Wer abspringt,
ist nicht unbedingt dem Wahnsinn verfallen,
ist nicht einmal unter allen Umständen ‚gestört‘ oder ‚verstört‘. Der Hang zum Freitod ist keine Krankheit,
von der man geheilt werden muss wie von den Masern...
Der Freitod ist ein Privileg des Humanen.
Ich baumele noch immer,
zweiundzwanzig Jahre danach,
an ausgerenkten Armen über dem Boden,
keuche und bezichtige mich.
Am 17. Oktober 2013 sperrt er sich in ein Hotelzimmer ein, schluckt 50 Schlaf-tabletten, stirbt. 2 Jahre vorher hat ihn Christian Schultz-Gerstein interviewt.
Da reden sie über den Selbstmord.
Seien Amérys Gedanken über den Freitod die letzte Stufe der Aufklärung, falls man Aufklärung als den Versuch versteht, die fehlerhafte Schöpfung rückgängig zu machen?
Ihm, Schultz-Gerstein, seien Amérys Gedanken ganz nahe, wie er die Faust gegen das Ganze, die Schöpfung, balle, proklamiere er damit ein Menschenrecht auf Freitod?
Améry: Für mich als alten Aufklärer, der sein ganzes Leben lang im Zeichen der Aufklärung gelebt und gedacht hat, für mich ist es die mir erreichbare, also ich sage, die mir erreichbare letzte Stufe der Aufklärung.
... Also mir hat neulich ein Student gesagt: Warum haben Sie dieses Buch über den Freitod geschrieben und warum haben Sie sich eigentlich nicht umgebracht? Ich habe ihm dann gesagt: Nur Geduld.
Gerstein: Was für ein literarisches Projekt haben Sie noch vor?
Améry: Ach, ich möchte gerne … Ich weiß nicht, ob Sie den Roman ›Madame Bovary‹ kennen. Also ich möchte gerne die Geschichte des Charles Bovary schreiben, des Mannes, der in diesem Buch schrecklich schlecht wegkommt. Und die ganze Geschichte von diesem dort als dummen Spießer hingestellten Menschen mir anschauen.
Nach Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod von 1976 veröffentlicht Améry in seinem Todesjahr 1978
Charles Bovary, Landarzt. Porträt eines einfachen Mannes.
Im Elementargedicht Sebalds Nach der Natur
finden sich folgende apogryphen Stellen:
Doch dann war da unversehens
diese Sache mit dem eleganten
Herrn in der Oper, und ich fand
eine Blindschleiche im Hühnerhaus.
Eine Krähe verlor im Flug eine weiße
Feder, der Pfarrer, ein hinkender
Bote im schwarzen Überzieher,
erschien am Neujahrsmorgen allein
auf der weiten verschneiten Flur.
...
Prosa aus dem letzten Jahrhundert,
ein Kleid, das sich in den Disteln
verfing, ein bißchen Blut, eine
Exaltation, ein zerrissener Brief,
ein Uniformsternchen und längere
Aufenthalte am Fenster. Ungute
Phantasien in einer dunklen
Kammer, nachgetragene Sünden,
ja Thränen sogar und im Gedächtnis
der Fische ein sterbendes Feuer,
Emma, wie sie den Hochzeitsstrauß
verbrennt. Was soll da ein armer
Landarzt sich denken? Beim Leichenbegängnis
träumt er von einem glänzenden Paar
Lackstiefeln und einer posthumen
Verführung.
Die Rede ist von der Emma im Roman "Madame Bovary". Dessen Verfasser Flaubert macht Améry in kurzen Prozeß.
In vier Monologen entwirft er Verteidigung und Ehrenrettung von Charles Bovary, dem gehörnten Gatten der so viel berühmteren Madame als Angriff auf Flaubert,
der dieses sein Geschöpf Charles Bovary durch Mißachtung seines elementaren Anspruchs
auf realistische Gerechtigkeit hat verkommen lassen, ja blamieren wollen.
Sebald begegnet Améry stets und immer wieder. Erstmals bei Forschungen zu Holocaust-Überlebenden, die später Selbstmord begehen - und fühlt sich sogleich besonders angezogen. Sicher auch deswegen, weil Améry aus einer ihm vertrauten Sprachlandschaft stammt (dessen Akzent erinnert ihn an den seines Großvaters...)
