1934 schreibt Brecht den Text und Hans Eisler die Musik für eines der bekanntesten Lieder der deutschen Arbeiterbewegung.
Seit Trennung der deutschen Arbeiterparteien 1917 (siehe ) bestand ein tiefer Gegensatz zwischen der SPD, die in der Weimarer Republik eine staatstragende Position vertrat, und der KPD, die diese Regierungsform fundamental ablehnt. Die Komintern diffamiert die SPD als „sozialfaschistisch“. Nach der Machtergreifung durch Hitler und dem Verbot von SPD und KPD werden Stimmen lauter – darunter auch Brechts –, dass nur eine Einheitsfront aus Kommunisten und Sozialdemokraten eine Chance habe, gegen die Nazis noch etwas auszurichten.
Bei der erste Internationalen Musikolympiade 1935 in Straßburg tragen 3.000 Arbeitersänger das Lied erstmals vor.
Ton Steine Scherben
Ernst Busch auf Spanisch
Woche 28
Resolution der Kommunarden
Musik: Hanns Eisler
Die Band "Dritte Wahl" sang die Resolution zu DDR-Zeiten
Auch diese Resolutiion ist in den Svendborger Gedichten enthalten. Das 1934 geschriebene Gedicht bezieht sich auf die Pariser Kommune und ging in den Liedschatz der Arbeiterbewegung ein. Gedruckt erscheint es erstmals 1937 in Madrid.
Sein erstes Exilstück, das Ballett Die sieben Todsünden erarbeitete Brecht zusammen mit Kurt Weill, auraufgeführt im Juli 1933 im Théâtre des Champs-Elysées in Paaris. Kurz darauf erwirbt Brecht ein Haus in Svendborg (Dänemark) und verbringt dort mit seiner Familie die nächsten fünf Jahre.
Woche 29
Brechts Haus in Svendborg auf Fünen
Brecht scheint mit dem Verlauf der Schachpartie zufrieden zu sein. In entspannter Haltung am Tisch sitzend, in der linken Hand eine Zigarre, wartet er geduldig darauf, welche Figur Walter Benjamin, der sich in grübelnder Haltung über das Brett beugt, nun zieht. Eine Szene aus dem Sommer 1934. Der Philosoph Benjamin, mit Brecht eng befreundet, ist im Haus auf Fünen mehrmals für längere Zeit Gast. Täglich spielen sie Schach.
„Ermattungstaktik war’s, was dir behagte“, schreibt Brecht später in Erinnerung daran in dem Gedicht, das er dem Freund widmet, der auf dem Weg in die Emigration 1940 Selbstmord begeht.
An Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte
Ermattungstaktik war’s, was dir behagte
Am Schachtisch sitzend in des Birnbaum Schatten
Der Feind, der dich von deinen Büchern jagte
Lässt sich von unsereinem nicht ermatten.
Ich höre, dass du die Hand gegen dich erhoben hast
Dem Schlächter zuvorkommend.
Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend
Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben
Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten
Reiche stürzen. Die Bandenführer
Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker
Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen.
So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte
Sind schwach. All das sahst du
Als du den quälbaren Leib zerstörtest.
Woche 30
Auf Vorschlag Oskar Lafontaines stellt die Partei DIE LINKE das Gedicht Brechts aus dem Jahr 1935 ihrem Grundsatzprogramm voran.
Fragen: Will Brecht nicht auch nahelegen, dass man den Arbeitern neben den Großtaten auch die Gräueltaten in der Geschichte zurechnen müsse?
Zitat (B. Traven Das Totenschiff): Was würde Cäsar mit seinen Armeen machen, wenn er keine Unteroffiziere hätte?
Woche 31
Das Gedicht findet sich in dem Brief, den Brecht 1937 an Ruth Berlau schreibt, die sich in Spanien zur Unterstützung der republikanischen Truppen aufhält. Der, den ich liebe, muss mich nicht zwingend ebenfalls lieben, sagt die Ich-Erzählerin. Im Gegenteil, er sagt nur, „dass er mich braucht“ (als Mensch? Arbeitskraft?), nicht aber, dass er mich liebt. Braucht der Autor Ruth?
Berlau ist Brecht in jeder Hinsicht verfallen.
Er lernt die 1906 geborene Dichterin, Journalistin und Schauspielerin 1933 im Exil kennen. Sie wird seine Geliebte, folgt ihm später in die USA, nach Rückkehr nach Berlin. Das Kind, das sie 1944 von ihm bekommt, stirbt nach neun Tagen.
Mitte der 40er Jahre verschlimmern sich ihre psychischen Probleme und ihr Alkoholismus, sporadische Aufenthalte in Psychiatrien sind notwendig. In Berlin kommt es zu skandalösen, teilweise gewalttätigen Auftritten, Brecht lässt sie etwa wegschaffen, nachdem sie beim Berliner Ensemble eine Scheibe eingeworfen und randaliert hat. Er bringt sie 1955 in eine Heilanstalt und kauft ein Haus in Dänemark: "Du kannst Dich dadurch leichter dem Trinken zuwenden und ich kann Dich leichter, wenn Du es tust, ,abschieben'."
