller, der ständig im Ausland lebt, sich im Bereich einer Literatur mit der modernen Vorliebe für das Nicht-Erhabene einen so überzeugend hohen Ton erlauben.
Neben der leidenschaftlichen Moralität und der Gabe des Mitgefühls (die er mit Bernhard teilt) bleibt sein Stil durch das üppige verbale Benennen und Veranschaulichen stets lebendig, wird nie phrasenhaft; hinzu kommt der immer wieder überraschende Kunstgriff der Illustration.
Manchmal wirken sie wie die Schnörkel im Tristram Shandy; der Autor zieht uns ins Vertrauen. In anderen Momenten scheinen diese beharrlich dargebotenen optischen Relikte die Zulänglichkeit der Sprache dreist in Frage zu stellen. Und doch ist es so, wie Sebald in Die Ringe des Saturn anläßlich der Schilderung eines von ihm häufig aufgesuchten Orts schreibt - des Sailors’ Reading Room in Southwold, wo er die Logbucheinträge eines Patrouillenschiffs studierte, das im Herbst 1914 vor dem Pier vor Anker lag: »Jedesmal, wenn ich eine dieser Aufzeichnungen entziffere, wundere ich mich darüber, daß eine in der Luft oder im Wasser längst erloschene Spur hier auf dem Papier nach wie vor sichtbar sein kann.« Und er habe, fährt er fort, indem er den marmorierten Deckel des Logbuchs schließt, nachgedacht über »das rätselhafte Überdauern der Schrift«.
Juan Gabriel Vásques
geboren 1973
Kolumbianer
Schriftsteller und Übersetzer
2015 veröffentlicht Vásquez "Die Form der Ruinen". Es ist sein herausforderndster Roman, da er verschiedene Genres vermischt, um die Folgen zweier Morde zu erforschen, die die kolumbianische Geschichte geprägt haben: Rafael Uribe Uribe (1914) und Jorge Eliécer Gaitán (1948). In einem Interview mit der kolumbianischen Zeitschrift Arcadia sagte Vásquez:
"Die Form ist bei weitem die schwierigste Herausforderung, der ich mich als Romanautor gestellt habe. Das liegt zum Teil daran, dass der Roman alles gleichzeitig versucht : Er ist eine Autobiografie, eine historische Erkundung, ein Kriminalroman, eine Verschwörungstheorie, eine Meditation darüber, was wir als Land sind ... Ich musste 26 verschiedene Versionen schreiben, um diejenige zu finden, die am besten zu dem Buch passt. Oder besser gesagt: diejenige, die in der Lage war, alles in einer einzigen Handlung zusammenzufassen. Mit dem Roman wurde Vásquez als erster Lateinamerikaner mit dem Premio Casino da Póvoa ausgezeichnet, dem renommiertesten portugiesischen Preis für übersetzte Belletristik. Der Leser könnte erwarten, dass Vásquez einen Noir-Kriminalroman geschrieben hat, der ein Verbrechen untersucht, das siebzig Jahre lang ungesühnt geblieben ist, und einen gewissen Anschein von Gerechtigkeit wiederherstellt. Doch nichts ist so geordnet, das das Genre des Krimis unterläuft, indem es die Jagd nach den Schuldigen in den Rahmen einer scheinbar sebaldischen Memoirengeschichte stellt.
James Wood
geboren 1965
britischer Literaturwissenschaftler
Essayist, Romancier
Als ich W.G. Sebalds großes Werk Die Ausgewandeten zum ersten Mal las, vergaß ich immer wieder, ob das Buch ursprünglich auf Deutsch oder Englisch geschrieben war. Sebald schrieb auf Deutsch, lebte aber die meiste Zeit seines Lebens in Großbritannien, und es war klar, dass er das Englische so überarbeitet hatte, dass es fast auf eine Zusammenarbeit mit seinem Übersetzer hinauslief. Sebalds Prosa gehört auf geheimnisvolle Weise nirgendwo hin.
Die rätselhafte Geduld der Sätze, die pedantische Syntax, die eigentümliche Altertümlichkeit der Diktion, die seltsam vertiefte Distanz des Schreibens, in der alles milchig und unterschwellig erscheint, geradezu unerreichbar - all das gibt Sebald seine besondere Note, so dass man manchmal den Eindruck hat, nicht einen bestimmten Schriftsteller, sondern eine Emanation der Literatur zu lesen.
Sebalds Schreiben hat eine unbestreitbare buchhafte Qualität; trotz seiner Originalität stammen einige seiner Effekte von anderen Schriftstellern. Seine gotische Diktion aus dem 19. Jahrhundert hat er von dem österreichischen Schriftsteller Adalbert Stifter übernommen, und ein gutes Stück seines obsessiven Extremismus vom österreichischen Romancier Thomas Bernhard. (Sebald dämpft Bernhards selbstmörderisches Geschrei.) Der Effekt ist seltsam - Sebald wirkt sowohl real als auch künstlich, sowohl lebendig als auch tot. In dem hier veröffentlichten Essay zum Beispiel scheint der Autor direkt von seiner direkt von seiner Zeit auf der Insel Saint-Pierre zu erzählen. Doch die selbstbewusste Pedanterie - "während dieser Zeit ich nicht wenige Stunden am Fenster saß"; "eine Insel mit einem Umfang von etwa zwei Meilen" - macht den Autor
ein wenig distanziert, und man beginnt sich zu fragen, ob es sich bei dem Essay um einen wahren Bericht oder um ein literarisches Machwerk handelt, das im Arbeitszimmer entstanden ist.
Während Sebald die Geschichte von Rousseaus Drangsal entfaltet ("ein Dutzend Jahre voller Angst und Panik"), erscheint der Essay in seiner ortlosen Altertümlichkeit wie eines von Rousseaus eigenen Erinnerungen eines einsamen Wanderers, und plötzlich ist Thema nicht Rousseaus zwanghafte Unfähigkeit, mit dem Denken aufzuhören, sondern Sebalds eigene zwanghafte Unfähigkeit ("die Gedanken, die sich ständig in seinem Kopf zusammenbrauen wie Gewitterwolken"). Auf diese Weise - und natürlich auch durch die Verwendung von Fotografien - fordert Sebald uns immer wieder auf, darüber nachzudenken, wie wir auf die Vergangenheit zugreifen, wie wir die Toten retten, und wie der Schriftsteller diese reale, aber notwendigerweise fiktive Rückgewinnung durchführt.