Leute
Marie de Verneuil



AUS 195f, 294ff, 368ff, CS 179, LW 65 ff

Ich war von Marie de Verneuil, mit der ich seit meiner Pariser Zeit korrespondierte, eingeladen worden, sie zu begleiten auf einer Reise nach Böhmen, wo sie für ihre baugeschichtlichen Studien zur Entwicklung der europäischen Kurbäder verschiedene Nachforschungen und, wie ich heut glaube sagen zu dürfen, sagte Austerlitz, den Versuch anstellen wollte, mich aus meiner Vereinzelung zu befreien. Sie hatte alles auf das beste in die Wege geleitet. Ihr Vetter, Frédéric Félix, der Attaché war an der Prager französischen Botschaft, hatte uns eine enorme Tatra-Limousine an den Flughafen geschickt, mit der wir dann direkt nach Marienbad chauffiert worden sind.
...
Immer aber in gleichmäßigem Abstand folgten uns, seit wir das Gelände des Prager Flughafens verlassen hatten, zwei uniformierte Motorradfahrer. Sie trugen lederne Sturzhelme und schwarze Schutzbrillen zu ihrer Montur, und die Läufe ihrer Karabiner ragten ihnen schräg über die rechte Schulter. Mir waren die beiden unerbetenen Begleiter sehr unheimlich, sagte Austerlitz, vor allem wenn wir über einen der Wellenkämme hinweg bergab fuhren und sie für eine gewisse Zeit aus der rückwärtigen Sicht verschwanden, um gleich darauf, um so drohender gegen das Licht umrissen, wieder zu erscheinen. Marie, die nicht so leicht einzuschüchtern war, lachte nur und sagte, es handle sich bei den beiden Schattenreitern offenbar um die in der ČSSR eigens für Besucher aus Frankreich aufgebotene Ehrenkavalkade.
...
Tatsächlich bin ich nie zuvor in meinem Leben besser eingeschlafen als in dieser ersten mit Marie gemeinsam verbrachten Nacht. Ich hörte gleichmäßig ihren Atem gehen. In dem Wetterleuchten, das ab und zu über den Himmel fuhr, erschien neben mir für kürzeste Augenblicke ihr schönes Gesicht, und dann rauschte draußen gleichmäßig der Regen herunter, die weißen Vorhänge wehten ins Zimmer herein, und ich spürte im Einschlafen als ein leichtes Nachlassen des Drucks hinter meiner Stirne den Glauben oder die Hoffnung, endlich erlöst zu sein. In Wirklichkeit aber ist es dann ganz anders gekommen. Vor dem Morgengrauen noch erwachte ich mit einem derart abgründigen Gefühl der Verstörung, daß ich mich, ohne Marie auch nur ansehen zu können, wie ein Seekranker aufrichten und an den Bettrand setzen mußte. Es hatte mir geträumt von einem der Hausdiener, der uns zum Frühstück ein giftgrünes Getränk heraufbrachte auf einem Blechtablett und eine französische Zeitung, in welcher in einem Artikel auf der ersten Seite die Notwendigkeit einer Reform der Bäderverwaltung erörtert wurde und mehrfach die Rede war von dem traurigen Los der Hotelangestellten, qui portent, so, sagte Austerlitz, hieß es in der Traumzeitung, ces longues blouses grises comme en portent les quincailleurs. Der Rest des Blattes bestand fast ausschließlich aus Todesanzeigen in Briefmarkenformat, deren winzige Buchstaben ich nur mit viel Mühe entziffern konnte. Es waren Anzeigen nicht nur in franzôsischer, sondern auch in deutscher, polnischer und hollàndischer Sprache.