Kurz nch Brechts Tod 1956 kehrt Berlau nach Berlin zurück, schlimme Vorfälle häufen sich. Einmal wird sie in einer Zwangsjacke in die Klinik gebracht und arbeitet zeitweise als Stasi-Spitzel, belastet Hans Bunge, Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs, beim "MfS" mehrfach.
Der 2009 aufgetauchte Briefwechsel offenbart eine schwierige Beziehung.
Berlau erhebt Vorwürfe und beschuldigt Brecht, sie wegen jüngerer Geliebter im Stich gelassen zu haben, wie ein Huhn habe Brecht sie von der Stange gescheucht.
Käthe Reichel, eine weitere Geliebte dieser Zeit, habe einen Selbstmordversuch unternommen - sie selbst habe versucht, die Ungerechtigkeit, die Brecht ihr angetan habe, im Alkohol zu ertränken.
Der schönen, jungen Käthe habe Brecht wieder auf die Beine geholfen, die ältere Ruth Berlau jedoch einfach fallen lassen. Dabei habe ihn ihre psychische Absonderlichkeit früher niemals gestört. Doch verrückt zu sein und gleichzeitig auch noch Falten zu haben - das gehe bei Brecht nun einmal nicht.
Wiederholt beschwert sich Berlau, Brecht habe sie finanziell ausgenutzt, für ihre langjährige Arbeit nicht genug gezahlt: Stets habe sie in entwürdigender Weise um Geld betteln müssen, anstatt angemessen honoriert zu werden.
Brecht antwortet zurückhaltend
50 000 Mark zahlt er 1956 für das Haus in Dänemark. Berlau hat ihn daraufhin in ihrem Testament als Universalerben in Deutschland wie Dänemark eingesetzt.
Ruth Berlau, die eine Leibrente von Weigel erhielt, stirbt 1974 an den Folgen eines selbst entfachten Zimmerbrands in der Berliner Charité.
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern.
Woche 32
Woche 33
Die unwürdige Greisin
Meine Großmutter war zweiundsiebzig Jahre alt, als mein Großvater starb. Er hatte
eine kleine Lithographenanstalt in einem badischen Städtchen und arbeitete darin
mit zwei, drei Gehilfen bis zu seinem Tod. Meine Großmutter besorgte ohne Magd
den Haushalt, betreute das alte, wacklige Haus und kochte für die Mannsleute und
Kinder.
Sie war eine kleine, magere Frau mit lebhaften Eidechsenaugen, aber langsamer
Sprechweise. Mit recht kärglichen Mitteln hatte sie fünf Kinder großgezogen von den
sieben, die sie geboren hatte. Davon war sie mit den Jahren kleiner geworden.
Von den Kindern gingen die zwei Mädchen nach Amerika und zwei Söhne zogen
ebenfalls weg. Nur der Jüngste, der eine schwache Gesundheit hatte, blieb im
Städtchen. Er wurde Buchdrucker und legte sich eine viel zu große Familie zu. So
war sie allein im Haus, als mein Großvater gestorben war.
Die Kinder schrieben sich Briefe über das Problem, was mit ihr zu geschehen hätte.
Einer konnte ihr bei sich ein Heim anbieten, und der Buchdrucker wollte mit den
Seinen zu ihr ins Raus ziehen. Aber die Greisin verhielt sich abweisend zu den
Vorschlägen und wollte nur von jedem ihrer Kinder, das dazu imstande war; eine
kleine geldliche Unterstützung annehmen. Die Lithographenanstalt, längst veraltet,
brachte fast nichts beim Verkauf, und es waren auch Schulden da. Die Kinder
schrieben ihr; sie könne doch nicht ganz allein leben, aber als sie darauf überhaupt
nicht einging, gaben sie nach und schickten ihr monatlich ein bißchen Geld.
Schließlich, dachten sie, war ja der Buchdrucker im Städtchen geblieben.
Der Buchdrucker übernahm es auch, seinen Geschwistern mitunter über die Mutter
zu berichten. Seine Briefe an meinen Vater und was dieser bei einem Besuch und
nach dem Begräbnis meiner Großmutter zwei Jahre später erfuhr, geben mir ein Bild
von dem, was in diesen zwei Jahren geschah.
Es scheint, daß der Buchdrucker von Anfang an enttäuscht war, daß meine
Großmutter sich weigerte, ihn in das ziemlich große und nun leerstehende Haus
aufzunehmen. Er wohnte mit vier Kindern in drei Zimmern. Aber die Greisin hielt
überhaupt nur eine sehr lose Verbindung mit ihm aufrecht. Sie lud die Kinder jeden
Sonntagnachmittag zum Kaffee, das war eigentlich alles. Sie besuchte ihren Sohn ein
oder zweimal in einem Vierteljahr und half der Schwiegertochter beim
Beereneinkochen. Die junge Frau entnahm einigen ihrer Äußerungen, daß es ihr in
der kleinen Wohnung des Buchdruckers zu eng war. Dieser konnte sich nicht
enthalten, in seinem Bericht darüber ein Ausrufezeichen anzubringen.
