AUSTERLITZ Von den in dem Nocturama behausten Tieren ist mir sonst nur in Erinnerung geblieben, daß etliche von ihnen auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimm- ten Malern und Philosophen, die vermittels der rei- nen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu druchdringen, das uns umgibt. Das Vorbild war der neue Bahnhof von Luzern in der Nacht auf den 5. Februar 1971 ist ein den Kuppelbau gänzlich zerstörendes Feuer ausgebrochen Ende des 17. Jahrhunderts das sternartige Zwölfeck der bevorzugte Grundriß Festung Breendonk: eine einzige monolithische Ausgeburt der Häßlichkeit und blinden Gewalt weil ich nicht wirklich sehen wollte, was man dort sah Brüsseler Justizplast, die größte Anhäufung von Steinquadern in ganz Europa Austerlitz' Arbeitsplatz in Bloombsbury Austerlitz' Rucksack Gläserne Kuppel des Dining-rooms im Great Eastern Die dreistöckige Arche, zu der gerade die Taube zurückkehrt Llanwddyn Mädchen mit seinem kleinen Hund auf dem Schoß Lager der Hebräer in dem Wüstengebirge Rugby-Mannschaft - Austerlitz in der vorderen Reihe rechts außen Hunderte solcher Aufnahmen habe ich in Stower Grange meist in quadratischen Formaten abgezogen Schmetterlingssammlungen Fitzpatricks Großonkel Alphonso Fitzpatrick Motte Chronometer Saal in Iver Grove Billardkugeln William Turner: Funeral at Lausanne Fotografische Aufnahme, vom Hubbleteleskop zur Erde gesandt Gerald bei seiner Cessna Ansichtskarte aus den 20er oder 30er Jahren: Weiße Zeltkolonie in der ägyptischen Wüste Die vom Wanderer durchquerte, beinahe schon in der Vergessenheit versunkene Landschaft Liverpool Street Sation vor dem Umbau 1984 beim Abbruch der Broadstreet Station entdeckte Skelette Staatsarchiv in der Karmelitská Pult neben der Loge Kunststeinboden in der Špokova Nr. 12 Stiege Wurzelwerk im Seminargarten Märzblüte der Anemone nemorosa Theaterbühne in der Provinz Jacquot im Monat Feber 1939 Petrochemisches Kombinat Terezín Auschowitzer Quellen: Brunnenhaus im Park Wilsonbahnhof Turm im Stausee von Vyrnwy Gräberfeld von Tower Hamlets St. Clement's Spital Gehilfe in Rumford Setzlinge Theresienstadt H.G. Adler: Ghetto in Theresienstadt "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt": Stillbilder Agáta Paris Gardin des Plantes Billet Bronchienbaum im Veterinärmedizinischen Museum Kuppelsaal in der alten Nationalbibliothek Neue Nationalbibliothek Registraturkammer in Terezín Gare d'Austerlitz Jüdischer Friedhof Alderney Street Antwerpen Hotel am Astridsplein |
Besonders in den Bann gezogen hat mich bei der photographischen Arbeit stets der Augenblick,
In Austerlitz sind 88 Abbildungen, davon 76 Fotografien, reproduziert. |
Einmal holte Austerlitz aus seinem Rucksack einen Photoapparat heraus, eine alte Ensign mit ausfahrbarem Balg, und machte mehrere Aufnahmen von den inzwischen ganz verdunkelten Spiegeln, die ich jedoch unter den vielen Hunderten mir von ihm bald nach unserer Wiederbegegnung im Winter 1996 überantworteten und größtenteils unsortierten Bildern bisher noch nicht habe auffinden können. |
Er deutete auf das breite, in der Morgensonne blinkende Wasser hinaus und sprach davon, daß auf einem um die Mitte des 16. Jahrhunderts, während der so genannten kleinen Eiszeit, von Lucas van Valckenborch gemalten Bild die zugefrorene Scheide vom jenseitigen Ufer aus zu sehen sei und hinter ihr, sehr dunkel, die Stadt Antwerpen und ein Streifen des flachen, gegen die Meeresküste hinausgehenden Lands. Aus dem düsteren Himmel über dem Turm der Kathedrale Zu Unserer Lieben Frau geht gerade ein Schneeschauer nieder, und dort draußen auf dem Strom, auf den wir jetzt dreihundert Jahre später hinausblicken, sagte