Für das Sommersemester 1993 schreibt Professor W. G. Sebald in seinen Leseplan unter "Essential Reading" Amérys wohl wichtigses Werk: Jenseits von Schuld und Sühne
In Die Ausgewanderten besucht der Erzähler den jüdischen Friedhof in Kissingen.
Eine Art Erkennungsschreck durchfuhr mich vor dem Grab, in dem der an meinem Geburtstag, dem
18. Mai dahingegangene Meier Stern liegt [Sebald ist am 18. Mai geboren], und auch von dem Symbol
der Schreibfeder auf dem Stein der am 28. März 1912 aus dem Leben geschiedenen Friederike Halbleib
fühlte ich mich auf eine, wie ich mir sagen mußte, gewiß nie ganz zu ergründene Weise angerührt.
1912 ist Amérys Geburtsjahr und sein Name ein Anagram aus Mayer.
Am 31. Oktober 1912 wird Hans Chaim Mayer in Wien geboren, Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter. Der Vater fällt im Ersten Weltkrieg.
Hans weiß von frühester Jugend von seiner jüdischen Abstammung, aber das Judentum bleibt für den Heranwachsenden zunächst bedeutungslos. Ohne den Zwang der geschichtlichen Ereignisse, als ihn eine feindliche Umwelt zum Juden stigmatisiert, hätte er sich wohl später niemals so eindeutig zum Judentum bekannt. Hans wächst im Salzkammergut auf, wird katholisch erzogen, bricht das Gymnasium im 12. Lebensjahr ab, macht eine Buchhändlerlehre in Wien, besucht philosophische und literarische Vorlesungen, wird Dozent an der Volkshochschule, ist Angestellter der kleinen Buchhandlung der Volkshochschule-Zweigstelle Leopoldstadt und betreut die kleine Leih-Bücherei 1930 bis 1938, dem Jahr des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich.
Die „Nürnberger
Gesetze“ von 1935 brandmarken Mayer zum Juden:
Mein Judesein wurde mir klar... Die Gesellschaft wollte mich als Juden, ich hatte den Urteilsspruch anzunehmen; ein Rückzug in die Subjektivität, aus der heraus ich hätte vielleicht sagen können, ich ‚fühlte’ mich nicht als Jude, wäre belangloses, privates Spiel gewesen. Er verspürt das drohende Unheil, das von den Nazis ausgeht, setzt sich intensiv mit deren menschenverachtenden Ideologie auseinander: Als der Donnerschlag kam, der 11. März 1938, da mein Land jauchzend sich dem Führer des großdeutschen Reiches an den Hals warf, war ich gerüstet.
Mayer emigriert gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Regine Berger-Baumgarten (1915-1944) nach Belgien. 1940 als "feindlicher Ausländer" festgenommen und im südfranzösischen Lager Gurs interniert, gelingt ihm 1941 die Flucht, er beteiligt sich in Belgien am Widerstand gegen die Nazis. 1943 von der Gestapo verhaftet und im Fort Breendonk von der SS gefoltert: Mittels sogenanntem "Pfahlhängen" renkt ihm der deutsche Folterer die Schultergelenke aus, peitscht ihn mit dem Ochsenziemer.
Später verschleppt ihn die SS in die KZs Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, wo Engländer ihn befreien.
Die Tortur, das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann...
Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Dass der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen.
Als Häftling Nr. 172364 in Auschwitz wird er Augenzeuge dieser Hölle:
Eine Frau ... löst sich plötzlich mit aufgelöstem Haar und tragischen Gebärden von ihren Genossinnen und fragt schreiend, bereits mit sichtlichen Anzeichen beginnender Geistesgestörtheit, nach ihrem Kinde. Sie gerät an einen wachthabenden SS-Mann, ,Mein Kind', sagt sie, ,haben Sie nirgends mein Kind gesehen?' ,Ein Kind willst Du?', antwortet der SS Mann mit vollkommener Ruhe, ,warte ...' Und er geht sehr langsam auf die Gruppe ... der Kleinen zu. Er bückt sich und ergreift einen etwa vierjährigen Knaben beim Fuß. Er hebt ihn hoch und wirbelt ihn einige Male durch die Luft, wobei er den kleinen Kopf an einem eisernen Pfeiler zerschmettert.