Auf eine schriftliche Anfrage meines Vaters, was die alte Frau denn jetzt so mache,
antwortete er ziemlich kurz, sie besuche das Kino. Man muß verstehen, daß das
nichts Gewöhnliches war, jedenfalls nicht in den Augen ihrer Kinder. Das Kino war
vor dreißig Jahren noch nicht, was es heute ist. Es handelte sich um elende, schlecht
gelüftete Lokale, oft in alten Kegelbahnen eingerichtet, mit schreienden Plakaten vor
dem Eingang, auf denen Morde und Tragödien der Leidenschaft angezeigt waren.
Eigentlich gingen nur Halbwüchsige hin oder, des Dunkels wegen, Liebespaare. Eine
einzelne alte Frau mußte dort sicher auffallen.
Und so war noch eine andere Seite dieses Kinobesuchs zu bedenken. Der Eintritt war
gewiß billig, da aber das Vergnügen ungefähr unter den Schleckereien rangierte,
bedeutete es »hinausgeworfenes Geld«. Und Geld hinauswerfen war nicht
respektabel.
Dazu kam, daß meine Großmutter nicht nur mit ihrem Sohn am Ort keinen
regelmäßigen Verkehr pflegte, sondern auch sonst niemanden von ihren Bekannten
besuchte oder einlud. Sie ging niemals zu den Kaffeegesellschaften des Städtchens.
Dafür besuchte sie häufig die Werkstatt eines Flickschusters in einem armen und
sogar etwas verrufenen Gäßchen, in der, besonders nachmittags, allerlei nicht
besonders respektable Existenzen herumsaßen, stellungslose Kellnerinnen und
Handwerksburschen. Der Flickschuster war ein Mann in mittleren Jahren, der in der
ganzen Welt herumgekommen war, ohne es zu etwas gebracht zu haben. Es hieß
auch, daß er trank. Er war jedenfalls kein Verkehr für meine Großmutter. Der
Buchdrucker deutete in einem Brief an, daß er seine Mutter darauf hingewiesen, aber
einen recht kühlen Bescheid bekommen habe. »Er hat etwas gesehen«, war ihre
Antwort, und das Gespräch war damit zu Ende. Es war nicht leicht, mit meiner
Großmutter über Dinge zu reden, die sie nicht bereden wollte.
Etwa ein halbes Jahr nach dem Tod des Großvaters schrieb der Buchdrucker meinem
Vater, daß die Mutter jetzt jeden zweiten Tag im Gasthof esse.
Was für eine Nachricht!
Großmutter, die zeit ihres Lebens für ein Dutzend Menschen gekocht und immer nur
die Reste aufgegessen hatte, aß jetzt im Gasthof! Was war in sie gefahren?
Bald darauf führte meinen Vater eine Geschäftsreise in die Nähe, und er besuchte
seine Mutter.
Er traf sie im Begriffe, auszugehen. Sie nahm den Hut wieder ab und setzte ihm ein
Glas Rotwein mit Zwieback vor. Sie schien ganz ausgeglichener Stimmung zu sein,
weder besonders aufgekratzt noch besonders schweigsam. Sie erkundigte sich nach
uns, allerdings nicht sehr eingehend, und wollte hauptsächlich wissen, ob es für die
Kinder auch Kirschen gäbe. Da war sie ganz wie immer. Die Stube war natürlich
peinlich sauber, und sie sah gesund aus.
Das einzige, was auf ihr neues Leben hindeutete, war, daß sie nicht mit meinem
Vater auf den Gottesacker gehen wollte, das Grab ihres Mannes zu besuchen. »Du
kannst allein hingehen«, sagte sie beiläufig, »es ist das dritte von links in der elften
Reihe. Ich muß noch wohin.«
Der Buchdrucker erklärte nachher, daß sie wahrscheinlich zu ihrem Flickschuster
mußte. Er klagte sehr. »Ich sitze hier in diesen Löchern mit den Meinen und habe
nur noch fünf Stunden Arbeit und schlecht bezahlte, dazu macht mir mein Asthma
wieder zu schaffen, und das Haus in der Hauptstraße steht leer.«
Mein Vater hatte im Gasthof ein Zimmer genommen, aber erwartet, daß er zum
Wohnen doch von seiner Mutter eingeladen werden würde, wenigstens pro forma,
aber sie sprach nicht davon. Und sogar als das Haus voll gewesen war, hatte sie
immer etwas dagegen gehabt, daß er nicht bei ihnen wohnte und dazu das Geld für
das Hotel ausgab!
Aber sie schien mit ihrem Familienleben abgeschlossen zu haben und neue Wege zu
gehen, jetzt, wo ihr Leben sich neigte. Mein Vater, der eine gute Portion Humor
besaß, fand sie »ganz munter« und sagte meinem Onkel, er solle die alte Frau
machen lassen, was sie wolle. Aber was wollte sie?
