Ricardo Felberbaum
Andere Ärzte spielen zum Ausgleich Golf, ich gründe die Deutsche Sebald-Gesellschaft e.V.
Ein befreundeter jüdischer Architekt aus Amsterdam weist Prof. Dr. Ricardo Felberbaum, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe in Kempten, Gründungsmitglied und Vorsitzender der Deutschen Sebald-Gesellschaft e.V., 16 Jahre bevor er ins Allgäu kommt, auf Sebald hin, doch der Name gerät in Vergessenheit. Erst als er zufällig in einer Buchhandlung Sebalds Roman AUSTERLITZ in englischer Übersetzung findet, beginnt für ihn die Auseinandersetzung mit dem Werk des mit seiner Heimat immer wieder hadernden Autors, Sebald wird für ihn „die größte Entdeckung, ein intellektuelles Abenteuer“.
Dem Arzt gefällt die plastische Darstellung von Schwindelanfällen, in denen er genaue Beschreibungen von Herzattacken sieht. Er geht davon aus, dass Sebald dieses Gefühl sehr genau kannte und es daher sehr wahrscheinlich ist, dass der tödliche Autounfall im Dezember 2001 Folge eines Herzinfarktes war.
Felberbaums Familiengeschichte hört sich an, als wäre sie Stoff eines Sebald-Werks:
Die jüdischen Großeltern emigrieren in den 1920ern aus Galizien nach Uruguay und Argentinien. 1941 lernen sich die katholische Mutter und der jüdische Vater in Buenos Aires kennen und lieben. 1958 gehen die beiden Opernsänger nach Deutschland, Ricardo kommt 1961 auf die Welt. 1979 gibt Felberbaum seine argentinische Staatsbürgerschaft auf, um dem argentinischen Militärdienst zu entgehen.
Der Zustand des Entwurzelten, Heimatlosen ist ihm wie den literarischen Figuren Sebalds vertraut .
„Wenn die Dinge hier einmal nicht mehr so gut laufen, werde ich daran erinnert werden, dass ich nicht dazugehöre“. Im Massaker im Juli 1941 in Zloczow und Umgebung und den anschließenden Deportationen nach Treblinka kommt die gesamte dort verbliebene Verwandtschaft ums Leben.
Wir sind stolz auf unsere Milch und unser Kalbskotelett, aber Sebald kennen nur wenige.
„Ich möchte, dass diese Literatur in die Breite wirkt“, sagt Felberbaum. „Ich möchte, dass sich Kinder in der Schule mit Sebald beschäftigen. Sein Werk ist wie ein geschliffener Diamant und schillert in unzähligen Facetten. Es regt zu immer neuen Gedanken an und greift wichtige Fragen auf - wie etwa jene von Assimilation und Selbstverleugnung: Wie vermag sich eine Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft zu integrieren? Wozu führt es, die eigene Geschichte zu verleugnen?
In der Schule wird sein Werk nicht behandelt. In den „Ringen des Saturn“ etwa ist die systematische Zerstörung der Natur und des Lebensraumes geschildert. Das muss junge Menschen von heute doch interessieren, die sich für Klimaschutz und Energiewende einsetzen. Ein Lehrer muss solche Literatur im Unterricht aufgreifen und deren Inhalte vermitteln."
An einem Wochenende im Juni 2021 fand eine virtuelle Konferenz der Sebald-Gesellschaft mit etwa 50 Teilnehmern statt.
Dabei verdeutlicht Florian Trabert am Beispiel von Judith Schalanskis poetischem „Verzeichnis einiger Verluste“, wie Sebalds Werk Autoren der Gegenwart beeinflusst.
Scott Bartsch, ein Privatgelehrter aus Verona, zeichnet aufgrund akribischer Recherchen die Entstehung der Erzählung „Henry Selwyn“ aus dem Band „Die Ausgewanderten“
nach.
Die Vorträge der Tagung werden zum 20. Todestag des Schriftstellers erscheinen und im Frühjahr 2022 wird der erstmals vergebene und mit 10.000 € dotierte Sebald-Literaturpreis überreicht, den Esther Kinsky für ihren Text „Kalkstein“ erhielt, Auszug aus einem größeren Erzählprojekt. Die Jury erreichen 900 Einsendungen zum Wettbewerb, dessen Motto „Gedächtnis und Erinnerung“ ist.
Deutsche Sebald-Gesellschaft e.V.
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