Das Leben ist ein grosses Glück, schreibt
Martin Hamburger, Schriftsteller, Kabarettist, Sprecher und
Sprecherzieher.
Mein Leben ist es – so scheint es mir jedenfalls.
Aber das noch grössere Glück sind die Begegnungen und die Freundschaften, die daraus erwachsen.
Begegnungen haben mit Zufall und Intuition zu tun. Ich beginne nach diesem Prinzip zu erzählen.
Ich bin Menschen begegnet in der Phase ihrer Unscheinbarkeit, war von ihnen begeistert,
es entstand eine freundschaftliche Beziehung, und dann waren sie plötzlich berühmt,
und es machte den Anschein, als machte ich mich an Prominente heran, um mein Image aufzuwerten.
Aber so ist es nicht.
Ein Beispiel:
Ich besuchte die Mittelschule im Institut auf dem Rosenberg. Als Externer.
Der College-Betrieb war schon damals nicht über jeden Verdacht erhaben, und über die Väter der internen Schüler munkelte
man dieses und jenes. Aber im Unterricht waren die externen und internen zusammen.
Über das das Leben im Schweizer Elite-Internat "Auf dem Rosenberg" ist 1995 im SPIEGEL zu lesen:
Hunderte von Metern winden sich die Zaungirlanden den Hang hinauf, vorbei an stattlichen Villen, als sollten sie von ihrer Bestimmung, etwas einzuzäunen, durch freundliche Farbe ablenken. Üppige Kastanien verdecken, was hinter dem rosa Saum liegt: Kafkas Schloß oder Alices Wunderland?
Wo die Zäune enden und die Straße nicht mehr weitergeht, überwölbt ein Schild den Eingang zu einem herrschaftlichen Haus.
Der Name in Schnörkelschrift verrät nichts über das Innere des Anwesens: Institut auf dem Rosenberg.
Hier oben, am Stadtrand von St. Gallen, in Sichtweite des Bodensees, liegt die teuerste Privatschule der Schweiz.
Eine Einfriedung herkömmlicher Art könne ganz falsche Signale setzen: "Schließlich", sagt der Schulleiter,
"ist mein Institut ja kein Gefängnis."
Die Anstalt sieht aus wie ein Fünf-Sterne-Hotel. Hinter dem "Haus Nußbaum", in dem der Direktor residiert,
schwingen breite Rasenflächen hinab zu den Tennisplätzen. Der "Ulrichshof", wo die Schüler ihre Mahlzeiten einnehmen,
glitzert in der Sonne wie ein Solitär; ein imposanter Glasvorbau und ein gläserner Aufzug ergänzen postmodern den aufwendig restaurierten Wiener Jugendstil.
Ein Idyll.
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Die meisten, die auf dem Dornröschen-Campus ihre Schulzeit absitzen: Sie sind nicht eingesperrt und doch nicht freiwillig hier.
Die 230 Kinder und Jugendlichen, die auf dem Rosenberg in 14 Villen leben und lernen, stammen aus 40 Nationen, aus unterschiedlichen Kulturkreisen, und sie gehören verschiedenen Religionsgemeinschaften an - aber alle haben Eltern, die ihnen Chancen kaufen können.
Gesellschaftlich sind die Kunden des St. Gallener Instituts homogen.
"Wir wenden uns an das weltweite Großbürgertum."
Der Direktor ist Schweizer und Unternehmer, eine Verbindung, die für Pragmatismus steht und für wirtschaftlichen Erfolg.
Pädagogik ist nicht sein Fach. Er ist Jurist. Eigentlich war sein Bruder ausersehen, das Institut zu leiten.
Doch als der plötzlich starb, übernahm Gademann vor 20 Jahren in dritter Generation die Leitung der Familienfirma Schule.
Gründervater Ulrich Schmidt, ein Bauernsohn, den es in die Welt des Geistes und des Geldes trieb,
siedelte sein Institut 1889 mit Bedacht in der schönen voralpinen Landschaft an. "Umkränzt von Parks, Wiesen und Wäldern",
wirbt das Internat noch heute, solle "der junge Mensch" seinen "Blick für das Große und Schöne in der Welt" kultivieren.
Die 13 N sitzt auf Thonet-Stühlen an liebevoll restaurierten Pulten aus der Gründerzeit. Grüngeränderte Milchglaslampen in
Nachthaubenform beleuchten die zartgelbe Holzvertäfelung; abgetretenes Linoleum wurde ersetzt durch polierten Granit.
Über die Abiturienten der deutschen Abteilung wacht die Konferenz der Kultusminister. Die Politiker sind in 23 Jahren nicht dazu gekommen, auf dem Rosenberg die reformierte Oberstufe einzuführen, die in Deutschland 1972 eingerichtet wurde.
Lehrpläne gibt es nicht. Viele Lehrer landen hier, weil in Deutschland kein Platz für ein Referendariat frei war,
und sie gestalten den Unterricht nach Belieben.
Immerhin sichert die Exklusivität der Anstalt kleine Klassen. Hier wird jeder, notfalls einzeln, solange bearbeitet,
bis er irgendeinen der vier Abschlüsse garantiert schafft.
"Ansonsten sind wir pädagogisch nicht festgelegt", sagt Gademann. Nett formuliert. Sein Adlatus Koschel, in der Internatsleitung zuständig fürs Lehren und Lernen, bedauert, daß es nicht mal ein Lehrerzimmer gibt, in dem sich die Kollegen austauschen könnten:
"Hier wird ein Erziehungskonzept vermieden." Diese Bildungsanstalt ist ein Dienstleistungsunternehmen.