Das nächste, was berichtet wurde, war, daß sie eine Bregg bestellt hatte und nach
einem Ausflugsort gefahren war, an einem gewöhnlichen Donnerstag. Eine Bregg war
ein großes, hochrädriges Pferdegefährt mit Plätzen für ganze Familien. Einige wenige
Male, wenn wir Enkelkinder zu Besuch gekommen waren, hatte Großvater die Bregg
gemietet. Großmutter war immer zu Hause geblieben. Sie hatte es mit einer
wegwerfenden Handbewegung abgelehnt, mitzukommen.
Und nach der Bregg kam die Reise nach K., einer größeren Stadt, etwa zwei
Eisenbahnstunden entfernt. Dort war ein Pferderennen, und zu dem Pferderennen
fuhr meine Großmutter. Der Buchdrucker war jetzt durch und durch alarmiert. Er
wollte einen Arzt hinzugezogen haben. Mein Vater schüttelte den Kopf, als er den
Brief las, lehnte aber die Hinzuziehung eines Artzes ab.
Nach K. war meine Großmutter nicht allein gefahren. Sie hatte ein junges Mädchen
mitgenommen, eine halb Schwachsinnige, wie der Buchdrucker schrieb, das
Küchenmädchen des Gasthofs, in dem die Greisin jeden zweiten Tag speiste.
Dieser »Krüppel« spielte von jetzt an eine Rolle.
Meine Großmutter schien einen Narren an ihr gefressen zu haben. Sie nahm sie mit
ins Kino und zum Flickschuster, der sich übrigens als Sozialdemokrat herausgestellt
hatte, und es ging das Gerücht, daß die beiden Frauen bei einem Glas Rotwein in der
Küche Karten spielten. »Sie hat dem Krüppel jetzt einen Hut gekauft mit Rosen
drauf«, schrieb der Buchdrucker verzweifelt. »Und unsere Anna hat kein
Kommunionskleid!«
Die Briefe meines Onkels wurden ganz hysterisch, handelten nur von der
»unwürdigen Aufführung unserer lieben Mutter« und gaben sonst nichts mehr her.
Das Weitere habe ich von meinem Vater.
Meine Großmutter war zweiundsiebzig Jahre alt, als mein Großvater starb. Er hatte
eine kleine Lithographenanstalt in einem badischen Städtchen und arbeitete darin
mit zwei, drei Gehilfen bis zu seinem Tod. Meine Großmutter besorgte ohne Magd
den Haushalt, betreute das alte, wacklige Haus und kochte für die Mannsleute und
Kinder.
Sie war eine kleine, magere Frau mit lebhaften Eidechsenaugen, aber langsamer
Sprechweise. Mit recht kärglichen Mitteln hatte sie fünf Kinder großgezogen von den
sieben, die sie geboren hatte. Davon war sie mit den Jahren kleiner geworden.
Von den Kindern gingen die zwei Mädchen nach Amerika und zwei Söhne zogen
ebenfalls weg. Nur der Jüngste, der eine schwache Gesundheit hatte, blieb im
Städtchen. Er wurde Buchdrucker und legte sich eine viel zu große Familie zu. So
war sie allein im Haus, als mein Großvater gestorben war.
Die Kinder schrieben sich Briefe über das Problem, was mit ihr zu geschehen hätte.
Einer konnte ihr bei sich ein Heim anbieten, und der Buchdrucker wollte mit den
Seinen zu ihr ins Raus ziehen. Aber die Greisin verhielt sich abweisend zu den
Vorschlägen und wollte nur von jedem ihrer Kinder, das dazu imstande war; eine
kleine geldliche Unterstützung annehmen. Die Lithographenanstalt, längst veraltet,
brachte fast nichts beim Verkauf, und es waren auch Schulden da. Die Kinder
schrieben ihr; sie könne doch nicht ganz allein leben, aber als sie darauf überhaupt
nicht einging, gaben sie nach und schickten ihr monatlich ein bißchen Geld.
Schließlich, dachten sie, war ja der Buchdrucker im Städtchen geblieben.
Der Buchdrucker übernahm es auch, seinen Geschwistern mitunter über die Mutter
zu berichten. Seine Briefe an meinen Vater und was dieser bei einem Besuch und
nach dem Begräbnis meiner Großmutter zwei Jahre später erfuhr, geben mir ein Bild
von dem, was in diesen zwei Jahren geschah.
Es scheint, daß der Buchdrucker von Anfang an enttäuscht war, daß meine
Großmutter sich weigerte, ihn in das ziemlich große und nun leerstehende Haus
aufzunehmen. Er wohnte mit vier Kindern in drei Zimmern. Aber die Greisin hielt
überhaupt nur eine sehr lose Verbindung mit ihm aufrecht. Sie lud die Kinder jeden
Sonntagnachmittag zum Kaffee, das war eigentlich alles. Sie besuchte ihren Sohn ein
oder zweimal in einem Vierteljahr und half der Schwiegertochter beim
Beereneinkochen. Die junge Frau entnahm einigen ihrer Äußerungen, daß es ihr in
der kleinen Wohnung des Buchdruckers zu eng war. Dieser konnte sich nicht
enthalten, in seinem Bericht darüber ein Ausrufezeichen anzubringen.
