Vorbereitung einer Wallfahrt



Englische Hundstage





Vorbereitung einer Wallfahrt
Bummeltour durch Nor- und Suffolk

Die Seitenangaben beziehen sich - falls nichts anderes vermerkt - auf Die Ringe des Saturn

Wer die graue Nordsee überquert hat, dem öffnet sich, wenn er am Morgen in Harwich wieder Land gewinnt, die weite ostenglische Provinz, von der aus man einst leichter nach Amsterdam als nach London gelangte und die auch, nachdem sie von der Bahn erschlossen war, in ihrem exzentrischen Dasein verharrte.

Suffolk: 11f, 214, 217f, 229, 239

Folgen Sie zunächst einem verwinkelten Sträßchen nach Manningtree, East Bergholt und Ipswich, das Sie am besten, ohne sich umzusehen Richtung Woodbridge durchqueren. Mit etwas Glück kommen Sie hier noch zum Frühstück zurecht, etwa im Crown Hotel oder im Bull, in dem Lord Tennyson und Edward Fitzgerald mit Vorliebe einkehrten, letzterer der famose Übersetzer Omar Kayyams, welcher stets mit festgebundenem Zylinder segeln ging. In einem der beiden Häuser findet sich gewiß ein Platz für die Nacht, sofern Sie nicht vorziehen, etwas außerhalb in Seckford Hall zu logieren, um dem angeblich noch umgehenden Thomas Seckford Ihre Aufwartung zu machen.

FitzGerald: 242ff; Bull: 246

Es ist nun an der Zeit, die erste Exkursion zu unternehmen, etwa in die Sandlings, eine von Fasanen bevölkerte Gegend, die zum Meer hin liegt. In Sutton Hoo, wo vor dreizehnhundert Jahren ein grandioses Schiffsbegräbnis zelebriert wurde, können Sie die Leere der Vergänglichkeit studieren, eh' Sie durch den Wald von Rendlesham zum Dörfchen Butley fahren. Hier soll es eine noch nicht verhunzte Wirtschaft geben; leisten Sie sich also ein Glas, denn am Nachmittag ist ja wieder alles dicht.

Sutton Hoo: Nach der Natur 93

Von Butley sind es kaum vier Kilometer nach Orford. Besteigen Sie zunächst den Turm der Kirche, um einen Begriff zu bekommen von der sehr eigenartigen Umgebung. Parallel zur Küste fließt da der Fluß Ore, vom Meer nur durch eine ganz schmale, aber 15 km lange Kiesbank getrennt, auf die man mit einem kleinen Fährschiffchen übersetzen kann. Orford selbst hat ein Castle aus dem 12. Jahrhundert und ein Restaurant für geräucherte Viktualien, inklusive Aal, in dem Sie einiges einkaufen sollten, denn gleich nordwärts liegt Iken, ein Platz, der eine einmalige Aussicht über das weite Bett der Alde gewährt und sich geradezu offeriert für ein piquenique en Campagne. Es ist von hier nicht weit nach Aldeburgh, wo allsommerlich von Benjamin Britten protegierte Festwochen stattfinden.

Orford: 264ff

In einer halben Stunde können Sie schon wieder in Woodbridge retour sein, eben günstig zum Abendessen, wonach Sie, die späte Dämmerung ausnützend, noch eine kleine Tour ans Meer hinab machen sollten, nach Shingle Street, einer winzigen Häuserzeile an desolater Küste, wo Sie auf den Geschmack der ostenglischen Melancholie und das Bedürfnis nach einer hochprozentigen nightcap kommen können.

Shingle Street: 269, 275 ff; Nach der Natur 94

Der nächste Morgen sieht Sie auf dem Weg nach Framlingham zu einem enormen, dreizehntürmigen Castle, das heimkeh-rende Kreuzfahrer nach sarazenischem Muster errichtet haben. Vom Wehrgang der eindrucksvollen Anlage sehen Sie über die hübsche Stadt bis weit ins Land hinaus. Dennington, einen Sprung nördlich, weist eine Kirche auf, die in ihrer großen Einfachheit ein hervorragendes Exempel ist in dem an Kirchen mehr als nur reichhaltigen East Anglia. Wenn Sie abends in Southwold sein möchten, das ich Ihnen zum zweiten Aufenthalt empfehle, stehen Ihnen jetzt zwei Wege offen. Entweder fahren Sie über Heveningham, wo sich ein der Inspektion wohl wertes Landschloß aus dem 18. Jahrhundert findet, oder zunächst nordwestwärts über den ausgesprochen schönen Ort Eye und von dort über Fressingfield, das sinnigerweise ein renommiertes Restaurant beherbergt, wieder östlich zur Küste hinunter.

In jedem Fall sind Sie abends bequem in Southwold, wo Sie getrost ein paar Tage bleiben können, wenn Sie sich den Luxus im besten Hotel am Ort gönnen wollen. Sie identifizieren es am leichtesten an der Theke, an der fünfzigerlei Whisky zu haben sind und an einem Kellner, der mit einem kleinen Xylophon im Haus herumgehend zu den Mahlzeiten bittet. Außerdem gibt es in Southwold Adnams, das beste englische Bier, und nicht zuletzt den schönen, von kleinen Parks durchsetzten Ort selbst, die See, Gerüchte längst vergangener Schlachten und mitten unter den Häusern einen großen weißen Leuchtturm.

Southwold: 88ff; 229

Von Southwold sind es allenfalls zwei Stunden nach Norwich, dem Zentrum East Anglias. Im Mittelalter eine der bedeutendsten englischen Städte, hat Norwich später etwas den Anschluß verpaßt, und die Wucherungen der letzten 150 Jahre haben ihr also relativ wenig zugesetzt. Es gibt hier fünfzig mittelalterliche Kirchen und eine Kathedrale, die, 1096 begonnen, zu den großen Beispielen sakraler Architektur überhaupt zählt. Was an Norwich vorab beeindruckt, ist die Präsenz und Zugänglichkeit seiner Vergangenheit. Die Geschäftshäuser um den täglichen Markt im Zentrum bieten ein vollkommenes Panorama. Verabsäumen Sie nicht, das Viertel hinter der Kathedrale zu durchwandern. Es führt da eine Straße zum Fluß hinab, bis zu einem Fährtor, durch das die Bischöfe einst geräuschlos ihre Residenz verließen. Sie werden dort unten mit einiger Verwunderung entdecken, daß Norwich nicht zuletzt auch eine Hafenstadt ist.

Norwich: 11

Die 30 km Land, die es vom Meer trennen, sind durchzogen von einem Netz von Wasserstraßen und lagunenartigen Seen, und nur zu Schiff kann man diesen vielleicht faszinierendsten Teil Norfolks wirklich kennenlernen. Im Sommer allerdings tummelt sich halb England auf diesem Freizeitparadies, und ich rate Ihnen für diesmal zu einem Ausflug mit dem Auto. Folgen Sie dem Yare-Fluß über Surlingham, Rockland St Mary und Loddon nach Fritton zu einem waldumwachsenen See. Von hier nordwestlich nach Reedham, wo Sie auf einer Fähre übersetzen können. Dann nach Acle und zum Castle bei Caister-on-Sea, hinauf nach Winterton und zurück Richtung Norwich über Ludham und Ranworth. Ranworth hat eine sehr schöne kleine Kirche, von deren Turm man einen memorablen Ausblick über die Landschaft der Broads, Seen, Flußarme und Marschwiesen, hat.

Norfolk: 218




Quelle: W. G. Sebald in "Die Zeit" 26. Juli 1974 Die hölzernen Engel von East Anglia