Wo alles mit klaren Ge- und Verboten geregelt ist, wird auch didaktisch und methodisch nicht experimentiert.
Der Chef hält nichts von "Verwöhn-Pädagogik". Sein Internat setzt von jeher auf Zucht und Strenge.
Die Hausordnung von 1989 enthält viele Vorschriften, die unverändert bleiben konnten, "weil wir das immer so gemacht haben".
Selbst der Schlaf wird überwacht. "Find ich nicht so angenehm", sagt Anna, 17, die gern unbekleidet schläft,
"wenn so'n Nachtwächter mit der Taschenlampe bis in mein Bett leuchtet."
Spätestens Viertel vor zehn steht auch für die Zwanzigjährigen "Bettgang" im Stundenplan.
Wer danach stört, wird zur Kasse gebeten: 150 Mark Geldbuße bis 24 Uhr, später bis zu 200 Mark.
Die Strafzettel erscheinen auf der Abrechnung der Eltern unter dem Stichwort "Nachtrapport".
Der Direktor mit dem Dauerlächeln verspricht sich davon mehr als von sozialen Hilfsdiensten:
"Wer in Mercedes-Einheiten großgeworden ist, den kann man auch nur mit Mercedes-Einheiten beeindrucken."
Dreimal im Jahr werden knapp 20000 Mark Schulgeld fällig, zuzüglich Taschengeld, Arztkosten, Heimreisen.
Rund 100000 paradiesisch grüne Quadratmeter mit alten Bäumen, von einem halben Dutzend Gärtnern gepflegt -
da "atmet der junge Mensch reine Luft" und "treibt Sport inmitten einer herrlichen Natur", tönt die hauseigene Werbung.
Die Seite 53 in den "Ansichten eines Clowns" ist ganz abgegriffen, so oft hat Lehrer Koschel, den sie "rote Socke" nennen,
den Satz von Heinrich Böll schon vorgelesen: "Ich würde irgendeine Gesellschaft gründen, die sich um die Kinder reicher Leute kümmert. Die Dummköpfe wenden den Begriff asozial immer nur auf die Armen an."
Sebald schreibt über seine Zeit in der Schweiz (in einem Brief):
Ich unterrichtete eine Saison lang an einer St. Galler Privatschule, wo ich die Spannbreite zwischen Pestalozzi und einem allzu ungenierten Kapitalismus nicht aushalten konnte, so dass ich an meinen vorherigen Posten in England zurückkehrte.
Und weiter Martin Hamburger:
In Deutsch hatten wir einen jungen Lehrer namens Sebald. Es hatte ihn aus irgendeinem Grund an diese Schule verschlagen,
und nach einem Jahr verschwand er wieder. Ich habe seine Deutschstunden in Erinnerung behalten,
als hätte ich sie alle mit Video aufgezeichnet. Als ich ihn später im Radio hörte – er diskutierte mit Peter von Matt
über den Schriftsteller Carl Sternheim – machte ich seine Adresse ausfindig und schrieb ihm.
Er wohnte inzwischen in England. Er schrieb zurück. Natürlich hatte ich auch sein Buch über Sternheim
gekauft und gelesen.
Und als ich für ein paar Monate in Cambridge weilte, um Englisch zu lernen, besuchte ich ihn.
Er war gerade Vater geworden, und er erzählte mir, dass auch Elias Canetti, mit über sechzig, gerade Vater geworden sei,
zum ersten Mal. Es war Sommer, wir sprachen im Garten vor seinem Haus.
Das zweite Mal traf ich ihn erst wieder 1997 in Zürich, anlässlich einer Lesung im Literaturpodium zum Thema Luftkrieg und Literatur. Wieder hatte ich ihm geschrieben (schrieb ihm, wie sehr mich seine Erzählungen „Die Ausgewanderten“ beeindruckt hatten), und wieder hatte er geantwortet, und wir sprachen diesmal in seinem Hotel miteinander. Er ermunterte mich, mal etwas über meine jüdische Abstammung zu schreiben.
Das dritte und letzte Mal traf ich ihn im Literaturhaus Basel, wo er seinen Roman „Austerlitz“ vorstellte. Ohne Ankündigung ging ich einfach hin und stellte mich am Schluss in die Warteschlange, um das Buch signieren zu lassen. Im kleinen Kreis blieb man dann noch zusammen, und plötzlich duzte er mich. Bisher hatten wir uns zwar den Vornamen gesagt, aber gesiezt. Der Lift im Literaturhaus hatte einen Defekt. Es sei gefährlich, ihn zu benützen, hiess es. Max sagte mit trockenem Lachen (ich glaube, er lachte nie anders), dann fahre ich mit dem Lift, und stieg mit zwei andern ein, während der Rest der Gruppe die Treppen nahm. Unten, auf dem Trottoir, verabschiedete man sich.
Fünf Monate später las ich im Zug nach Hitzkirch die Zeitungsartikel zum Tode von W.G. Sebald.
... ich war gerade im Begriff, eine in Zürich gekaufte Lausanner Zeitung, die ich durchblättert hatte, beiseitezulegen, um die jedesmal von neuem staunenswerte Eröffnung der Genfer Seelandschaft nicht zu versäumen, fielen meine Augen auf einen Bericht, aus dem hervorging, daß die Überreste der Leiche des seit dem Sommer 1914 als vermißt geltenden Berner Bergführers Johannes Naegeli nach 72 Jahren vom Oberaargletscher wieder zutage gebracht worden waren. So also kehren sie wieder, die Toten.
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