Auf eine schriftliche Anfrage meines Vaters, was die alte Frau denn jetzt so mache,
antwortete er ziemlich kurz, sie besuche das Kino. Man muß verstehen, daß das
nichts Gewöhnliches war, jedenfalls nicht in den Augen ihrer Kinder. Das Kino war
vor dreißig Jahren noch nicht, was es heute ist. Es handelte sich um elende, schlecht
gelüftete Lokale, oft in alten Kegelbahnen eingerichtet, mit schreienden Plakaten vor
dem Eingang, auf denen Morde und Tragödien der Leidenschaft angezeigt waren.
Eigentlich gingen nur Halbwüchsige hin oder, des Dunkels wegen, Liebespaare. Eine
einzelne alte Frau mußte dort sicher auffallen.
Und so war noch eine andere Seite dieses Kinobesuchs zu bedenken. Der Eintritt war
gewiß billig, da aber das Vergnügen ungefähr unter den Schleckereien rangierte,
bedeutete es »hinausgeworfenes Geld«. Und Geld hinauswerfen war nicht
respektabel.
Dazu kam, daß meine Großmutter nicht nur mit ihrem Sohn am Ort keinen
regelmäßigen Verkehr pflegte, sondern auch sonst niemanden von ihren Bekannten
besuchte oder einlud. Sie ging niemals zu den Kaffeegesellschaften des Städtchens.
Dafür besuchte sie häufig die Werkstatt eines Flickschusters in einem armen und
sogar etwas verrufenen Gäßchen, in der, besonders nachmittags, allerlei nicht
besonders respektable Existenzen herumsaßen, stellungslose Kellnerinnen und
Handwerksburschen. Der Flickschuster war ein Mann in mittleren Jahren, der in der
ganzen Welt herumgekommen war, ohne es zu etwas gebracht zu haben. Es hieß
auch, daß er trank. Er war jedenfalls kein Verkehr für meine Großmutter. Der
Buchdrucker deutete in einem Brief an, daß er seine Mutter darauf hingewiesen, aber
einen recht kühlen Bescheid bekommen habe. »Er hat etwas gesehen«, war ihre
Antwort, und das Gespräch war damit zu Ende. Es war nicht leicht, mit meiner
Großmutter über Dinge zu reden, die sie nicht bereden wollte.
Etwa ein halbes Jahr nach dem Tod des Großvaters schrieb der Buchdrucker meinem
Vater, daß die Mutter jetzt jeden zweiten Tag im Gasthof esse.
Was für eine Nachricht!
Großmutter, die zeit ihres Lebens für ein Dutzend Menschen gekocht und immer nur
die Reste aufgegessen hatte, aß jetzt im Gasthof! Was war in sie gefahren?
Bald darauf führte meinen Vater eine Geschäftsreise in die Nähe, und er besuchte
seine Mutter.
Er traf sie im Begriffe, auszugehen. Sie nahm den Hut wieder ab und setzte ihm ein
Glas Rotwein mit Zwieback vor. Sie schien ganz ausgeglichener Stimmung zu sein,
weder besonders aufgekratzt noch besonders schweigsam. Sie erkundigte sich nach
uns, allerdings nicht sehr eingehend, und wollte hauptsächlich wissen, ob es für die
Kinder auch Kirschen gäbe. Da war sie ganz wie immer. Die Stube war natürlich
peinlich sauber, und sie sah gesund aus.
Das einzige, was auf ihr neues Leben hindeutete, war, daß sie nicht mit meinem
Vater auf den Gottesacker gehen wollte, das Grab ihres Mannes zu besuchen. »Du
kannst allein hingehen«, sagte sie beiläufig, »es ist das dritte von links in der elften
Reihe. Ich muß noch wohin.«
Der Buchdrucker erklärte nachher, daß sie wahrscheinlich zu ihrem Flickschuster
mußte. Er klagte sehr. »Ich sitze hier in diesen Löchern mit den Meinen und habe
nur noch fünf Stunden Arbeit und schlecht bezahlte, dazu macht mir mein Asthma
wieder zu schaffen, und das Haus in der Hauptstraße steht leer.«
Mein Vater hatte im Gasthof ein Zimmer genommen, aber erwartet, daß er zum
Wohnen doch von seiner Mutter eingeladen werden würde, wenigstens pro forma,
aber sie sprach nicht davon. Und sogar als das Haus voll gewesen war, hatte sie
immer etwas dagegen gehabt, daß er nicht bei ihnen wohnte und dazu das Geld für
das Hotel ausgab!
Aber sie schien mit ihrem Familienleben abgeschlossen zu haben und neue Wege zu
gehen, jetzt, wo ihr Leben sich neigte. Mein Vater, der eine gute Portion Humor
besaß, fand sie »ganz munter« und sagte meinem Onkel, er solle die alte Frau
machen lassen, was sie wolle. Aber was wollte sie?