Mit 45 Kilogramm Lebendgewicht wieder in der Welt kehrt er nach Brüssel zurück. Hans Mayer muss sich neu einrichten in dieser Welt. Wie viele Überlebende der Shoah stellt auch er erschüttert fest, dass die millionenfache Ermordung jüdischer Menschen durch Deutschland nach 1945 allgemein verdrängt wird. Nach Österreich zurückkehren will er nicht - auch wenn er das Land seit 1946 regelmäßig besucht. Jahrelang meidet er ‚deutschen Boden’ - finanzielle ‚Wiedergutmachung’ zu beantragen, lehnt er strikt ab. Das Deutschland nach 1945 war ihm widerwärtig im höchsten Grade, und ich fand, es sei der Morgenthau-Plan eine vernünftige und sehr milde Lösung. Gleichwohl ruft er nie zur ‚Rache’ an den Deutschen auf: Wir glauben nicht, dass geschehenes Leid durch neues Leid ausgelöscht werden könne.
Nach 1945 in Brüssel lebend, nimmt er den Namen Améry an, arbeitet als Journalist für verschiedene deutschsprachige Zeitungen der Schweiz. Zeitweise verweigert er die Publikation seiner Texte in der Bundesrepublik Deutschland. Vom Schreiben kann Améry jahrelang nur "eher schlecht denn recht" leben.
Die Erfahrungen in den Nazilagern verarbeitet Améry in Jenseits von Schuld und Sühne, 1967 wendet er sich scharf gegen Adornos Versuch, in einer von sich selber bis zur Selbstblendung entzückten Sprache aus Auschwitz unter dem Titel absolute Negativität philosophisch Kapital zu schlagen.
1969 veröffentlicht Améry Der ehrbare Antisemitismus, wo er sich mit dem fortbestehenden Judenhass und insbesondere einem auf Israel projizierten Antisemitismus
in linksintellektuellen Kreisen auseinandersetzt.
Jean Améry ist nicht nur der Verfasser glänzender Essays und in den 1960er und 70er Jahren als ehemaliges Résistance-Mitglied jüdischer Herkunft und überlebender KZ-Häftling unablässig auf die radikale Vernunft pochend, unversöhnlich, heillos, ein intellektueller Star in der Bundesrepublik, sondern auch - fast unbekannt bis heute - Verfasser dreier Romane; ihm bleibt aber der Erfolg als Romanautor versagt.
Da sind Die Schiffbrüchigen - verfasst 1934/35, posthum 2007 erschienen.
Verzweifelt über die Machtergreifung der Nazis in Deutschland und die blutige Niederschlagung des Februaraufstandes in Österreich, schreibt Jean Améry den Roman.
Parallel zum Kulturverfall in den faschistischen Staaten findet der persönliche Abstieg des intellektuellen Außenseiters Eugen Althager in Wien statt. Der Arbeitslose wird von seiner Geliebten wegen eines Ingenieurs verlassen, den sie zwar nicht liebt, der ihr jedoch ein Leben im Wohlstand ermöglicht. Anders als der hoffnungslose Existenzialist Eugen Althager passt dessen ebenfalls jüdischer Freund Heinrich Hessl sich an, konvertiert zum Katholizismus und beginnt bei einer katholischen Zeitschrift mit einer Karriere als Redakteur. Am Ende verleugnet auch Eugen Althager seine jüdische Herkunft, damit ein faschistischer Student ihn zum Duell herausfordern kann. Améry spürt den Motiven, Überlegungen und Entwicklungen des hoffnungslosen Protagonisten nach, ein fesselndes Psychogramm entsteht. Die ausgefallene Wortwahl, Wortneuschöpfungen und eine nach rhythmischen statt nach grammatikalischen Gesichtspunkten gestalteten Syntax faszinieren. Nach dem Suizid Amérys wird das 392 Seiten umfassende,
Manuskript im Nachlass gefunden. Klett-Cotta veröffentlicht den Roman im Februar 2007.
Die Schiffbrüchigen sind das spannende, weil subversive Gegenmodell zum Bildungsroman. Geschichte einer verratenen Freundschaft und Künstlerroman, enthält dieser Text schon alle gedanklichen Komplexe, die später Amérys Werk so einzigartig machen.
Da ist weiter Lefeu oder Der Abbruch von 1974.