Der kubanische Rauch hing in blauen Schlieren zwischen uns in der Luft, und es verstrich eine gewisse Zeit, bis Marie mich fragte, was in mir vorgehe, weshalb ich so geistesabwesend, so in mich gekehrt sei; wie ich aus meinem gestrigen Glück, das sie doch gespürt habe, auf einmal so hätte niedersinken können. Und meine Antwort war nur, ich wisse es nicht. Ich glaube, sagte Austerlitz, ich habe versucht zu erklären, daß mir irgend etwas Unbekanntes hier in Marienbad das Herz umdrehe, etwas ganz Naheliegendes, wie ein einfacher Name oder eine Bezeichnung, auf die man sich nicht besinnen kann, um nichts und niemanden auf der Welt. Es ist mir heute unmöglich, im einzelnen zurückzurufen, wie wir die paar Tage in Marienbad verbracht haben, sagte Austerlitz. Ich bin oft stundenlang in den Sprudelbädern und in den Ruhekabinen gelegen, was mir einerseits wohlgetan, andererseits aber vielleicht meinen seit so vielen Jahren aufrechterhaltenen Widerstand gegen das Aufkommen der Erinnerung geschwächt hat. Einmal waren wir in einem Konzert im Gogol-Theater. Ein russischer Pianist namens Bloch hat dort vor einem halben Dutzend Zuhörer die Papillons und

gespielt. Auf dem Rückweg ins Hotel erzählte Marie, ein wenig zur Warnung, schien es mir, sagte Austerlitz, von der inneren Verdunkelung und dem Wahnsinnigwerden Schumanns, und wie er zuletzt, mitten im Gedränge des Düsseldorfer Karnevals, mit einem Satz über das Brückengeländer in den eiskalten Rhein gesprungen sei, so daß zwei Fischer ihn herausziehen mußten. Er hat dann noch eine Anzahl von Jahren gelebt, sagte Marie, in einer privaten Anstalt für Geistesgestörte in Bonn oder Bad Godesberg, wo Clara ihn mit dem jungen Brahms zusammen in gewissen Abständen besuchte und, weil man mit dem ganz weitabgewandten, in falschen Tönen vor sich hin summenden Menschen nichts mehr reden konnte, meist nur durch einen Schieber in der Tür ein bißchen zu ihm in das Zimmer hineinschaute.




Im Hotel ließen wir ein Feuer anschüren,
obwohl es mitten im Sommer war.
Durch einen regendunklen Vordergrund
schauten wir später, in unsere schweren
schottischen Schlafröcke gewickelt,
durch die offenen Fenster hinaus
in ein dämmerndes Jenseits.
Ist denn die Welt nicht übrig,
so fragtest du, ein grün Gelände
zieht sich's nicht hin am Fluß
durch Busch und Matten? Die Ernte,
reift sie nicht? Schwebt
über den Felsenwänden
der heilige Schatten
nicht mehr? Ist dies,
was dort heraufkommt,
die graue Farbe der Nacht?

Tags darauf saßen wir im Kaffeehaus
unter einem Seerosenbild. Vielleicht
sind es aber auch Flamingos gewesen.
Erinnerst du dich an den Ober?
An sein weißes, gestutztes Haupthaar,
an den Gehrock aus der Zeit
der Jahrhundertwende, die taftene Masche?
An die Art, wie er mit den Fingerspitzen
mehrmals die linke Schläfe berührte?
Weißt du noch, die cubanischen Cigaretten,
die er mir brachte? Kerzengerade
stieg der feine blaue Rauch in die Luft.
Ganz ohne Zweifel, ein gutes Zeichen.
Und wirklich war es draußen
heller geworden. Reduzierte Adelige
raschelten in ihren Staubmänteln
auf dem Weg ins Refektorium.









Der Belzer Rabbi ging, ein Plastik-
becherchen in der Hand, zum Brunnen.
Auf der Promenade ließ sich
ein Hochzeitspaar photographieren.
Überall auf dem geschorenen Rasen
lagen arkebusierte
leidende Herzen herum.
Bei der Rückkehr ins Hotel
sahen wir Dr. K. halbverdeckt
hinter einer roten Fahne
an einem Balkontischchen sitzen,
beschäftigt mit einer für ihn
viel zu großen Portion
Kaiserfleisch.