Das nächste, was berichtet wurde, war, daß sie eine Bregg bestellt hatte und nach
einem Ausflugsort gefahren war, an einem gewöhnlichen Donnerstag. Eine Bregg war
ein großes, hochrädriges Pferdegefährt mit Plätzen für ganze Familien. Einige wenige
Male, wenn wir Enkelkinder zu Besuch gekommen waren, hatte Großvater die Bregg
gemietet. Großmutter war immer zu Hause geblieben. Sie hatte es mit einer
wegwerfenden Handbewegung abgelehnt, mitzukommen.
Und nach der Bregg kam die Reise nach K., einer größeren Stadt, etwa zwei
Eisenbahnstunden entfernt. Dort war ein Pferderennen, und zu dem Pferderennen
fuhr meine Großmutter. Der Buchdrucker war jetzt durch und durch alarmiert. Er
wollte einen Arzt hinzugezogen haben. Mein Vater schüttelte den Kopf, als er den
Brief las, lehnte aber die Hinzuziehung eines Artzes ab.
Nach K. war meine Großmutter nicht allein gefahren. Sie hatte ein junges Mädchen
mitgenommen, eine halb Schwachsinnige, wie der Buchdrucker schrieb, das
Küchenmädchen des Gasthofs, in dem die Greisin jeden zweiten Tag speiste.
Dieser »Krüppel« spielte von jetzt an eine Rolle.
Meine Großmutter schien einen Narren an ihr gefressen zu haben. Sie nahm sie mit
ins Kino und zum Flickschuster, der sich übrigens als Sozialdemokrat herausgestellt
hatte, und es ging das Gerücht, daß die beiden Frauen bei einem Glas Rotwein in der
Küche Karten spielten. »Sie hat dem Krüppel jetzt einen Hut gekauft mit Rosen
drauf«, schrieb der Buchdrucker verzweifelt. »Und unsere Anna hat kein
Kommunionskleid!«
Die Briefe meines Onkels wurden ganz hysterisch, handelten nur von der
»unwürdigen Aufführung unserer lieben Mutter« und gaben sonst nichts mehr her.
Das Weitere habe ich von meinem Vater.
Der Gastwirt hatte ihm mit Augenzwinkern zugeraunt: »Frau B. amüsiert sich ja
jetzt, wie man hört.«
In Wirklichkeit lebte meine Großmutter auch diese letzten Jahre keinesfalls üppig.
Wenn sie nicht im Gasthof aß, nahm sie meist nur ein wenig Eierspeise zu sich,
etwas Kaffee und vor allem ihren geliebten Zwieback. Dafür leistete sie sich einen
billigen Rotwein, von dem sie zu allen Mahlzeiten ein kleines Glas trank. Das Haus
hielt sie sehr rein, und nicht nur die Schlafstube und die Küche, die sie benutzte.
Jedoch nahm sie darauf ohne Wissen ihrer Kinder eine Hypothek auf. Es kam niemals
heraus, was sie mit dem Geld machte. Sie scheint es dem Flickschuster gegeben zu
haben. Er zog nach ihrem Tod in eine andere Stadt und soll dort ein größeres
Geschäft für Maßschuhe eröffnet haben. Genau betrachtet, lebte sie hintereinander
zwei Leben. Das eine, erste, als Tochter, als Frau und als Mutter und das zweite
einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit
bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln. Das erste Leben dauerte etwa sechs
Jahrzehnte, das zweite nicht mehr als zwei Jahre.
Mein Vater brachte in Erfahrung, daß sie im letzten halben Jahr sich gewisse
Freiheiten gestattete, die normale Leute gar nicht kennen. So konnte sie im Sommer
früh um drei Uhr aufstehen und durch die leeren Straßen des Städtchens spazieren,
das sie so für sich ganz allein hatte. Und den Pfarrei; der sie besuchen kam, um der
alten Frau in ihrer Vereinsamung Gesellschaft zu leisten, lud sie, wie allgemein
behauptet wurde, ins Kino ein!
Sie war keineswegs vereinsamt. Bei dem Flickschuster verkehrten anscheinend
lauter lustige Leute, und es wurde viel erzählt. Sie hatte dort immer eine Flasche
ihres eigenen Rotweins stehen, und daraus trank sie ihr Gläschen, während die
anderen erzählten und über die würdigen Autoritäten der Stadt loszogen. Dieser
Rotwein blieb für sie reserviert, jedoch brachte sie mitunter der Gesellschaft stärkere
Getränke mit. Sie starb ganz unvermittelt, an einem Herbstnachmittag in ihrem
Schlafzimmer, aber nicht im Bett, sondern auf dem Holzstuhl am Fenster. Sie hatte
den »Krüppel« für den Abend ins Kino eingeladen, und so war das Mädchen bei ihr,
als sie starb. Sie war vierundsiebzig Jahre alt.
Ich habe eine Photographie von ihr gesehen, die sie auf dem Totenbett zeigt und die
für die Kinder angefertigt worden war.
Man sieht ein winziges Gesichtchen mit vielen Falten und einen schmallippigen, aber
breiten Mund. Viel Kleines, aber nichts Kleinliches. Sie hatte die langen Jahre der
Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens
aufgezehrt bis auf den letzten Brotsamen.
