Leute



Er ist sich der Gefahr bewusst, sich die Existenz anderer anzueignen. Während alle vier Emigranten auf realen Personen basieren, ist der Maler Max Ferber, der seine Werke obsessiv auskratzt und dann neu anfertigt, eine Mischung aus Sebalds Vermieter in Mancunian ("Ich fand heraus, dass er an denselben Orten Ski gefahren war wie ich") und dem in London lebenden Künstler Frank Auerbach. Ohne Auerbach namentlich zu nennen, sagt Sebald, er habe sich im Recht gefühlt, weil die Informationen über seine Arbeitsweise aus einer veröffentlichten Quelle stammen. Auerbach weigert sich jedoch, seine Bilder in der englischen Ausgabe erscheinen zu lassen. Sebald änderte den Namen der Figur von Max Aurach im Deutschen. Ich ziehe mich zurück, wenn ich ein Gefühl für das Unbehagen der Person bekomme.



Max Aurach/Ferber (1924 - 1991)

Hörbuch

(Die Ausgewanderten S. 217ff)



Darum ist Sebald ausgewandert: Er erträgt die Deutschen nicht mehr. Und hat doch u. a. Deutsche Literatur in Norwich gelehrt, hat vielleicht das schönste Deutsch seiner Generation geschrieben. Kaum gibt es Landschaftsbeschreibungen von solcher Intensität. Er entwirft Bilder der Kleinstadt Steinach, einst bewohnt von einem Drittel jüdischer Einwohner, oder vom desaströs verkommenen Manchester, einmal blühende Industriestadt ...
Ferber malt Porträts in der Art Lucian Freuds. 1943 gelangt er mittels erkauftem Visum nach England, arbeitet in einem Militärhospital, die Deutschen ermorden seine Eltern - sie haben ihn in die Sicherheit geschickt. Ferber bleibt in Manchester, reist nur einmal noch auf den Kontinent - um Grünewald zu sehen. Begegnet im Traum einer Figur Joseph Roths: Frohmann aus Drohobycz.
Als Sebald Ferber Jahre später, inzwischen berühmt, wieder besucht, erzählt der Maler weiter von sich, überlässt ihm das Tagebuch seiner Mutter Luise Lanzmann. Im Lager Litzmannstadt, wie die Nazi-Eroberer Lodz nennen, endet die letzte der vier langen Erzählungen.


Unweit der Schleusen an der Zufahrt zum Hafen stieß ich in einer von den Docks in Richtung Trafford Park abzweigenden Straße auf das mit groben Pinselstrichen gemalte Schild TO THE STUDIOS. Es wies den Weg in einen gepflasterten Hof, in dessen Mitte, umgeben von einem kleinen Grasplatz, ein blühendes Mandelbäumchen stand. Der Hof mußte einmal zu einem Fuhrunternehmen gehört haben, denn er war teils von ebenerdigen Stallungen und Remisen, teils von ein- bis zweistöckigen ehemaligen Wohn- und Geschäftsgebäuden umgeben, und in einem dieser anscheinend verlassenen Gebäude war das Atelier untergebracht, das ich in den kommenden Monaten, sooft ich glaubte, es verantworten zu können, aufsuchte, um Gespräche zu führen mit dem Maler, der dort seit Ende der vierziger Jahre arbeitete, Tag für Tag zehn Stunden, den siebten Tag nicht ausgenommen.


