Nicht so wild, Effi,
nicht so leidenschaftlich.
Ich beunruhige mich immer,
wenn ich dich so sehe ...
Die wahre Effi Briest
Am vierten Tag nach dem Duell, das am 27. November 1886 im Morgengrauen in der Hasenheide stattfand,
stirbt im Universitätsklinikum an der Ziegelstraße in Berlin Amtsrichter Emil Ferdinand Hartwich aus Düsseldorf. Er ist bis zu seinem Ende bei Bewusstsein,
verweigert den Ärzten aber jegliche Auskunft. Eine Pistolenkugel hat ihm den Unterleib zerrissen, die Chirurgen
operieren erfolglos. Er hinterlässt Frau und drei Kinder.
Der Vorfall beschäftigt die Presse, ist Tagesgespräch in Offizierskreisen und bei den höheren Beamten der Hauptstadt.
Denn Hartwichs Herausforderer, Armond Léon Baron von Ardenne, ist ein hohes Tier in der preußischen Militärbürokratie. Seine
Ehefrau Elisabeth soll ihn betrogen haben – der Adjudant des Kriegsministers hatte gar keine andere Wahl, als ihren Geliebten zum Duell zu
fordern. Seine Ehre gilt als verletzt. Ein Duell ist der einzige Weg, sie wiederherzustellen. Sonst wäre seine Karriere beendet.
Fontane erfährt von dem verhängnisvollen Duell 1889 im Berliner Salon der Verlegerfrau Emma Lessing. Welch ein Stoff für einen Dichter!
Der Roman wird zum Meisterwerk, von Lesern und Kritikern hochgelobt. Dem Schriftstellerkollegen Spielhagen offenbart
Fontane, dass seine Effi in Wirklichkeit "aus jenem Teil des Magdeburgischen, der am östlichen Elbufer liegt" stammte.
Dort, auf Schloss Zerben bei Parey, wird Elisabeth von Plotho am 26. Oktober 1853 geboren.
Armand von Ardenne hat sich strafbar gemacht, Duellieren ist verboten. Der Baron zeigt sich selbst an,
wird schon drei Wochen nach dem Vorfall zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt.
Den Haftort darf er sich selber aussuchen, er entscheidet sich für die Magdeburger Zitadelle, weil er deren Kommandanten gut kennt.
Zusammen mit zwei weiteren Duellanten und einem Förster, der einen Wilddieb erschossen hat, macht sich Ardenne die Haftzeit so angenehm wie
möglich. Auf einem Ofen kochen sie „Karpfen blau, Hühner, Beefsteaks, Schnitzel, Pökelfleisch mit Sauerkraut und Erbsen, Suppen, Rührei,
Kartoffeln“, schreibt Ardenne aus der Haft. „Wir vier Mörder sind aber eigentlich sehr harmlose Menschen.“
Das Kriegsministerium schickt Akten zum Bearbeiten nach Magdeburg, so zeigt man dem Sträfling, dass er unentbehrlich ist.
Der Minister hat ihn wie einen Sohn verabschiedet: „Wenn ich Ardenne nicht schon als Adjudanten hätte, dann würde ich ihn mir jetzt nehmen.“
Am 22. Januar 1887 unterzeichnet der greise Kaiser Wilhelm I. den Gnadenerlass, Armand von Ardenne wird umgehend auf freien Fuß gesetzt.
Von zwei Jahren Festungshaft hat er nur 18 Tage abgesessen. Umgehend befördert ihn Kaiser Wilhelm zum Major. Armand von Ardenne wird es bis
zum Divisionsgeneral in Magdeburg bringen.
Noch vor seiner eigenen Verurteilung reicht er die Scheidungsklage ein, samt Briefen Emil Hartwichs an seine Frau Elisabeth,
die ihre Alleinschuld beweisen sollen. Sie „enthalten den unzweideutigen Beweis, dass die Ehefrau und Hartwich Geschlechtsverkehr gehabt,
dass sie getrennt voneinander in der Fantasie die glühende Gemeinschaft fortgesetzt und die Scheidung von ihren beiderseitigen Ehegatten und
Verheiratung miteinander geplant haben“, heißt es in der Anklage. Die wahre Beweiskraft der Briefe lässt sich nicht mehr überprüfen:
Sie sind in den Mühlen der Justiz verloren gegangen. Vielleicht nicht ohne Absicht.
Das Ehepaar von Ardenne und das Ehepaar Fontane verkehrten im Salon von Emma Lessing, Frau des Verlegers der „Vossischen Zeitung“,
für die Fontane Theaterkritiken schrieb. Für Fontane war die Duellaffäre eine „Ehebruchsgeschichte wie hunderte andere mehr“, in „Effi Briest“
malt er sie zum Zeitroman und Sittenbild ausgemalt.