Eine der bekannteren Kalendergeschichten - verfasst 1939 - ist sie seit den 1970er-Jahren, als die Frauenbewegung einen neuen Aufschwung erlebt, bliebte Frauen- und heute häufige Schullektüre. Verfilmt hat sie René Allio 1965 in Frankreich
Woche 34
1938 bis 1939 arbeitet Brecht an dem Buch, das unvollendet bleibt. Beispiel einerseits für die Gattung des historischen Romans der Zwischen-kriegszeit, andererseits für die Übertragung des Verfrem-dungseffekts vom epischen Theater auf den Roman.
Die Haupthandlung - ein-gebettet in eine Rahmen-erzählung (Vorhaben eines jungen Anwalts, eine Biografie über den zwanzig Jahre zuvor ermordeten Caesar zu verfassen) - erzählt Caesars Beteiligung an der Catilinarischen Verschwörung (63 v. Chr.) bis zu seiner Statthalterschaft in Spanien und seiner daran anschließenden Bewerbung um das Konsulat (60 v. Chr.).
Woche 35
Steffinsche Sammlung
Margarete Steffin, Mitarbeiterin und Geliebte, stellte verschiedene seiner Gedichte zusammen, die Brecht 1941, nachdem Steffin gestorben war, mit dem Vermerk "Steffin'sche Sammlung" versieht. Geschrieben ab 1937 in Dänemark, Schweden, Finnland, werden sie in USA 1942 überarbeitet und meist von vertont.
An den kleinen Radiapparat
1939 verlässt Brecht Dänemark, lebt ein Jahr in Lidingö
bei Stockholm und im April 1940 in Helsinki. Während des Sommeraufenthalts 1940 in Marlebäck, wohin die Familie von der finnischen Schriftstellerin Hella Wuolijoki eingeladen worden war, schreibt Brecht nach einem Text Wuolijokis das Stück Herr Puntila und sein Knecht Matti, erst 1948 in Zürich uraufgeführt.
Im Mai 1941 macht sich Brecht, nachdem er ein Einreisevisum erhalten hat, mit seiner Familie in die USA via Moskau und Wladiwostok und mit dem Schiff nach Santa Monica in Kalifornien auf. Sein Plan, als erfolgreicher Drehbuchautor arbeiten zu können, scheitert.
Nach dem Kriegseintritt der USA muss er sich 1942 als „Enemy Alien“ registrieren lassen, das FBI überwacht ihn.
1947 befragt ihn Ausschuss für unamerikanische Umtriebe unter dem Verdacht, Mitglied einer kommunistischen Partei zu sein. Die Frage verneint er und ergänzt, er sei auch nicht Mitglied einer kommunistischen Partei in Deutschland.
Einen Tag später reist er nach Paris und kurz darauf am 5. November nach Zürich, das einzige Land war, für das er eine Aufenthaltserlaubnis erhielt. Dort hält er sich ein Jahr auf, eine Einreise nach Westdeutschland (amerikanische Besatzungszone) verweigern ihm die Behörden.
Der Kirschdieb
An einem frühen Morgen, lange vor Hahnenschrei
Wurde ich geweckt durch ein Pfeifen und ging zum Fenster.
Auf meinem Kirschbaum - Dämmerung füllte den Garten -
Saß ein junger Mann mit geflickter Hose
Und pflückte lustig meine Kirschen. Mich sehend
Nickte er mir zu, mit beiden Händen
Holte er die Kirschen von den Zweigen in seine Taschen.
Noch eine ganze Zeitlang, als ich wieder in meiner Bettstatt lag
Hörte ich ihn sein lustiges kleines Lied pfeifen.
Woche 36
Mutter Courage und ihre Kinder
Brecht verfasst das Drama 1938/39 im schwedischen Exil, in Zürich wird es 1941 uraufgeführt.
Die Geschichte der Marketenderin Mutter Courage, die im 30jährigen Krieg versucht, ihr Geschäft mit dem Krieg zu machen, und dabei ihre drei Kinder verliert, soll die skandinavischen Länder warnen, am Zweiten Weltkrieg verdienen zu wollen und Abscheu vor Krieg und kapitalistischer Gesellschaft erzeugen, die ihn hervorbringt.
Beinahe jedes Stadttheater hat sich an demDrama schon versucht, ebenso viele Regiestars, für viele Schauspielerinnen ist die Mutter eine Paraderolle und für viele Schüler Pflichtlektüre, von brauchbaren Stoff suchenden Filmleuten ganz zu schweigen.
Woche 37
Das Lied von der Modau
Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.
Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
Im USA-Exil 1943 konzipiert Brecht das Lied nach der Prager Sage, wonach das Flussbett der Moldau mit den Tränen des Volkes gefüllt sei. Seine Entwürfe bleiben unvollendet - er plante das Lied für Schweyk im Zweiten Weltkrieg, wo es postum dann hinkommt. 1956 vertont Hanns Eisler den Text, er lehnt sich rhythmisch an das Thema der Moldau Smetanas an.
In Prag sind 4 Kaiser begraben: Karl IV.
,
Ferdinand I., Maximilian II. und Rudolf II.