... das Deutsche, das ich seit 1939, seit dem Abschied von den Eltern auf dem Münchner Flughafen Oberwiesenfeld, nicht ein einziges Mal mehr gesprochen habe und von dem nur ein Nachhall, ein dumpfes, unverständliches Murmeln und Raunen noch da ist in mir. Möglicherweise, fuhr Ferber fort, hängt es mit dieser Einbuße oder Verschüttung der Sprache zusammen, daß meine Erinnerungen nicht weiter zurückreichen als bis in mein neuntes oder achtes Jahr und daß mir auch aus der Münchner Zeit nach 1933 kaum etwas anderes erinnerlich ist als die Prozessionen, Umzüge und Paraden, zu denen es offenbar immer einen Anlaß gegeben hat. Entweder es war Maifeiertag oder Fronleichnam, Fasching oder der zehnte Jahrestag des Putschs, Reichsbauerntag oder die Einweihung des Hauses der Kunst. Entweder trug man das Allerheiligste Herz Jesu durch die Straßen der inneren Stadt oder die sogenannte Blutfahne.
Zu Hause haben die Eltern in meiner Gegenwart nicht oder nur andeutungsweise über die neue Zeit gesprochen. Krampfhaft haben wir uns alle bemüht, den Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten, auch nachdem der Vater die Geschäftsleitung seiner vor einem Jahr erst eröffneten, schräg gegenüber vom Haus der Kunst gelegenen Galerie an einen arischen Partner hatte übergeben müssen.
Von einer Ausreise aus Deutschland war, jedenfalls in meiner Gegenwart, nicht ein einziges Mal die Rede, auch nicht, nachdem die Nazis bei uns in der Wohnung Bilder, Möbel und Wertgegenstände als uns nicht zustehendes deutsches Kulturgut konfisziert hatten. Ich entsinne mich nur, wie die Eltern besonderen Anstoß nahmen an der ungezogenen Art, mit der sich die niedrigeren Chargen die Taschen mit Zigaretten und Zigarillos vollstopften. Nach der Kristallnacht wurde der Vater in Dachau interniert. Sechs Wochen darauf kam er um einiges magerer und mit kurzgeschorenem Haar wieder nach Hause. Von dem, was er erlebt und gesehen hatte, ließ er mir gegenüber nichts verlauten. Wieviel er der Mutter erzählt hat, weiß ich nicht.
Kurz nach dem Ausflug nach Lenggries gelang es dem Vater, durch Bestechung des englischen Konsuls ein Visum für mich zu erwirken. Die Mutter rechnete damit, daß sie beide mir bald nachfolgen würden. Der Vater, sagte sie, sei jetzt endlich fest zur Ausreise entschlossen. Es müßten nur die entsprechenden Vorbereitungen noch getroffen werden. Inzwischen wurde für mich gepackt. Am 17. Mai, dem fünfzigsten Geburtstag der Mutter, brachten die Eltern mich auf den Flughafen hinaus.

Friedrich Maximilian Ferber, so konnte ich den eher spärlichen Angaben des Magazinberichts entnehmen, war im Mai 1939, im Alter von fünfzehn Jahren, aus München, wo sein Vater eine Kunsthandlung geführt hatte, nach England gekommen. Weiter hieß es, die Eltern Ferbers, die die Ausreise aus Deutschland aus verschiedenen Gründen hinausgezögert hatten, seien im November 1941 mit einem der ersten Deportationszüge aus München nach Riga geschickt und in der dortigen Gegend ermordet worden.

Anfang 1942 hat der Onkel Leo, so beendigte Ferber am Vorabend meiner Abreise aus Manchester seine Erzählung, sich in Southampton nach New York eingeschifft. Zuvor war er noch einmal nach Margate gekommen, und wir hatten verabredet, daß ich ihm im Sommer, nach Absolvierung meines letzten Schuljahres, nachfolgen würde. Als es soweit war, habe ich mich aber, weil ich von nichts und niemandem mehr an meine Herkunft gemahnt werden wollte, entschlossen, statt nach New York unter die Obhut des Onkels allein nach Manchester zu gehen.

Ich weiß nicht mehr, bei welcher Gelegenheit mir Ferber seine äußerst kursorische Lebensbeschreibung gab, glaube mich jedoch zu entsinnen, daß er nur ungern auf meine an diese Lebensbeschreibung sich anschließenden und seine Vorgeschichte betreffenden Fragen einging. Ferber war erstmals im Herbst 1943, im Alter von achtzehn Jahren, als Kunststudent nach Manchester gekommen, war aber bereits nach ein paar Monaten, zu Beginn des Jahres 1944, in die Armee einberufen worden.

Fortfahrend in seinem Bericht, sagte Ferber, er habe sich im Anschluß an seine militärische Grundausbildung in dem in einer gottverlassenen Gegend im Norden der Grafschaft Yorkshire gelegenen Lager Catterick zu einem Fallschirmjägerregiment gemeldet in der Hoffnung, noch vor dem bereits mit einiger Deutlichkeit sich abzeichnenden Ende des Krieges zum Einsatz zu kommen. Diese Hoffnung sei aber durch eine Gelbsuchterkrankung und durch die Einweisung in ein im Palace Hotel in Buxton untergebrachtes Rekonvaleszentenheim zunichte gemacht worden.