Austerlitz, vergnügen sich die Antwerpener auf dem Eis, gemeines Volk in erdfarbenen Kitteln und vornehmere Personen mit schwarzen Umhängen und weißen Spitzenkrausen um den Hals. Im Vordergrund, gegen den rechten Bildrand zu, ist eine Dame zu Fall gekommen. Sie trägt ein kanariengelbes Kleid; der Kavalier, der sich besorgt über sie beugt, eine rote, in dem fahlen Licht sehr auffällige Hose. Wenn ich nun dort hinausschaue und an dieses Gemälde und seine winzigen Figuren denke, dann kommt es mir vor, als sei der von Lucas van Valckenborch dargestellte Augenblick niemals vergangen, als sei die kanariengelbe Dame gerade jetzt erst gestürzt oder in Ohnmacht gesunken, die schwarze Samthaube eben erst seitwärts von ihrem Kopf weggerollt, als geschähe das kleine, von den meisten Betrachtern gewiß übersehene Unglück immer wieder von neuem, als höre es nie mehr auf und als sei es durch nichts und von niemandem mehr gutzumachen. |
Zeitungsnotiz Und wie ich beim Zuwarten in den Zeitungen herumblätterte, da stieß ich, ich weiß nicht mehr, war es in der Gazet van Antwerpen oder in La Libre Belgique, auf eine Notiz über die Festung Breendonk, aus welcher hervorging, daß die Deutschen dort im Jahr 1940, gleich nachdem man das Fort zum zweitenmal in seiner Geschichte an sie hatte übergeben müssen, ein Auffang- und Straflager einrichteten, das bis zum August 1944 bestand und das seit 1947, soweit als möglich unverändert, als nationale Gedenkstätte und als Museum des belgischen Widerstands dient. Wäre nicht tags zuvor im Gespräch mit Austerlitz der Name Breendonk gefallen, so würde mich dieser Hinweis, vorausgesetzt, ich hätte ihn überhaupt bemerkt, kaum veranlaßt haben, die Festung an demselben Tag noch zu besuchen. |
Gemälde des Parks in Greenwich Beim Hinabgehen nach Greenwich erzählte mir Austerlitz, daß der Park in den vergangenen Jahrhunderten oft gemalt worden sei. Man sehe auf diesen Bildern die grünen Grasplätze und Baumkronen, im Vordergrund in der Regel einzelne, sehr kleine Menschenfiguren, meistens Damen in farbigen Krinolinekleidern mit Parasoleils, und außerdem ein paar Stück von dem weißen, halbzahmen Wild, das zu jener Zeit in dem Parkgehege gehalten worden sei. Rückwärts in den Bildern aber, hinter den Bäumen und hinter der Doppelkuppel des Marinekollegs, sehe man die Biegung des Stroms und, als einen schwachen, sozusagen gegen den Weltrand gezogenen Streifen, die Stadt der ungezählten Seelen, etwas Undefinierbares, Geducktes und Graues oder Gipsfarbenes, eine Art von Exkreszenz oder Verschorfung der Oberfläche der Erde, und darüber noch, die Hälfte und mehr der gesamten Darstellung ausmachend, den Himmelsraum, aus dem, weit draußen, vielleicht gerade der Regen herniederhängt. Ich glaube, ich habe ein solches Greenwich-Panorama zum erstenmal in einem der vom Untergang bedrohten Landsitze gesehen, die ich, wie ich gestern schon erwähnte, während meiner Oxforder Studienzeit gemeinsam mit Hilary oft aufsuchte. |
Rembrandt: Flucht nach Äygpten ... machte ich eine Bemerkung über die Unbegreiflichkeit von Spiegelbildern, worauf er erwiderte, daß auch er oft nach dem Einbruch der Nacht hier in diesem Zimmer sitze und hineinstarre in den draußen in der Dunkelheit reflektierten, anscheinend bewegungslosen Lichtpunkt, und daß er dabei unweigerlich daran denken müsse, wie er vor vielen Jahren einmal, in einer Rembrandt-Ausstellung im Rijksmuseum von Amsterdam, wo er sich vor keinem der großformatigen, unzählige Male reproduzierten Meisterwerke habe aufhalten mögen, statt dessen lange vor einem kleinen, etwa zwanzig auf dreißig Zentimeter messenden und, soweit er sich entsinne, aus der Dubliner Sammlung stammenden Gemälde gestanden sei, das, der Beschriftung zufolge, die Flucht nach Ägypten darstellte, auf dem er aber weder das hochheilige Paar noch das Jesuskind, noch das Saumtier habe erkennen können, sondern nur, mitten in dem schwarzglänzenden Firnis der Finsternis, einen winzigen, vor meinen Augen, so sagte Austerlitz, bis heute nicht vergangenen Feuerfleck. |