Das Spiel mit den Zündhölzern
sollte dann alles entscheiden.
Glänzend dehnte sich die Fläche
des Parketts. Ringsum die Spiegel-
bilder, die Gäste, bewegungslos,
und zwischen ihnen du
in deiner Federboa. Waren wir
uns nicht schon einmal begegnet?
In einem Taxuslabyrinth?
Auf einer Bühne? Perspektivischer
Prospekt, gestutzte Hecken,
Kugelbäumchen, Balustraden,
im Hintergrund das Schloß?
Du solltest sagen, ich
bin ganz dein, nichts
als bloß diese Worte,
und hast sie auch gesagt,
seltsamerweise dich
jedoch um keinen Zoll
gerührt.









As we wandered among the exhibits, Kaeser became intrigued by an alphabetical list of episodes in The Emigrants display. Under L, oddly, was Manchester; under M, Marie.
"This must be the Marie de Verneuil with whom Jacques Austerlitz went to Bad Marienbad," I said.
"Yes," Kaeser confirmed.
"Is the episode autobiographical? Did Sebald have an affair?"
"Yes," said Kaeser. "She was called Marie France and was in our circle of friends when we were 16 or 17. Nothing happened then. Later she was divorced, heard Max was in the Bibliothèque Nationale in Paris and came looking for him."
"Did Ute know?" I asked, referring to Sebald's widow.
"Yes," said Kaeser. "When Max died, Ute rang Marie with the news."
"So they were friends?"
"No. They were not friends." Als wir durch die Ausstellung schlenderten, interessierte sich Kaeser für eine alphabetisch geordnete Liste der Episoden in der Ausstellung Die Ausgewanderten. Unter L stand merkwürdigerweise Manchester, unter M Marie.
"Das muss Marie de Verneuil sein, mit der Jacques Austerlitz nach Bad Marienbad fuhr", sagte ich.
"Ja", bestätigte Kaeser.
"Ist die Episode autobiografisch? Hatte Sebald eine Affäre?"
"Ja", sagte Kaeser. "Sie hieß Marie France und war in unserem Freundeskreis, als wir 16 oder 17 waren. Damals ist nichts passiert. Später war sie geschieden, sie hörte, dass Max in der Bibliothèque Nationale in Paris war und suchte ihn."
"Wusste Ute davon?" fragte ich und bezog mich auf Sebalds Witwe.
"Ja", sagte Kaeser. "Als Max starb, rief Ute Marie an und teilte ihr die Nachricht mit."
"Sie waren also Freunde?"
"Nein. Sie waren nicht befreundet."

Rick Jones



Roxane Duran


Austerlitz-Film
Marie de Verneuil
Rick Jones
Verschlungene Minnen






So berichtet unsere Presse ("Leipziger Neueste Nachrichten") über den Einmarsch der Deutschen im Sudentenland:



Karlsbad:



Die Papiermühle in der Charente übrigens verweist auf den 3. Teil von Balzacs Roman "Illusions perdues": "Les Souffrances de l'inventeur". Lucien Chardons Freund bzw. Schwager David Séchard entwickelt ein neues, kostengünstiges Verfahren zur Papierherstellung, das er aber, ausspioniert und in finanzielle Schwierigkeiten gebracht, an die betrügerischen Brüder Cointet übergeben muss, die es in ihrer Papiermühle anwenden.

Im Gegensatz zu Blazacs Roman ist Funktion der Brüder, bedrucktes Altpapier in saubere, unbeschriebene Bögen zu verwandeln. Sie sind damit Vertreter des Vergessens.

Alles, was Marie mir fortan bedeutete, sagte Austerlitz, war in dieser Papiermühlengeschichte, in der sie mir, ohne von sich selber zu reden, ihr Seelenleben offenbarte, bereits beschlossen gewesen.

Die Beziehung Austerlitz’ zu Marie de Verneuil scheitert ebenso wie Goethes Versuch, sich Ulrike von Levetzow zu nähern und das Bemühen Kafkas, seine Verlobung mit Felice Bauer zu retten; selbst in Laubes Reisenovelle bleiben einige freilich weniger seriöse Versuche von Annäherungen erfolglos. Die weitere Entwicklung der Beziehung zwischen den Hauptfiguren des Films "Letztes Jahr in Marienbad" bleibt ungeachtet ihres abschließenden gemeinsamen Weggangs aus dem Hotel offen ...



siehe auchHintergrundMarie