Hinweis auf die Gruppe "Drei Könige"? Die nicht kommunistisch orientierte tschechische Widerstandsgruppe kämpfte gegen die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei. Die Nazis ermordeten ihre Führer Josef Balabán, Josef Mašín und Václav Morávek
1941 und 1942.
"Es wechseln die Zeiten" der ursprüngliche Titel: Verheißende Verkündung des baldigen Endes der Naziherrschaft?
Woche 38
Der gute Mensch von Sezuan
Das Theaterstück entsteht 1938 bis 1940 unter Mitarbeit Ruth Berlaus und Margarete Steffins und wird 1943 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Die Musik komponiert Paul Dessau.
Thematik: Religions- und Kapitalismuskritik, Infragestellung der bürgerlichen Aufklärung, Musterbeispiel für das epische Lehrtheater Brechts. Nach seiner Vorbemerkung als Parabel zu verstehen, Sezuan steht stellvertretend für alle Orte, an denen Menschen von Menschen ausgebeutet werden. (Dies sei im heutigen Sezuan in der Volksrepublik China nicht mehr der Fall)
Vorlagen sind die Sage vom alten Ehepaar Philemon und Baucis, das in einer ärmlichen Hütte am Stadtrand wohnt und den verkleideten Gott Zeus und dessen Sohn Hermes äußerst freundlich zur Bewirtung aufnimmt, die sich zur Erde herabgelassen haben, um die Güte der Menschen zu prüfen.
Des weiteren die biblische Erzählung von Sodom und Gomorra, in der Gott die beiden Städte zerstören will. Er schickt drei Engel zu Abraham und, als dieser Gott bittet, Schuldige und Unschuldige nicht gleichermaßen zu bestrafen, zwei Engel nach Sodom, wo Abrahams Neffe Lot lebt, der sich einzig als unschuldiger Mensch erweist und mit seiner Familie der Katastrophe entkommt.
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andere Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!
Zwei Filme:
Einer von 1966: Süddeutscher Rundfunk
und einer von 1988: Staatstheater Weimar
Woche 39
Leben des
Dokumentation
Nikolai Iwanowitsch Bucharin, geboren 1888 in Moskau, wird im Zuge der Stalinschen Säuberungen 1938 erschossen.
Der marxistischen Wirtschaftstheoretiker und Philosoph hatte gegen Stalins Maßnahmen zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft opponiert. 1937 lässt ihn Stalin unter dem Vorwurf der Spionage (Kontakt zur österreichischen und schwedischen Polizei) und der Beteiligung an einem Komplott verhaften. Im dritten Moskauer Schauprozess gegen den „Block der Rechten und Trotzkisten“ ergeht 1938 das Todesurteil. NKWD-Chef Nikolai Jeschow beaufsichtigt persönlich die Exekution. Er lässt Bucharin zusehen, wie man die anderen Verurteilten vor ihm erschießt.
Nach Reich-Ranicki ist Brechts Stück eine Auseinandersetzung mit diesen Prozessen in der Sowjetunion. Teilweise sollen die Aussagen Galileos aus dem Prozess gegen Bucharin stammen.
Brecht verfasst das Theaterstück "Leben des Galilei" 1939, es wird 1943 in Zürich uraufgeführt. Die Musik schreibt Hanns Eisler.
1945 erarbeitet Brecht vor dem Hintergrund der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki mit dem Schauspieler Charles Laughton in Los Angeles eine zweite, englischsprachige Fassung. Dabei stellt er die Verantwortung der Wissenschaft in den Vordergrund, indem er das vorletzte Bild des Stückes, verändert. Während es Brecht ursprünglich um das Thema Macht der Kirche ging, rückt er nun die Frage nach Wert und Verwertbarkeit von Wissen sowie gesellschaftliche Bedingungen von Wissenschaft in den Vordergrund.
Ende des 16. Jahrhunderts gerät Galilei in Konflikt mit den Oberen der Katholischen Kirche, weil er durch seine Beobachtung der Bewegung der Himmelskörper herausfindet, dass sich die Sonne keineswegs um die Erde dreht. Somit ist das alte, das ptolemäische Weltbild, das auch den Lehren der Kirche entspricht, wissenschaftlich nicht haltbar. Eine solche Erkenntnis rüttelt an den Fundamenten des Glaubens, die Inquisition nimmt sich der Sache an. Sie verhören den Wissenschaftler und fordert ihn auf, seine Aussagen zu widerrufen.
Es geht um den Konflikt zwischen Wahrheitsanspruch und Autorität, es geht um die Verantwortung des Wissenschaftlers, es geht um die Gewissensfrage: Auflehnung oder Anpassung?
Und genau darum ging es auch in Brechts Leben. Er war nie Mitglied einer Kommunistischen Partei, verfasst aber Stellungnahmen zu den Stalinschen Schauprozessen. Er bekommt den Stalin-Friedenspreis in Moskau verliehen. Das belastet sein Gewissen, als die Arbeiter im Juni 1953 auf die Straße gehen.
Galilei bezichtigt sich, da er seine Lehre aus Angst vor körperlichem Schmerz widerrufen habe, des Verrats an der Wissenschaft.
Und Brecht?