In einem Viertel der französischen Hauptstadt, geprägt von Glanz wie Verfall, das daher abgerissen werden soll, um neuen Großbauten zu weichen, lebt der Maler Lefeu,
ein deutschjüdischer Emigrant und Kämpfer der Résistance, in einem Atelier. Es geschieht in New York, in Tokio, London – vielleicht in Düsseldorf. Auch dort, ja. Gleichviel:
es handelt sich um Lefeu. Der Abbruch geht weiter, soviel ist sicher. Améry nimmt die erzählerischen Fäden des Romanprojekts Die Schiffbrüchigen wieder auf, das ihn seit seinem 20. Lebensjahr beschäftigt, es findet wenig Anklang. Im Archiv von Amérys Frau Maria findet sich ein Exemplar von Lefeu, das der Autor eigenhändig zerfetzt, als er einen Verriss dieser erzählerischen Bilanz der Epoche zu lesen bekommt. Vier Jahre später wird er die Verrisse nicht mehr abwarten können.
Im August 1978 erscheint
der Roman, den, wiewohl es sich um eine Abrechnung nicht nur mit Flaubert, sondern auch mit Sartre handelt, Améry für sein leichtestes Werk hält, mit dem es ihm endlich gelingen müsse, die Deutschen, die mich ewig nur als Essayisten wollen, mit einem anderen J. A. bekannt zu machen.
Den ganzen September über, erinnert sich seine Frau, "lauerte er mit geradezu krankhafter Gereiztheit auf irgendeine Besprechung".
Die "Heil" riefen, als sie ihm alles Heil seines Lebens zerprügelten, allen Freudefunken zertraten, haben ihn in den Tod getrieben. Am 17. Oktober 1978 nimmt Jean Améry sich in Salzburg das Leben, das er zum Schluss "offensichtlich überflüssig" genannt hat. Sein "Abschiedsbrief" besteht aus Geld für das Personal und steckt in einem Couvert, das auf dem Hotelzimmertisch liegt – mit der Bitte um Entschuldigung für die "Unannehmlichkeiten", die er bereitet habe.
In Sebalds Werk nimmt Améry eine zentrale Stelle ein.
Seine Identifikation mit Améry ist sonderbar berührend intim.
Hat das mit dem Beginn von Sebalds Schriftstellertum zu tun?
Aus einem Interview mit Carole Angier:
The Emigrants started from a phone call I got from my mother, telling me that my schoolteacher in Sonthofen had committed suicide. This wasn’t very long after Jean Améry’s suicide, and I had been working on Améry. A sort of constellation emerged about this business of surviving and about the great time lag between the infliction of injustice and when it finally overwhelms you... And that triggered all the other memories I had.
In einem anderen Interview erwähnt Eleanor Wachtell, dass ein Kritiker Sebald als “ghost hunter” bezeichne. Sie fragt ihn, ob er sich auch so sehe.
Sebald: Yes, I do. I think that’s pretty precise... when you get interested in someone, you invest a considerable amount of emotional energy and you begin to occupy this person’s territory, after a fashion. You establish a presence in another life through emotional identification.
Als er in Austerlitz Breendonck beschreibt, erinnert sich:
Indem ich in diese Grube hinabstarrte, auf ihren, wie es mir schien, immer weiter versinkenden Grund, auf den glattgrauen Steinboden, das Abflußgitter in seiner Mitte und den Blechkübel, der daneben stand, hob sich aus der Untiefe das Bild unseres Waschhauses in W. empor und zugleich, hervorgerufen von dem eisernen Haken, der an einem Strick von der Decke hing, das der Metzgerei, an der ich immer vorbeimußte auf dem Weg in die Schule und wo man am Mittag oft den Benedikt sah in einem Gummischurz, wie er die Kacheln abspritzte mit einem dicken Schlauch.
Sebald wird an Amérys krachende Schultern unter der Folter erinnert, wenn er an den Eisenhaken in Wertach denkt oder die Grabinschrift mit seinem Geburtsdatum liest.
Nicht nur der Bahnhof Austerlitz, auch die Bahnhöfe von Liverpool Street und Antwerpen sind Embleme von Macht, wo der Zusammenhang von Kultur und Barbarei augenfällig wird. Allerdings gibt sich kein Bau so offensichtlich als Architektur der Gewalt zu erkennen wie die Festung Breendonk.
Der Gang durch Fort Breendonk ist Sebalds Gang zu Jean Améry.
Austerlitz gibt sich explizit als Hommage an ihn zu erkennen, denn das Nocturama, die Nachtvögel und Breendonk sind nicht nur die Ouvertüre des Werks, sie bringen es auch zum Abschluss.
|