Anfang Mai 1945 habe er sich jedenfalls, den Entlassungsschein in der Tasche, zu Fuß auf den Weg in das ungefähr fünfundzwanzig Meilen entfernte Manchester gemacht, um dort sein Kunststudium wieder aufzunehmen.

Genau vermag ich es nicht mehr anzugeben, sagte Ferber, welche Gedanken der Anblick von Manchester damals in mir auslöste, aber ich glaube, daß ich das Gefühl hatte, angelangt zu sein am Ort meiner Bestimmung.

Meiner damaligen Vorstellung entsprechend, bin ich bis auf den heutigen Tag in Manchester geblieben, setzte Ferber seine Geschichte fort. Zweiundzwanzig Jahre sind es nun, sagte er, daß ich angekommen bin, und mit jedem Tag, der vergeht, wird es mir unmöglicher, an eine Ortsveränderung auch nur zu denken. Manchester hat endgültig Besitz ergriffen von mir. Ich kann und will und darf nicht mehr fort.

Nur einmal seit meiner Jugend habe ich eine Auslandsreise unternommen, und zwar als ich, im Sommer vor zwei Jahren, nach Colmar und von Colmar über Basel an den Genfer See gefahren bin. Ich hatte seit sehr langer Zeit den Wunsch gehegt, die mir bei der Malarbeit so oft vorschwebenden Isenheimer Bilder Grünewalds und insbesondere das von der Grablegung in Wirklichkeit zu sehen, hatte aber meiner Reiseangst nie Herr werden können.

















Grünewald siehe

Ich habe damals in Colmar, so sagte Ferber, alles auf das genaueste vor mir gesehen, wie eines zum andern gekommen und wie es nachher gewesen war. Der Erinnerungsstrom, von dem mir heute nur weniges mehr gegenwärtig ist, setzte damit ein, daß ich mich entsann, wie ich an einem Freitagmorgen vor einigen Jahren überwältigt worden war von dem mir bis dahin völlig unbekannten Schmerzensparoxysmus, den ein Bandscheibenvorfall auslösen kann.

Wenn ich an Deutschland denke, kommt es mir vor wie etwas Wahnsinniges in meinem Kopf. Und wahrscheinlich aus der Befürchtung, daß ich dieses Wahnsinnige würde bestätigt finden, bin ich nie mehr in Deutschland gewesen. Deutschland, müssen Sie wissen, erscheint mir als ein zurückgebliebenes, zerstörtes, irgendwie extraterritoriales Land, bevölkert von Menschen, deren Gesichter wunderschön sowohl als furchtbar verbacken sind.







Erst als ich Ende November 1989 in der Londoner Tate Gallery (ich war eigenlich gekommen, Delvaux' Schlafende Venus, einem etwa vier auf fünf Fuß messenden Bild mich gegenüberfand, das die Signatur Ferbers trug und den für mich ebenso bedeutungsvollen wie unwahrscheinlichen Titel


G. I. on her Blue Candlewick Cover,

erst dann begann Ferber in meinem Kopf wieder lebendig zu werden. Bald darauf entdeckte ich im Farbmagazin einer Sonntagszeitung - wiederum mehr oder weniger durch Zufall, denn ich vermeide seit langem die Lektüre dieser Blätter und insbesondere die ihrer illustrierten Beilagen - einen Bericht über Ferber, aus dem hervorging, daß seine Arbeiten auf dem Kunstmarkt inzwischen zu höchsten Preisen gehandelt wurden, daß aber er, Ferber, dieser Entwicklung ohngeachtet, seine Lebensweise beibehalten habe und nach wie vor in seinem Studio unweit der Dockanlagen des Hafens von Manchester zehn Stunden am Tag vor der Staffelei stehe.

... kam aus Manchester die Nachricht, daß Ferber mit einem Lungenemphysem in das Withington Hospital eingeliefert worden sei.






Frank Auerbach siehe

siehe auch