Effis Mann, der Baron Instetten, folgt wie Armand von Ardenne einem überkommenen Ehrenkodex: „Jenes, wenn Sie wollen, tyrannisierende
Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und Verjährung. Ich habe keine Wahl. Ich muss“, lässt ihn Fontane
sagen. Dabei hätte Instetten durchaus die Chance, großmütig Gras über die Affäre seiner jungen Frau mit dem windigen Verführer Crampas
wachsen zu lassen. Die Liebelei liegt im Roman schon Jahre zurück, niemand ahnt etwas davon, und nur durch Zufall entdeckt Instetten
in Effis Nähtisch einen Packen alter Briefe.
Aber auch die wahre Geschichte zwischen den Ardennes und Hartwich trägt romanhafte Züge. Der Nebenbuhler des Ehemanns war ein langjähriger
Freund. Hartwich war drauf und dran, mit der Geliebten durchzubrennen und ein neues Leben jenseits gesellschaftlicher Zwänge zu beginnen.
Sieben Jahre vor dem Duell hatten das Ehepaar Ardenne und Hartwich sich in Düsseldorf auf einem Künstlerfest kennengelernt.
In Düsseldorf war Ardenne stationiert, ehe er den entscheidenden Karrieresprung ins Berliner Kriegsministerium machte. Beide Männer
waren musisch begabt: Offizier Ardenne spielte hervorragend Klavier, Amtsrichter Hartwich malte. Er hinterließ ansehnliche Ölporträts von
Elisabeth von Ardenne und ihrem Sohn. Auch den Ehemann, der ihn später erschoss, hat er gemalt.
Mit gemeinsamen Ausritten, Schießübungen, Wander- und Ruderpartien vertrieben sie sich die dienstfreien Stunden. Der Amtsrichter konnte
mit dem strammen Offizier spielend mithalten: Hartwich war ein sportlicher Typ, ein Frischluftfanatiker, der in Streitschriften für eine
mehr spielerische, körperbetonte Schulbildung warb. Der Kronprinz und spätere Kaiser Wilhelm II. war von Hartwichs Reformideen begeistert.
Zwischen dem leger auftretenden, quirligen Zivilisten Hartwich und der jungen Offiziersgattin Elisabeth von Ardenne muss es sofort gefunkt
haben.
Freifrau von Plotho kam vom Land, hatte auf einem Gut in Zerben an der Elbe eine glückliche Kindheit verbracht. Als vierte und jüngste Tochter eines
Gutsbesitzers war sie keine reiche Partie gewesen, entstammte aber einem alten märkischen Adelsgeschlecht mit einem klangvollen Namen.
Ein halbes Kind war sie, als der sechs Jahre ältere, ehrgeizige Armand von Ardenne in Husarenuniform um sie zu werben begann.
Den hartnäckigen Verehrer lehnte Elisabeth ebenso entschieden ab, gegen den Druck der Mutter. Erst als der deutsch-französische Krieg
von 1870/71 ausbrach und Armand eine Schussverletzung erlitt, gab Elisabeth nach. Vielleicht, weil sie wusste, dass es für ein adliges
Mädchen wie sie ohnehin keine andere Perspektive gab als eine standesgemäße Verheiratung oder ein langweiliges Dasein als alte Jungfer im Elternhaus.
Als Offiziersgattin sah sie wenigstens etwas von der Welt. Sofort nach der Trauung am Neujahrstag 1873 zog das Ehepaar nach Berlin,
wo Armand erst noch sein Studium an der Kriegsakademie abschließen musste, später nach Rathenow, dann ins von preußischen Truppen
besetzte Metz in Lothringen, schließlich ins rheinisch-frohsinnige Düsseldorf. Dort liegt der jungen Frau bald ein ganzer Zirkel
von Künstlern und Lebenskünstlern zu Füßen.
Armand von Ardenne entgeht es nicht, dass der malende Amtsrichter Hartwich in Elisabeth verliebt ist. So wie er spürt, dass sie ihm
trotz Familiengründung, trotz der Geburt eines Sohnes und einer Tochter immer mit einer gewissen Kühle begegnet. Später behauptet er,
was betrogene Ehemänner gern behaupten: Seine Frau habe ihn nie geliebt. Dabei gibt es sogar Hinweise in den erhaltenen Korrespondenzen,
dass Armand die Affäre seiner Frau mit dem Freund stillschweigend geduldet haben könnte.
Kritisch für ihn wird die Lage, als er 1884 ins Kriegsministerium nach Berlin wechselt. Pedantischer als in Düsseldorf muss Armand von
Ardenne darauf achten, dass seine Frau nicht ins Gerede kommt.