Bilder im Gehttomuseum ... bin vor den Schautafeln gestanden, habe einmal mit größter Hast, einmal buchstabenweise die Legenden gelesen, habe auf die photographischen Reproduktionen gestarrt, habe nicht meinen Augen getraut und habe verschiedentlich mich abwenden und durch eines der Fenster in den rückwärtigen Garten hinabsehen müssen, zum erstenmal mit einer Vorstellung von der Geschichte der Verfolgung, die mein Vermeidungssystem so lange abgehalten hatte von mir und die mich nun, in diesem Haus, auf allen Seiten umgab. Ich studierte die Karten des großdeutschen Reichs und seiner Protektorate, die in meinem sonst hoch entwickelten topographischen Bewußtsein immer nur weiße Flecken gewesen waren, folgte dem Verlauf der Bahnlinien, die sie durchzogen, war wie geblendet von den Dokumenten zur Bevölkerungspolitik der Nationalsozialisten, von der Evidenz ihres mit einem ungeheuren, teils improvisierten, teils bis ins letzte ausgeklügelten Aufwand in die Praxis umgesetzten Ordnungs- und Sauberkeitswahns, erfuhr von der Errichtung einer Sklavenwirtschaft in ganz Mitteleuropa, von der vorsätzlichen Verschleißung der Arbeitskräfte, von der Herkunft und den Todesorten der Opfer, auf welchen Strecken sie wohin gebracht wurden, was sie, zeit ihres Lebens, für Namen trugen und wie sie aussahen und wie ihre Bewacher. Das alles begriff ich nun und begriff es auch nicht, denn jede Einzelheit, die sich mir, dem, wie ich fürchtete, aus eigener Schuld unwissend Gewesenen, eröffnete auf meinem Weg durch das Museum, aus einem Raum in den nächsten und wieder zurück, überstieg bei weitem mein Fassungsvermögen. Ich sah Gepäckstücke, mit denen die Internierten aus Prag und aus Pilsen, Würzburg und Wien, Kufstein und Karlsbad und zahllosen anderen Orten nach Terezin gekommen waren, Gegenstände wie Handtaschen, Gürtelschnallen, Kleiderbürsten und Kämme, die sie gefertigt hatten in den verschiedenen Manufakturen, genauestens ausgearbeitete Produktionspläne und Pläne zur landwirtschaftlichen Nutzung der Grünareale in den Wallgräben und draußen auf dem Glacis, wo in akkurat voneinander getrennten Parzellen Hafer und Hanf angebaut werden sollten und Hopfen und Kürbisse und Mais. Bilanzblätter sah ich, Totenregister, überhaupt Verzeichnisse jeder nur denkbaren Art und endlose Reihen von Zahlen und Ziffern, mit denen die Amtswalter sich darüber beruhigt haben müssen, daß nichts unter ihrer Aufsicht verlorenging. |
Aquarell für die Kaiserin Und jedesmal, wenn ich jetzt an das Museum von Terezin zurückdenke, sagte Austerlitz, sehe ich das gerahmte Grundschema der sternförmigen Festung, aquarelliert für die königlich-kaiserliche Auftraggeberin in Wien in sanften grünbraunen Tönen und eingepaßt in das rings um sie nach außen gefaltete Gelände, das Modell einer von der Vernunft erschlossenen, bis ins geringste geregelten Welt. |
Schilderung der Schlacht von Austerlitz durch den Geschichtslehrer Hilary:
Hilarys Glanzstück ist zweifellos die Schlacht von Austerlitz gewesen. Weit ausholend beschrieb er uns das Terrain, die Chaussee, die von Brünn ostwärts nach Olmütz führt, das mährische Hügelland zu ihrer Linken, die Pratzener Anhöhen zur Rechten, den seltsamen Kegelberg, der die altgedienten unter den napoleonischen Soldaten an die ägyptischen Pyramiden erinnerte, die Dörfer Bellwitz, Skolnitz und Kobelnitz, den Wildpark und das Fasanengehege, die in dem Gelände lagen, den Lauf des Goldbachs und die Teiche und Seen im Süden, das Feldlager der Franzosen und das der neunzigtausend Alliierten, das sich über neun Meilen erstreckte. Um sieben Uhr morgens, so Hilary, sagte Austerlitz, seien die Spitzen der höchsten Erhebungen aus dem Nebel aufgetaucht wie Inseln aus einem Meer, und während sich nach und nach die Helligkeit über den Kuppen vermehrte, habe der milchige Dunst drunten in den Tälern zusehends sich verdichtet. Gleich einer langsamen Lawine seien die russischen und österreichischen Truppen von den Bergseiten heruntergekommen und bald, in zunehmender Unsicherheit über das Ziel ihrer Bewegung, an den Abhängen und in den Wiesengründen herumgeirrt, während die Franzosen in einem einzigen Ansturm die halb schon verlassenen Ausgangspositionen auf den Pratzener Höhen gewannen, von wo sie dann dem Feind in den Rücken fielen. Hilary malte uns ein Bild aus von der Anordnung der Regimenter in ihren weißen und roten, grünen und blauen Uniformen, die sich im Verlauf der Schlacht zu immer neuen Mustern vermischten wie die Glaskristalle in einem Kaleidoskop. Wiederholt hörten wir die Namen Kolowrat und Bragation, Kutusow, Bernadotte, Miloradovich, Soult, Murat, Vandamme und Kellermann, sahen die schwarzen Rauchschwaden über den Geschützen hängen, die Kanonenkugeln hinwegsausen über die Köpfe der Kämpfenden, das Aufblinken der Bajonette, als die ersten Sonnenstrahlen den Nebel durchdrangen; vernahmen wahrhaftig, wie wir glaubten, das Aufeinanderkrachen der schweren Reiterei und spürten als eine Schwäche im eigenen Leib das Insichzusammensinken ganzer Reihen unter den an ihnen auflaufenden Wogen der Gegner. Hilary habe Stunden über den 2. Dezember 1805 reden können, sei aber demungeachtet der Auffassung gewesen, daß er in seinen Darstellungen alles viel zu sehr verkürze, denn sollte man wirklich, so habe er mehrfach gesagt, in irgendeiner gar nicht denkbaren systematischen Form, berichten, was an so einem Tag geschehen war, wer genau wo und wie zugrunde ging oder mit dem Leben davonkam, oder auch nur wie es auf dem Schlachtfeld aussah bei Einbruch der Nacht, wie die Verwundeten und die Sterbenden schrien und stöhnten, so brauchte es dazu eine endlose Zeit. Zuletzt bleibe einem nie etwas anderes übrig, als das, wovon man nichts wisse, zusammenzufassen in dem lachhaften Satz »Die Schlacht wogte hin und her« oder einer ähnlich hilf- und nutzlosen Äußerung. Wir alle, auch diejenigen, die meinen, selbst auf das Geringfügigste geachtet zu haben, behelfen uns nur mit Versatzstücken, die von anderen schon oft genug auf der Bühne herumgeschoben worden sind. Wir versuchen, die Wirklichkeit wiederzugeben, aber je angestrengter wir es versuchen, desto mehr drängt sich uns das auf, was auf dem historischen Theater von jeher zu sehen war: der gefallene Trommler, der Infanterist, der gerade einen anderen niedersticht, das brechende Auge eines Pferdes, der unverwundbare Kaiser, umgeben von seinen Generalen, mitten in dem erstarrten Kampfgewühl. Unsere Beschäftigung mit der Geschichte, so habe Hilarys These gelautet, sei eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starrten, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt. |
Nicht verwunderlich sind deshalb die zahllosen Veröffentlichungen, die sich mit der Verbindung von Fotografie und Text im letzten Werk Sebalds beschäftigen, speziell mit der Traumabewältigung der Hauptfigur. Im Moment des Traumas kommt es zur Verdrängung, unbewusste Schutzmechanismen verhindern das Vordringen ins Bewusstsein und die Erinnerung an den traumatischen Moment.
|