Hartwich aber schickt verliebte Briefe nach Berlin, er kommt zu Besuchen und trifft Elisabeth alleine. „Trotz Abschied fahre ich mit List
noch einmal zu ihm; er bringt mich wieder zurück, springt in der Burgstraße
noch einmal halb betäubt aus dem Wagen, zieht mich noch einmal im Überschwang seiner Gefühle an seine Brust – das letzte Mal!“ notiert
Elisabeth später über den 22. Oktober 1886, dem Tag, an dem sie Hartwich ein letztes Mal sieht.
Der Ehemann spürt, dass beide auf eine Trennung hinarbeiten, dass der gesellschaftliche Skandal nicht mehr zu vermeiden ist. Um wenigstens
seine Karriere zu retten, muss er den Freund zum Duell fordern und sich in den Besitz der Briefe bringen, die im Scheidungsprozess ihre
Schuld beweisen. Kaltblütig bricht er eine Kassette auf, in der Elisabeth die Briefe verwahrt.
Im März 1887 wird die Ehe geschieden, das Gericht spricht die beiden Kinder Margot und Egmont dem Vater zu, der jeglichen Umgang mit
der Mutter unterbindet. In Fontanes Roman „Effi Briest“ ist es diese Grausamkeit, die Effi dahinsiechen und an gebrochenem Herzen sterben
lässt. Der Tod der sympathischen Ehebrecherin rundet den Roman ab und verschärft die Anklage gegen die Tyrannei des „Gesellschafts-Etwas“.
Elisabeth von Ardenne ist 34 Jahre alt, als ihr Ehe-Albtraum ein Ende hat. Von da an lernt sie, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Sie reist ins württembergische Bad Boll zu einem Guru, von dem sie sich spirituelle Orientierung erhofft. Der Bußprediger Christoph Blumhardt
steht im Ruf, ein Wunderheiler zu sein, später wird er Sozialist und SPD-Landtagsabgeordneter.
Blumhardt redet der Ehebrecherin ihre Schuldgefühle aus und ermutigt sie, eine Ausbildung zur Krankenpflegerin zu beginnen. Sie arbeitet in
vielen Heilanstalten in Süddeutschland, der Schweiz, in Schlesien und in Berlin-Zehlendorf. Besonders gut kann sie mit Patienten umgehen,
die unter psychischen Störungen leiden, die Ärzte schätzen die kluge Fürsorglichkeit und Engelsgeduld der Krankenschwester.
Ab 1915 verdient sie ihren Lebensunterhalt als ständige Begleiterin der schwer nervenkranken Margarethe Weyersberg. Die wohlhabende
Familie der Pflegetochter finanziert nicht nur die gemeinsame Wohnung, sondern auch Reisen der beiden Frauen nach Italien.
Kaum ein Jahr nach der Scheidung hat Armand von Ardenne eine ehemalige Sängerin geheiratet, was Gerüchte nährt, er sei schon vor dem
Duell fremd gegangen. Elisabeth wartet darauf, dass er seine Versprechen einlöst und sie ihre Kinder wiedersehen darf, sobald sich
die Emotionen beruhigt haben. Es dauert 16 Jahre, bis die erwachsene Tochter Margot den väterlichen Bann bricht und sich mit der Mutter
trifft. 23 Jahre vergehen bis zum Wiedersehen mit dem Sohn, an den sie 1909 schreibt: „Ich habe es gelernt, über Zeit und Raum zu
lieben und zu besitzen, dieses feste Hinstehen hilft mir auch jetzt, mit Mut und Dankbarkeit Eurer zu gedenken und mich sehr
reich und glücklich zu fühlen.“
Elisabeth von Ardenne lernt mit 60 das Skifahren und setzt sich mit 80 zum ersten Mal auf ein Fahrrad. Sie stirb 99-jährig am
5. Februar 1952 in Lindau am Bodensee, ihr Urnengrab befindet sich in einem Waldstück auf dem Friedhof Stahnsdorf zwischen
Potsdam und Berlin. Ihrem Lieblingsenkel, dem Physiker und Tüftler Manfred von Ardenne, vertraut sie acht Jahre vor ihrem Tod das Wenige an,
was ihr von der Affäre mit Hartwich geblieben ist: ein Bändchen mit seinen Vorträgen, wenige vergilbte Fotos und Briefe.
„Lebenswarme, begeisternde, hinreißende Manneskraft“ habe der Geliebte ausgestrahlt, schwärmte die Greisin ihrem Enkel
vor, und er habe „unendliches Leid, aber auch unendliches Glück“ in ihr Leben gebracht.
Quelle: Hella Kaiser in Tagesspiegel 8.2.2009
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